Einzigartige Memoiren eines sozialistischen Arbeiter*innenführers
Peter Taaffe, einer der wichtigsten Führungspersönlichkeiten der trotzkistischen Bewegung in Großbritannien, nannte Tony Mulhearn mir gegenüber einmal einen „klassischen Arbeiterintellektuellen“. Liest man Mulhearns 2019, kurz vor seinem Tod im Alter von 80 Jahren veröffentlichte, Memoiren, bestätigt sich diese Beschreibung auf jeder Seite.
Von Sascha Staničić
Mulhearns Buch „The Making of a Liverpool Militant – The Life and Times of a Political Activist“ ist nicht nur unterhaltsam und informativ, es beinhaltet auch unzählige Lehren für Gewerkschafter*innen und sozialistische Aktivist*innen.
Tony Mulhearn wurde 1939 in die Wirren des Zweiten Weltkriegs in eine Liverpooler Arbeiter*innenfamilie hinein geboren. Nach Kriegsende wurde er als Kind Zeuge der Labour-Regierung, die weitgehende Reformen im Interesse der Arbeiter*innenklasse, wie die Schaffung des „National Health Service“ (NHS – Staatliches Gesundheitswesen), einführte. Zeiten, die auch kleine Kinder politisieren …
Gewerkschafter
Er beschreibt sein Arbeitsleben, das geradezu automatisch auch zum Leben eines Gewerkschafters wurde. Als Beschäftigter in der Druckindustrie war Mulhearn in einem Bereich tätig, in dem die Gewerkschaften über eine besondere Stärke und Macht verfügten, die in den 1980er Jahren von den Kapitalist*innen im Einklang mit der konservativen Regierung unter Margaret Thatcher brutal gebrochen wurde, ähnlich wie die Macht der Bergarbeiter*innengewerkschaft NUM im großen Streik 1984 (über den in diesem Jahr das Buch „Bürgerkrieg ohne Gewehre von Kenneth Smith im Manifest-Verlag erscheinen wird).
Mulhearn beschreibt viele kleine und größere Arbeitskämpfe. Besonders interessant wird es, wenn er taktische Fragen erläutert, die im Verlauf von Streiks aufkamen. Hier, wie auch in der Darstellung seiner Rolle innerhalb der Liverpooler Labour Party, wird deutlich, dass die Marxist*innen der Militant Tendency (Vorläuferorganisation der Socialist Party, der heutigen Schwesterorganisation der Sol in Großbritannien) nicht am Rande von Kämpfen der Arbeiter*innenklasse standen, sondern mittendrin und oftmals Teil der Führung waren – woraus sich schwierigere Fragen ergaben, als wenn man als kleine Propagandagruppe nur kommentieren kann.
Sozialistischer Stadtrat
Der Autor wurde zum Vorsitzenden der „District Labour Party (DLP)“ von Liverpool gewählt und beschreibt eine Arbeiter*innenpartei, die demokratisch von den Mitgliedern und den Gewerkschaften kontrolliert und deren Politik durch diese bestimmt wurde. Die Unterstützer*innen der Militant Tendency gewannen Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre großen Einfluss in der Liverpooler Labour Partei, wie auch national, und stellten ab 1983 gemeinsam mit anderen Aktiven der Parteilinken die Mehrheit der Partei und der Stadtrates. Die Jahre von 1983 bis 1987 waren die Jahre des berühmten sozialistischen Stadtrats von Liverpool, der es mit der Thatcher-Regierung aufnahm, die Arbeiter*innenklasse der Stadt mobilisierte und nach dem Motto „Besser das Gesetz brechen, als den Armen das Rückgrat“ sich weigerte, Kürzungen umzusetzen und stattdessen nicht ausgeglichene, folglich illegale, Haushalte beschloss und das nötige Geld von der Zentralregierung in London einforderte. Unter marxistischer Führung gewann Labour eine Wahl nach der anderen in Liverpool, während sie unter rechtsreformistischer Führung im Rest des Landes verlor. Es gelang dem sozialistischen Stadtrat auch, der Thatcher-Regierung Zugeständnisse abzuringen und wichtige Reformen in der Stadt, vor allem im Bereich des Wohnugsbaus, durchzusetzen. Aber es kann keinen Sozialismus in einer Stadt geben und mit einer üblen Kampagne der Labour-Führung unter Neil Kinnock, der kapitalistischen Medien und der Thatcher-Regierung konfrontiert, wurden die 47 sozialistischen Stadträte 1987 abgesetzt. Die Geschichte des Stadtrats ist in dem von Tony Mulhearn und Peter Taaffe geschriebenen Buch „Liverpool – A city that dared to fight“ ausführlich dargestellt.
Mulhearn landete nach dieser Niederlage auf der schwarzen Liste und bekam viele Jahre keinen Job mehr in Liverppol, wurde Taxifahrer und besuchte in hohem Alter noch einem die Universität. Politischer Aktivist blieb er. In Militant und der Socialist Party, als Gewerkschafter und später in der Rentner*innenvereinigung „Merseyside Pensioners’ Association (MPA)“. 2012 kandidierte er für die „Trade Unionist and Socialist Coalition (TUSC)“ zum Bürgermeister von Liverpool und erhielt knapp fünf Prozent der Stimmen.
