Ukraine-Konflikt: Russland entsendet Truppen in Ostgebiete

Foto: www.kremlin.ru

Imperialistischer Konflikt eskaliert – Kein Vertrauen in Putin, Biden, Scholz und Co.! – Für eine unabhängige Position der Arbeiter*innenbewegung und Linken

Die Krise in der Ukraine spitzt sich mit der Entsendung russischer Truppen in die Ostgebiete dramatisch zu. Alle beteiligten kapitalistischen Regierungen, sei es auf Seiten der NATO, der Ukraine oder Russlands, beteuern seit Wochen keinen Krieg zu wollen und haben trotzdem mit ihrer jeweiligen Politik eine Eskalation vorangetrieben, die noch nicht zu Ende sein muss. Die aktuelle Situation ist brandgefährlich. Sie ist zugleich keine Ausnahme. Innerimperialistische und andere Konflikte nehmen im Zuge der Veränderung der weltweiten Kräfteverhältnisse und der kapitalistischen Krise massiv zu.

von Tom Hoffmann, Sol-Bundesleitung

Weit über 100.000 Soldat*innen der russischen Armee sollen Berichten zufolge an den Grenzen der Ukraine in den letzten Monaten aufmarschiert sein. Die NATO spricht von der „größten Sicherheitskrise in Europa seit Jahrzehnten“ und hatte ihre Truppenverbände in den angrenzenden Staaten ebenfalls verstärkt. Nicht überall passierte das reibungslos. In der Slowakei, in der laut Umfragen eine Mehrheit der Bevölkerung gegen die Stationierung von NATO-Truppen ist, gab es bei der entsprechenden Entscheidung ein Handgemenge im nationalen Parlament. Auch Deutschland hat 400 Soldat*innen nach Litauen geschickt, wo es eine NATO-Präsenz anführt. In den Ostgebieten der Ukraine wiederum hatte die pro-russische Separatisten-Führung eine Generalmobilmachung ausgerufen und mit der Evakuierung der Zivilbevölkerung begonnen. Am Montag kündigte das Putin-Regime dann an, die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk als unabhängig anzuerkennen und russische Truppen zu entsenden. Die USA und die EU kündigten ihrerseits die Umsetzung von Sanktionen an.

Informationskrieg

Was die letzten Wochen erneut bewiesen haben: Das erste Opfer in jedem Krieg ist die Wahrheit. Deshalb müssen alle Eil-Meldungen und Informationen mit besonderer Vorsicht genossen werden. Die laut CIA für den 16. Februar angeblich geplante Invasion blieb zunächst aus, die Meldung hatte aber die Situation weiter angeheizt und für Verwirrung gesorgt. Dass die Institution CIA es mit der Wahrheit nicht genau nimmt, weiß man nicht erst seit ihren Lügen über angebliche Massenvernichtungswaffen, die den US-Krieg im Irak rechtfertigen sollten. Von russischer Seite gab es wiederum Berichte über einen Teil-Abzug der Truppenverbände. Die USA und die NATO wollten das nicht bestätigen und warfen Russland vor, dass die russischen Truppen noch verstärkt würden. Putin behauptete zuletzt, in den umkämpften Gebieten der Ostukraine würde ein Genozid stattfinden, um seinen Einmarsch zu legitimieren. All diese Manöver, Vorwürfe usw. von beiden Seiten dienen vor allem der Rechtfertigung des eigenen Vorgehens zur Durchsetzung der jeweiligen kapitalistischer Interessen. Die Arbeiter*innen und Armen aller Länder dürfen deshalb keiner Seite vertrauen.

Worum geht es den verschiedenen Mächten?

Putin wird in den westlichen Medien als der Aggressor in der aktuellen Situation ausgemacht. Aber trotz der Tatsache, dass Sozialist*innen und die Arbeiter*innenbewegung die Entsendung russischer Truppen aufs Schärfste verurteilen muss, ist das eine bewusst isolierte Betrachtung, die von der entscheidenden Frage ablenkt – nämlich, dass es sich um einen imperialistischen Konflikt verschiedener Mächte handelt, der seit Jahren auf dem Rücken der Bevölkerung der Ukraine ausgetragen wird. „Krieg ist nur die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, heißt ein berühmter Satz des preußischen Generalmajors von Clausewitz.

