Hamsterkäufe und Regelverstöße – unsolidarisch oder systembedingt?

Ein System, das täglich Ängste produziert, muss sich über Hamsterkäufe nicht wundern.

Es macht die Runde: Die Deutschen hamstern. Sie legen Vorräte an. Eine Psychologin erklärt vor den Kameras des Fernsehsenders RTL, dass Klopapier in Massen gekauft werde, weil es „stellvertretend jetzt für unser absolut vorrangiges Gefühl nach Sicherheit“ stünde. In einem Supermarkt in Mannheim wurden ein Kunde und eine Verkäuferin bei einem Gerangel um eben diese wertvollen Produkte verletzt.

Von Steve Hollasky, Dresden

Aber längst nicht nur Klopapier schafft es in großen Mengen in die Einkaufswagen. Nudeln sind derart nachgefragt, dass der sächsische Hersteller Riesaer – Ansteckungsgefahr hin oder her – extra Schichten fahren lässt, um weiter liefern zu können. Und gutes Geld macht Riesaer damit auch, wobei es eher fraglich bleibt, ob das bei den Beschäftigten ankommt!

In einem Dresdner Supermarkt waren just an dem Tag, an dem die Schließung der Schulen am darauffolgenden Montag verkündet wurde, alle Bananen restlos ausverkauft. Die Haltbarkeit scheint mitunter keine besondere Rolle beim Hamstern zu spielen.

Johanna Lenke regt sich denn auch in ihrem Leitartikel in der „Sächsischen Zeitung“ vom 20. März, in dem sie Maßnahmen wie Ausgangssperren verteidigt, über die fehlende Einsicht der Menschen auf, auf ihre eigene Freiheit zu verzichten. Das stünde jetzt eben zu Gebot.

In „Videos im Internet“ würde man sich ansehen können, wie sich „Menschen um Toilettenpapier prügeln“, schreibt Lemke. Dies beweise, so die leitende Wochenendredakteurin weiter, dass es lediglich ein Gerücht sei, dass „sich Deutsche gern an Regeln halten“. Nein, viel mehr sei „den Deutschen“ ein „Hang, Regularien und Verbote als Eingriff in die persönliche Freiheit zu begreifen“ eigen. Diese Interpretation angeblich „deutschen Verhaltens“ dürfte man auch nicht allzu häufig lesen. Die Corona-Krise macht‘s möglich.

Doch woher kommen Hamsterkäufe? Wieso verhalten sich Menschen unvernünftig und feiern „Corona-Parties“, wenn doch „social distancing“ angesagt ist? Wieso legen Eltern die von Lemke ausgemachte „gefährliche Ignoranz“ an den Tag und „bilden fluktuierende Gruppen, in denen mal der eine, dann der andere sonst arbeitende Elternteil die Betreuung der dauerrotznasigen und dauerkuschelnden Kinder übernimmt“? Sind denn plötzlich alle unvernünftig geworden oder waren es „die Menschen“ schon immer?

Freie Entscheidung?

Frau Lemke scheint auf ihrer Suche nach möglichst blumigen Attributen vergessen zu haben, dass es auch in der Corona-Krise alles andere als eine freie Entscheidung ist, ob man die „dauerrotznasigen“ Kinder daheim betreut oder aber einer „fluktuierenden Gruppe“ anvertraut. Noch immer regiert auch in Deutschland – mitten in der Corona-Krise – das Gesetz des Erwirtschaftens größtmöglicher Profite. Und was Frau Lemke allenthalben übersehen haben dürfte ist, dass noch immer diejenigen, die den Profit erwirtschaften wollen, darüber bestimmen, ob die Eltern „dauerkuschelnder“ Kinder zur Arbeit zu kommen haben oder aber nicht.

Das ist in Deutschland übrigens nicht anders als in Italien, dort will man erst jetzt – nach mehr als 5000 Toten – die nicht unbedingt notwendige Produktion herunterfahren. Die Arbeiter*innen beim Autohersteller Fiat mussten per Streik die Stilllegung der Produktion erzwingen.