Einige Teile des Buches befassen sich detailliert mit wichtigen Persönlichkeiten und Fragestellungen des Kampfes des sozialistischen Stadtrats. Diese stecken voller wichtiger Lehren, wie auch Mulhearns Einschätzung der Auseinandersetzungen innerhalb der Labour Party um Jeremy Corbyns Vorsitz zum Zeitpunkt, als er das Buch verfasste. So beleuchtet er die Rolle von Persönlichkeitsmerkmalen von politischen Führungsfiguren am Beispiel von Derek Hatton und anderen Ratsmitgliedern. So schreibt er: „Bei den meisten Führungspersönlichkeiten, ist das Ego ein wichtiger Bestandteil ihres Wesens und Derek hatte davon zuhauf. Alle Menschen verfügen über ein Ego durch das sie hoffen, einen Unterschied zu machen und einen Beitrag zu leisten. So lange das Ego dem gemeinsamen Ziel und der Politik untergeordnet ist, ist es ein machtvolle Quelle von Motivation. Die Geschichte zeigt aber, dass enorme Fehler begangen werden können, wenn das Ego zum dominierenden Faktor wird.“
Fehler
Beeindruckend ist auch, wie offen und unumwunden Tony Mulhearn Fehler zugibt und sich damit in die besten Traditionen des Marxismus stellt, der nichts beschönigt und Fehler offen anerkennt, um daraus die Lehren zu ziehen. Und er erklärt, dass es bei taktischen Schritten auch immer darauf ankommt, ob diese vermittelt werden können. Mulhearn betont mehrmals, dass taktische Entscheidungen des Liverpooler Stadtrats verstanden wurden, wenn er und andere Vertreter*innen diese direkt den Arbeiter*innen erklären konnten, dass dies aber umso schwerer wurde, je weiter weg man aus Liverpool war, wo die Sichtweise der Menschen stark von den Massenmedien beeinflusst war.
Mulhearn beschreibt, wie die Bürokratie innerhalb der Gewerkschaften und der Labour Party im Einklang mit den kapitalistischen Medien und der Regierung üble Hetzkampagnen und Hexenjagden gegen Sozialist*innen organisieren und welche Methoden sie dabei anwenden. Die Parallelen zwischen der Hexenjagd gegen Militant-Unterstützer*innen, die in den 1980er Jahren zu seinem Parteiausschluss aus Labour führte, und der Hexenjagd gegen Jeremy Corbyn und seine Unterstützer*innen in den letzten Jahren werden von Tony Mulhearn überzeugend herausgearbeitet. Dazu gehören ungerechtfertigte Vorwürfe von Rassismus, Sexismus und Homophobie, wie auch Behauptungen, dass die Parteilinke Mobbing-Methoden anwenden würde. Mulhearn weist darauf hin, dass solche Vorwürfe in der Regel ohne Beispiele, geschweige denn Beweise vorgebracht werden. Und er weist darauf hin, dass es oftmals die soften Linken sind, die dann die Drecksarbeit für die Bürokratien und Kapitalist*innen übernehmen und sich vor ihren Karren spannen lassen, um die marxistischen und konsequent antikapitalistischen Kräfte zu bekämpfen.
Hillsborough und Streik der Hafenarbeiter*innen
Einzelne Kapitel des Buchs sind dem Hillsborough Desaster 1989 gewidmet, als 96 Menschen bei einer Massenpanik im Fußballstadion starben und Presse und Regierung den Fans dafür die Schuld gaben. Mulhearn erinnert sich, dass er von dieser Katastrophe erfuhr, als er in Köln auf einer Großveranstaltung der damaligen VORAN-Gruppe (Vorläuferorganisation der Sol) vor über vierhundert Aktivist*innen sprach und wie nach 27 Jahren eine offizielle Untersuchungskommission zu dem Schluss kam, dass die Fans und die Verstorbenen keine Schuld an der Katastrophe haben. Lehrreich ist auch, wie es zu dieser Untersuchungskommission kam: bei einer Gedenkveranstaltung im Jahr 2009 wurde Andy Burnham, ein Redner der damaligen Labour Regierung, von den 27.000 Anwesenden mit dem Slogan „Gerechtigkeit für die 96“ unterbrochen. Diesen hatte Roy Dixon, ein Kandidat von TUSC gestartet und damit einen solchen Effekt auf Burnham erzielt, dass dieser sich für die Untersuchungskommission einsetzte – ein kleines Beispiel dafür, wie das Handeln von Einzelnen den Verlauf der Geschichte beeinflussen kann.
Auch dem Streik der Liverpooler Hafenarbeiter*innen in den Jahren von 1995 bis 1998 ist ein eigenes Kapitel gewidmet. In diesem und anderen wird deutlich, welche einzigartige Position Tony Mulhearn in der Liverpooler Arbeiter*innenbewegung hatte und wie sehr er respektiert wurde.
Sozialismus
Tony Mulhearn war ein Arbeiterintellektueller, ein Marxist, Gewerkschaftsführer, sozialistischer Kommunalpolitiker, Internationalist, Kämpfer. Er zollt in seinem Buch auch seiner Frau Maureen den Dank und Respekt, der ihr dafür gebührt, die Kämpfe der Liverpooler Arbeiter*innenklasse immer unterstützt zu haben.
Er hat gekämpft, gewonnen, verloren, ist wieder aufgestanden und hat weiter gekämpft. Weil es für viele Klassenkämpfer*innen dieser Generation selbstverständlich war, weiter zu kämpfen. Weil sie die Schlussfolgerung verinnerlicht hatten, dass ein Leben in Würde, Freiheit und sozialer Sicherheit nur durch eine sozialistische Veränderung der Gesellschaft möglich ist.
Das Buch kann hier bestellt werden.