Russland fordert von der NATO verschiedene Zugeständnisse, die letztlich auf eine Begrenzung und Zurückdrängen des NATO-Einflusses im Baltikum und in Osteuropa hinauslaufen. Putin hat zuletzt am Montag deutlich gemacht, dass er für die Ausweitung direkter Kontrolle Moskaus über Teile der ehemaligen Sowjetunion ist und großrussisch-nationalistische Ambitionen verfolgt. Im Vordergrund steht aktuell eine Absage an eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Außerdem fordert das Putin-Regime den Abzug von NATO-Truppen aus Polen und den baltischen Ländern und von US-Atomwaffen aus Europa. Die NATO hat sich nach dem Zusammenbruch des Stalinismus nicht an ihre anderslautenden Versprechen gehalten und ihre Osterweiterung ist stetig vorangeschritten. Natürlich ließ der US-Imperialismus das unter umgekehrten Vorzeichen selbst nicht zu. Als die USA 1962 die Möglichkeit sahen, dass die damalige UdSSR Atomraketen auf Kuba installieren würde, leiteten sie rasch eine Seeblockade ein, um sicherzustellen, dass das Militär der UdSSR nicht in die Nähe des US-Festlandes kam.

Die USA und die NATO blieben bisher hart. Zwar haben die USA und andere westliche Länder erklärt, sie würden bei einer russischen Invasion nicht direkt ihre Truppen gegen russische kämpfen lassen wollen. Aber sie haben wie oben erwähnt ihre Osteuropa-Truppenkontigente aufgestockt, die Ukraine massiv mit Waffen aufgerüstet und drohen mit schweren ökonomischen Sanktionen, u.a. dem Stopp der Nordsee-Pipeline Nordstream 2 und dem Ausschluss Russlands aus dem internationalen Finanztransaktionssystem Swift. Besonders die USA versuchen nach dem Debakel in Afghanistan Stärke zu zeigen und ihre geostrategischen Interessen in der Region zu behaupten.

Hintergrund des Konflikts

Der Konflikt in der Ukraine muss im Zusammenhang mit der allgemeinen Entwicklung des Weltkapitalismus betrachtet werden. Das Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI) hat vor kurzem auf seinem Weltkongress die neue Weltunordnung analysiert und diese Analyse bestätigt sich auch im Konflikt um die Ukraine. Denn es finden große Veränderungen statt. Die USA sind nicht mehr „Weltpolizist Nr. 1“ und unbestrittene Supermacht. Ihr relativer Niedergang, der viel mit der massiven Krise in den USA selbst zu tun hat, trifft auf den rasanten Aufstieg Chinas. Seit Jahren entwickelt sich die Welt mehr in eine multipolare Richtung und dieser Trend wurde durch den Ausbruch der Corona-Pandemie und die weltweite Wirtschaftskrise massiv verstärkt. Damit einher geht der verschärfte Kampf zwischen verschiedenen kapitalistischen und imperialistischen Nationen um Einflusssphären, Marktanteile und letztlich Profite. Um die USA und China als Hauptpole dieser neuen Unordnung bilden sich zwar verschiedene Blöcke. Doch diese sind keineswegs stabil oder frei von Widersprüchen und Konflikten. Die Ukraine ist das erste Beispiel, in der eine Eskalation der innerimperialistischen Konflikte gefährlich aus dem Ruder laufen könnte. Doch sie ist kein Einzelfall, denkt man zum Beispiel an den Konflikt um den Status von Taiwan, das Säbelrasseln im Südchinesischen Meer oder die Konflikte in verschiedenen Ländern Afrikas.

Der russische Imperialismus unter Putin ist in den letzten Jahren außenpolitisch wagemutiger geworden, was sowohl mit dem teilweisen Rückzug der USA als auch mit dem gewissen ökonomischen Spielraum des Regimes durch insbesondere die Einnahmen aus Öl- und Gasexporten zu tun hat. So intervenierte Putin direkt im syrischen Bürgerkrieg auf Seiten des Assad-Regimes. In Libyen und neuerdings auch in Mali kämpfen russische Söldnertruppen; russische Soldat*innen beteiligten sich an der Repression des Aufstands in Kasachstan und sind nun auch in Belarus zu Zehntausenden stationiert.

Gerade in der Ukraine fürchtet das russische Regime gleichzeitig schwindenden Einfluss. Ende 2013 wehrten sich große Teile der Bevölkerung in der ganzen Ukraine gegen Armut und Korruption. Eine Massenbewegung stürzte die pro-russische Janukowitsch-Regierung im Land. Doch in Abwesenheit einer starken und unabhängigen Arbeiter*innenbewegung konnten diese Proteste durch EU-nahe und rechte kapitalistische, teils faschistische, Kräfte vereinnahmt werden. Im Zuge dieser Krise kam es zur russischen Besetzung und Annektion der Krim und entwickelte sich im Osten der Ukraine ein bewaffneter Konflikt mit pro-russischen Separatist*innen. In verschiedenen Artikeln aus dieser Zeit stellte das CWI dar, welche unterschiedlichen kapitalistischen Interessen dabei aufeinandertrafen und wie eine unabhängige Arbeiter*innenbewegung mit einem sozialistischen Programm einen Ausweg hätte aufzeigen können.

