Ein Vorschlag für gemeinsame Proteste von Gewerkschaften, Linken und sozialen Bewegungen für eine Pandemiepolitik im Interesse der Arbeiter*innenklasse
Seit einigen Wochen gibt es in zahlreichen Städten wieder vermehrt sogenannte „Corona-Demos“ und selbsternannte „Spaziergänge“. Zehntausende demonstrieren gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Auch wenn die Mehrzahl der Demonstrierenden keine Nazis sind, gehen die Proteste teilweise von faschistischen Organisationen wie u.a. den „Freien Sachsen“ aus. Es ist klar, dass diese Demonstrationen nur ein kleine, wenn auch laute Minderheit der Gesellschaft darstellen. Trotzdem werden sich viele Menschen angesichts dieser Aufmärsche, der zunehmenden Radikalisierung in sozialen Netzwerken und den zuletzt neu aufgedeckten Netzwerken von Querdenker*innen in Bundeswehr und Staatsapparat große Sorgen machen und den Wunsch verspüren, das nicht einfach hinzunehmen. Das ist völlig richtig. Es ist nötig, dass Gewerkschaften, linke Organisationen und soziale Bewegungen einen Gegenpol mobilisieren – aber nicht ohne mit Kritik an der Corona-Politik der Regierenden zu sparen. Denn Maßnahmen im Interesse der arbeitenden Bevölkerung und sozial Benachteiligten müssen weiterhin von unten erkämpft werden.
von Tom Hoffmann, Sol-Bundesleitung
Die Corona-Demonstrationen sind nicht neu. Auf ihnen bekommt man schon fast seit Beginn der Pandemie verschiedene krude Ideensammlungen mitgegeben: Verschwörungstheorien, Virus-Leugnung und Impfgegnerschaft, Esoterik oder Rudolf-Steiner-Anthroposophie. Neu ist auch nicht, dass dort Nazis mitlaufen. Besonders in Ostdeutschland und Sachsen (aber auch nicht nur dort) haben diese aber in den letzten Wochen die Demos vielfach angestoßen und organisiert. Auf den meisten werden Nazis zumindest geduldet. Die Bedrohungen von politischen Gegner*innen, Mordaufrufe und nicht zuletzt ihre Netzwerke im Staatsapparat und der Armee – all das zeigt, dass sich die Szene der sogenannten Querdenker*innen radikalisiert. Die Existenz dieser Szene hat verschiedene Ursachen. Einige sind historisch gewachsen, wie die offensichtlich vorhandene Reichweite von Esoterik- und Impfgegner*innen-Netzwerken besonders in Süddeutschland oder die Konzentration der Aktivitäten von Nazi-Kadern im Osten, insbesondere Sachsen. Dort gibt es aber gegenüber staatlichen und politischen Institutionen auch ein besonders ausgeprägtes und verbreitetes Misstrauen, welches eng mit den Erfahrungen und enttäuschten Hoffnungen der kapitalistischen Restauration verbunden ist. Eine entscheidende Ursache, dass die Szene der Querdenker*innen so wachsen konnte, ist allerdings, dass sie bisher erfolgreich für sich in Anspruch nehmen konnte, die konsequenteste und lauteste Kritikerin der Regierungspolitik zu sein. Ihre Radikalisierung hat im Gegenzug viel damit zu tun, dass die Regierenden und Massenmedien seit Wochen ein massives Bashing gegen Ungeimpfte betreiben, um von dem Versagen der herrschenden Politik abzulenken, die Gesellschaft effektiv zu schützen. Aber Kritik an dieser Politik ist nötig – von links und entlang der Interessen der arbeitenden Bevölkerung und sozial Benachteiligten. Doch diese Kritik und ein linkes Alternativprogramm fehlen seit zwei Jahren als eine Kraft, die auf der Straße, in den Betrieben, Schulen und Unis sichtbar ist und für Verbesserungen kämpft.
Bund-Länder-Beschlüsse
Dabei verdienen zum Beispiel auch die neuesten Beschlüsse der Bund-Länder-Runde vom 07. Januar in Vorbereitung auf die Omikron-Welle genau das – eine klare linke Kritik. Es ist zum Beispiel unnötig und gefährlich, Geboosterte (zudem noch ab dem Tag der Drittimpfung) von der Testpflicht in der Gastronomie zu befreien, weil das erneut zu einem falschen Sicherheitsgefühl führen kann – der Autor dieser Zeilen hat sich vermutlich einen Tag nach seiner Auffrischungsimpfung mit dem Virus angesteckt. Gleichzeitig verzichten die Regierenden weiterhin auf den Aufbau von kostenlosen PCR-Massentest-Kapazitäten. So richtig es ist, Quarantäne-Zeiten durch die Möglichkeit des Freitestens zu verkürzen, wäre es besser, wenn das durch validere PCR-Tests geschieht. Andere Länder zeigen, dass das kostenlos möglich ist. Es ist ein (viel zu wenig bekannter) Skandal, dass zum Beispiel allein die Stadt Wien eine größere PCR-Testkapazität als ganz Deutschland hat! Dass das PCR-Freitesten in Zukunft kostenlos wird, hat die Bund-Länder-Runde nicht einmal für die Beschäftigten in der sogenannten „kritischen Infrastruktur“ beschlossen, die einen solchen nach fünf Tagen bräuchten. Stattdessen sieht der Beschluss angesichts der möglichen Personalausfälle in diesem Bereich „Vorkehrungen im Bereich der Arbeitszeiten […] zunächst durch Nutzung der Möglichkeiten von Ausnahmen von den geltenden Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes“ vor. Das muss von den Gewerkschaften zurückgewiesen werden!