Eines sei Frau Lemke versichert: Es gibt weitaus Angenehmeres als seine Kinder in dieser Situation an andere Eltern abzuschieben, mit dem öffentlichen Personennahverkehr zur Arbeit zu fahren, um bei reichen Leuten sauber zu machen; acht Stunden lang Dämmung an Außenwände von Häusern zu kleben oder den ganzen Tag an der Kasse im Supermarkt zu sitzen. Und es gibt beileibe schönere Gefühle als dafür auch noch dankbar sein zu müssen, weil die Alternative, die einem winkt Lohneinbußen, Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit heißt. Und für nicht Wenige ist das bereits die Realität.

Im Angesicht dessen die wechselweise Betreuung der Kinder durch verschiedene Erwachsene als Legitimation für die weitere Kürzung von Rechten anzuführen ist nicht allzu logisch, wohl aber sehr geschmacklos.

 Kapitalismus heißt Unsicherheit

Was die Psychologin bei RTL wenig glücklich erklärt, wenn sie festhält, dass sich der Mensch auf dem Klo „verwundbar“ fühle und damit das Horten von Klopapierrollen erklären will, hat trotz der ungewollt komödiantischen Darbietung einen wahren Kern. Verwundbar und unsicher fühlt sich, trotz all der mit wenigen Unterbrechungen dargebotenen Beschwörungen der Politik, wohl gerade die Mehrheit der Bundesbürger*innen. Trotz dieser Beschwörungen oder vielleicht sogar wegen ihnen?

Oft genug konnte man von Seiten der Spitzenpolitik in den letzten Jahren Versprechen hören, die nur wenig später nicht gehalten wurden. So hieß es, die Renten seien sicher und kurz darauf wurden Rentenkürzungen politisch beschlossen. Wegen Hartz IV, so wurde zugesichert, wären keine Zwangsumzüge nötig. Die Wahrheit sah anders aus.

Auch in der Corona-Krise waren diese Phänomene keine Seltenheit: Erst hieß es, auf Schulschließungen werde man verzichten, dann kamen sie doch. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte noch im Bundestag verkündet, man sei mit 28.000 Beatmungssplätzen deutschlandweit gut aufgestellt, um die Gefahrenlage zu durchstehen. Vor wenigen Tagen forderte er dann die Kliniken auf, die Intensivbettenzahl wenigstens zu verdoppeln. Ausgangssperren, so verkündete allen voran der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU), seien das letzte Mittel. Dann griff ausgerechnet der Freistaat noch vor anderen Bundesländern zu dieser Maßnahme.

Ist es da so weit hergeholt, darauf zu kommen, dass die ständigen Versicherungen, die Versorgung mit Lebensmitteln und Waren des täglichen Bedarfs werde nicht zusammenbrechen, weniger wert sein könnten, als die Packung Nudeln im Schrank?

Kapitalismus schafft Unsicherheit und Angst. Und das nicht nur in Ausnahmesituationen, sondern auch im ganz alltäglichen Leben. Angst vor Entlassungen; davor, dass die Firma, in der man arbeitet, schließt; Angst vor Schicksalsschlägen, die sozial nicht abgefedert werden. Da ist die Angst vor leeren Regalen nur eine unter vielen, nur dass sie in dieser Situation besonders auffällt.

Der Kampf um die letzte Packung Klopapier ist weder besonders schön und ganz sicher auch nicht witzig, aber in einer von Unsicherheiten geprägten Welt ist er leider nicht allzu unlogisch. Man bedenke nur, dass nun auch in Deutschland Schutzausrüstung für medizinisches Personal knapp wird. Und man bedenke, dass Pflegekräfte in ihren Protesten gegen Privatisierungen von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen und für mehr Personal jahrelang vor genau solch einer Situation wie jetzt gewarnt haben, aber sich diese Politik dennoch kaum geändert hat.

Wer Hamsterkäufe nicht will, der kann auch ein System, welches Angst und Unsicherheiten schafft nicht länger wollen.

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