Eigendynamik des Konflikts

Vieles spricht dafür, dass Putin mit seinem aktuellen Truppenaufmarsch nicht eine großangelegte Invasion vorbereiten, sondern damit entsprechende Druckmittel für die Durchsetzung seiner eigenen geopolitischen Interessen in Verhandlungen mit der NATO aufbauen wollte. Das Chaos des US- und NATO-Abzugs aus Afghanistan und die immer wieder hervortretenden Differenzen zwischen den westlichen Imperialismen dürfte in Putins Rechnung eingegangen sein, mit dem Erhöhen des Drucks auch zu testen, wie geeint der Westen reagiert. Gleichzeitig ist eine außenpolitische Krise für jede kapitalistischen Politiker*innen auch immer eine willkommene Ablenkung von den Problemen im eigenen Land. Das gilt sowohl für Putin als auch für westliche Regierungen, die mit den Kriegswarnungen und ihrer Reise-Diplomatie auch versucht haben, von anderen Krisen (Pandemie, Inflation usw.) zuhause abzulenken.

Gleichzeitig hat Putin sich mit seinem Manöver auch in eine Situation gebracht, in der er „liefern muss“. Über 100.000 Soldat*innen aufzufahren – nur um am Ende von der NATO abgewiesen zu werden und mit leeren Händen dazustehen – wäre eine Niederlage auf der Weltbühne und dürfte zuhause wenig Verständnis hervorrufen und seiner Position gefährlich werden. Nicht zuletzt durch seine pro-kapitalistische Politik, die zu sinkenden Realeinkommen in den letzten Jahren geführt hat, ist seine Unterstützung nicht mehr so stark wie früher.

Selbst wenn Putin nicht von Beginn an eine militärische Intervention geplant haben sollte, ist sie durch die Eigendynamik des Konfliktes und die Reaktion des Westens nun eingetroffen. Sein Kalkül, Zugeständnisse durch Verhandlungen zu erreichen, ist bisher nicht aufgegangen. Zudem richtet sich die nationalistische Politik der ukrainischen Regierung weiter auch gegen die russischen und russisch-sprechenden Teile der Bevölkerung. Laut einem neuen Gesetz dürfen zum Beispiel in der Ukraine keine russischen Publikationen, wie zum Beispiel Tageszeitungen, mehr veröffentlicht werden, ohne dass es parallel eine ukrainische Übersetzung gibt. Auch das verschärfte die Situation. Die USA und die NATO, die bei den russischen Forderungen unnachgiebig geblieben sind, haben die Eskalation ebenfalls nicht nur nicht verhindert, sondern mit ihrer Aufrüstung dazu beigetragen. In den USA steht Biden zwar unter Druck, ein außenpolitisches Desaster wie in Afghanistan nicht zu wiederholen, aber gleichzeitig auch nicht vor Putin einzuknicken. Die jetzt einsetzende Debatte über Sanktionen kann gleichzeitig die bestehenden Differenzen zwischen den westlichen Mächten wieder an die Oberfläche bringen.

Eigentlich ist eine größere militärische Eskalation zur Zeit weder im Interesse Russlands oder der NATO-Staaten. Auch wenn sich Russland auf den Fall von westlichen Sanktionen in den letzten Jahren vorbereitet hat, wäre zum Beispiel ein Ausschluss vom internationalen Zahlungsverkehr schwerwiegend. Genauso warnen westliche, kapitalistische Kommentator*innen vor solch einem Schritt, weil es Rückwirkungen auf westliche Konzerne hat und eine zusätzlich gefährliche Belastung des ohnehin labilen internationalen Finanzsystems bedeuten würde. Insbesondere in Deutschland und Europa existiert außerdem die Angst einer akuten Energiekrise. Deutschland deckt 55 Prozent seines Erdgasverbrauchs durch russische Importe, die EU 40 Prozent. Schon jetzt sind die Preise enorm gestiegen und die Gasspeicherstände niedrig.

In jedem Land gilt aber: Die Arbeiter*innen und Armen werden diejenigen sein, die unmittelbar und am stärksten unter dieser Situation leiden – sei es in der Ukraine durch militärische Eskalation, in Russland durch westliche Sanktionen oder in anderen europäischen Staaten durch steigende Preise. Dennoch fürchten die Kapitalist*innen und ihre politischen Vertreter*innen, dass ihnen die Lage außer Kontrolle geraten kann. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es deshalb zu einem späteren Zeitpunkt noch zu Kompromissen kommen kann. Da eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine im Moment auch für den Westen ohnehin nicht auf der Tagesordnung steht, scheint es, dass in den letzten Wochen u.a. die Option diskutiert wurde, diesen Zustand erst einmal festzuschreiben. Klar ist aber auch, dass das ein Aufschub des Konflikts statt seiner Beseitigung wäre.