Vor allem sind die Beschlüsse aber zu kritisieren, weil sie eine Fortsetzung der Politik im Interesse der „Wirtschaft“ sind, also vor allem nicht die Profite der Banken und Konzerne belasten sollen. Auch wenn es danach aussieht, dass die Omikron-Variante weniger schwere Verläufe auf die Intensivstationen bringt, kann ein massiver gleichzeitiger Anstieg der Infektionen wie aktuell in anderen Ländern das Gesundheitssystem und das erschöpfte Pflegepersonal erneut an die Grenzen bringen – genauso wie in Bereichen der sogenannten „kritischen Infrastruktur“. Trotzdem fehlt es seit zwei Jahren an den nötigen Verbesserungen der Arbeitsbedingungen in diesen Bereichen und hat die Zahl der Intensivpflegekräfte sogar abgenommen! Verkürzte Quarantäne hin oder her: Die Gesundheitsämter sind so oder so massiv überlastet und bräuchten eine Personaloffensive, um Isolation und Quarantäne kontrollieren zu können. Schulen und andere Bildungseinrichtungen sind auf Omikron nicht ausreichend vorbereitet – gerade mal in zwei Bundesländern, Bremen und Hamburg, sind die meisten Klassenräume mit Luftfiltern ausgestattet.
Was tun?
Beides ist also nötig: Klare Kante gegen Querdenker*innen und klare Kritik an der Regierungspolitik. Gewerkschaften und DIE LINKE treten in ihrer Opposition zu den Querdenker*innen aber leider viel zu oft als Verteidigerinnen oder Anhängsel dieser Politik auf. Sie mobilisieren nicht für eigene Forderungen im Interesse der Beschäftigten und sozial Benachteiligten. Dadurch überlassen sie den Querdenker*innen Raum.
Die Sol hat seit Beginn der Pandemie immer wieder ein sozialistisches Programm und Forderungen entwickelt, welche eine Alternative in der Pandemiepolitik aufzeigen. Diese beinhalten u.a.:
- Kostenlose PCR-Tests in öffentlicher Hand und Aufbau entsprechend staatlicher Kapazitäten. Private Testanbieter und Labore unter demokratische und öffentliche Kontrolle. Schnelltestproduktion in öffentliche Hand unter demokratischer Kontrolle. Einführung einer allgemeinen Testpflicht für alle in der Gastronomie und bei größeren Veranstaltungen in Innenräumen. Kostenlose Abgabe von FFP2-Masken und auf dieser Basis FFP2-Maskenpflicht in Bus und Bahn und Geschäften.
- Beschleunigung der Booster- und Impfkampagne durch aufsuchende Angebote in den Stadtteilen und Orten.
- Offenlegung aller Forschungsergebnisse und Zulassungsverfahren der Pharmakonzerne. Einrichtung einer demokratisch gewählten, öffentlichen Kommission von Wissenschaftler*innen und Vertreter*innen aus Gewerkschaften und Belegschaften, um die vielfältigen Forschungsergebnisse zusammenzutragen, auszuwerten und gemeinverständlich zu veröffentlichen. Freigabe der Impfstoffpatente und Überführung der Pharmakonzerne in öffentliches Eigentum unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung, um die Impfkampagne international auszuweiten.
- Einrichtung von regelmäßigen PCR-Pool-Tests in allen Schulen und Kitas. Ausstattung aller Räume in öffentlichen Bildungseinrichtungen mit Luftfiltern. Vervielfachung der Schulbusse und deren Ausstattung mit Virus-Filtern. Einstellung von zusätzlichem Personal, um die Betreuung von Schüler*innen zu gewährleisten, wenn sie nicht am Unterricht teilnehmen können. Investitionsprogramm Bildung für Neueinstellungen von pädagogischem Personal, Digitalisierung, Laptops für alle Schüler*innen, Gebäudesanierung etc. Auf dieser Basis: Entscheidung über Wechselunterricht und Schulschließungen bei hohen Inzidenzen durch demokratisch gewählte Vertreter*innen von Lehrer*innen, Eltern und Schüler*innen.
- Ausbau der Gesundheitsämter und Krankenhäuser: massive Neueinstellungen, die es ohne Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich nicht geben wird; massive staatliche Investitionsprogramme; privatisierte Krankenhäuser rekommunalisieren; Fallkostenpauschalensystem abschaffen – Personalbemessung und Finanzierung nach Bedarf
- Keine weitere Aufweichung der gesetzlichen Arbeitszeitregelungen – stattdessen massive staatliche Investitionen zum Personalaufbau im öffentlichen Dienst
- Homeofficeangebotspflicht für Unternehmer*innen! Vorübergehende Schließung aller nicht für die Versorgung der Bevölkerung notwendigen Betriebe, es sei denn Belegschafts- und Gewerkschaftsvertreter*innen stimmen einem Hygienekonzept zu und können dessen Einhaltung kontrollieren! Garantierte Lohnfortzahlung und Arbeitsplatzgarantie für alle Beschäftigten!
- Staatliche Unterstützung für kleine Gewerbetreibende
- Finanzierung aller nötigen Maßnahmen durch die Vermögen der Super-Reichen und Profite der Banken und Konzerne
Das ganze Programm aus dem Dezember findet sich hier.
Gemeinsame Proteste nötig!
Doch zwei Jahre Pandemie haben auch gezeigt, dass ohne Druck von unten keine grundlegenden Verbesserungen eintreten werden. Deshalb schlagen wir vor, gemeinsame Proteste von Gewerkschaften, linken Organisationen und sozialen Bewegungen zu organisieren. Diese sollten sich auch gegen die falschen und gefährlichen Ideen der Querdenker*innen positionieren, aber in den Mittelpunkt vor allem Forderungen für eine Corona-Politik im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung stellen. Als solche schlagen wir vor:
- Kostenlose PCR-Tests für alle
- Kostenlose FFP2 Masken für alle
- Impfstoffpatente frei geben
- Luftfilter für alle Räume in Schulen und Kitas
- Arbeitsplätze und Einkommen garantieren
- Löhne rauf und mehr Personal im Krankenhaus
- Für ein öffentliches Gesundheitswesen – bedarfsgerecht ausgestattet und finanziert durch Steuern auf Gewinne und Vermögen der Reichen, Banken und Konzerne
Solche Forderungen könnten als gemeinsame Grundlage dienen, auf deren Basis beteiligte Organisationen auch weitergehende Forderungen und Vorschläge vor Ort vertreten könnten.
Impfpflicht?
Viele Gegenproteste beschränken sich aber in ihrem Inhalt im Moment auf Impfaufrufe. Viele Menschen unterstützen sogar eine Impfpflicht. Wir unterstützen eine Impfpflicht nicht und glauben zudem, dass diese Forderung gemeinsame Proteste erschweren wird – obwohl auch wir überzeugt sind, dass Impfungen und eine höhere Impfquote ein zentrales Mittel im Kampf gegen die Pandemie sind. Aber es ist wichtig anzuerkennen (und möglich nachzuvollziehen), dass die Skepsis der meisten Ungeimpften darauf fußt, dass die Impfstoffe von privaten, gewinnorientierten Konzernen entwickelt und vertrieben werden. Und dass in sehr seltenen Fällen schwere Nebenwirkungen auftreten können (auch wenn die Wahrscheinlichkeit einer schweren Erkrankung durch das Virus in allen Altersgruppen für Ungeimpfte größer ist). Die niedrige Impfquote in Deutschland hat aber nicht allein etwas mit der stümperhaften Organisation der Impfkampagne zu tun.
Die Freigabe der Impfstoffpatente, die Verstaatlichung der Pharmakonzerne unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung und eine demokratisch organisierte Überprüfung und allgemein verständliche Zusammenfassung oder Veröffentlichung der Zulassungsverfahren und Studienergebnisse wäre die effektivste Maßnahme, um die Impfskepsis in Teilen der Bevölkerung zu überwinden. Das geschieht nicht. Warum? Weil die Regierenden die Interessen dieser Kapitalist*innen vertreten. Wir lehnen eine Impfpflicht ab, weil es effektivere Mittel zur Erhöhung der Impfquote gibt, sie nichts an der aktuellen Omikron-Welle ändert, dafür aber die Spaltung innerhalb der arbeitenden Bevölkerung massiv befeuern würde und für Querdenker*innen, AfD und Nazis ein gefundenes Fressen wäre. Gleichzeitig sollten unterschiedliche Haltungen an dieser Frage nicht verhindern, gemeinsame Proteste für eine linke Pandemiepolitik zu organisieren.
Den Querdenker*innen die Straße streitig machen
Wir glauben, dass wir nicht darauf warten können, dass die Spitzen der Gewerkschaften und LINKEN solche Initiativen starten. Deshalb sollten Aktivist*innen an der Basis dieser Organisationen mit anderen linken Organisationen und sozialen Bewegungen zusammenkommen, dafür Druck machen und diese beginnen vor Ort zu organisieren. Solche gemeinsamen Mobilisierungen könnten als direkte Gegenproteste zu den Querdenker*innenn organisiert werden – aber sie müssen es nicht und es spricht etwas dafür, dass auch von den „Corona-Demos“ unabhängige Mobilisierungen in einigen Fällen erfolgversprechender sein können. Entscheidend ist, dass eine Situation beendet werden muss, in der die Querdenker*innen die lauteste Kritik an der Regierung üben. Würden Gewerkschaften und LINKE solch einen Ansatz verfolgen, wäre es sogar möglich einige zum Nachdenken oder sogar zurückzugewinnen, die im Moment auf der anderen Seite demonstrieren.