Deutschland

In Deutschland wurde der Konflikt in den letzten Wochen von einem Trommelfeuer gegen Russland begleitet. Viele Kommentator*innen forderten mehr deutsches „Engagement“, Waffenlieferungen an die Ukraine und auch als „Lehre“ die weitere Aufrüstung der Bundeswehr. Die SPD-Verteidigungsminsterin hat sich bereits für eine Erhöhung des Militärhaushalts ausgesprochen. Dass die deutsche Regierung bisher keine Waffen geliefert hat (sie hat 5000 Helme geliefert), liegt sicher daran, dass sie sich der breiten Ablehnung in der Bevölkerung eines solchen Schrittes sicher war. Dass das ganze nichts mit einem prinzipiellen Pazifismus oder “Lehren aus der deutschen Geschichte” zu tun hat, zeigt die Liste der Länder und auch Krisengebiete, in welche die Bundesregierung und deutsche Konzerne liebend gerne Waffen liefern, wie Ägypten, Saudi-Arabien usw.

Die exportorientierte deutsche Wirtschaft hat natürlich ein Interesse an guten Beziehungen zu Russland. Deshalb gibt es auch in der deutschen herrschenden Klasse eine Diskussion über den richtigen Kurs. Gleichwohl ist die ökonomische Verflechtung mit Russland nicht mehr auf dem Niveau der Vergangenheit und haben die Handelsvolumen nach der Krise 2015 nie ihr früheres Niveau erreichen können. Heute sind 42 Prozent weniger deutsche Unternehmen in Russland tätig als noch vor zehn Jahren und deutsche Manager*innen kritisieren aktuell u.a. ein neues Gesetz in Russland, welches Ausländer zu regelmäßigen medizinischen Tests verpflichtet. Vor allem die große Energieabhängigkeit Deutschlands prägt das Verhältnis zu Russland. Trotz massiver Kritik von internationalen kapitalistischen Verbündeten hielt die Bundesregierung bis zuletzt am Nordsee-Pipeline Projekt Nordstream 2 fest. Damit sollen zusätzlich große Mengen russischen Erd-Gases direkt an Deutschland geliefert werden – auf Kosten des bisherigen Transitlandes Ukraine wohlgemerkt, welches dadurch Mindereinnahmen in Milliardenhöhe befürchtet und deshalb diese Pläne zusammen mit den USA und anderen EU-Staaten scharf kritisiert hat. Das ist nur ein Beispiel für die Differenzen, die nicht nur unter den NATO- und EU-Staaten existieren und aufbrechen können, sondern auch innerhalb der herrschenden Klassen der verschiedenen Länder. Olaf Scholz hatte ein Stopp von Nordstream 2 bisher nicht offiziell an den Fall einer russischen Intervention geknüpft – was unter anderem an den dann möglicherweise folgenden Strafzahlungsforderungen der beteiligten Konzerne liegen dürfte. Nun hat die Bundesregierung den Zertifizierungsprozess der Pipeline auf Eis gelegt. In jedem Fall hat der aktuelle Konflikt bereits die Diskussion unter den Kapitalist*innen über einer Diversifizierung der deutschen und europäischen Energiequellen weiter befeuert.

Für eine unabhängige Position!

Die grundsätzliche Herangehensweise an alle Konflikte muss für Sozialist*innen auf einer Analyse der unterschiedlichen Klasseninteressen fußen und sich aus den Interessen der Arbeiter*innenklasse(n) ableiten. Andernfalls besteht einerseits die Gefahr letztlich zum Anhängsel der Politik einer der verschiedenen kapitalistischen Kräfte zu werden und deren Politik, ob bewusst oder unbewusst, zu legitimieren, zu beschönigen oder nicht ausreichend zu kritisieren. Andererseits wird man ohne eine solche Herangehensweise kein Programm entwickeln können, welches einen Ausweg aus der Krise aufzeigen kann.

Eine wichtige Voraussetzung dabei ist, dass es sich bei der aktuellen Zunahme internationaler Spannungen nicht um eine Neuauflage des Kalten Krieges handelt. Denn damals standen sich Regime gegenüber, die auf grundsätzlich unterschiedlichen Gesellschaftssystemen basierten. Auch wenn sich die Sowjetunion unter Stalin zu einer bürokratisch entarteten Planwirtschaft entwickelt hatte, markierte sie doch ein nicht kapitalistisches System. Russland ist heute aber unbestritten eine kapitalistische Nation und auch das System in China basiert – trotz eines weiterhin großen Einfluss des Staates – auf den Gesetzen des Kapitalismus. In einem Konflikt zwischen verschiedenen kapitalistischen Kräften ist es nötig, die Interessen der Herrschenden auf allen Seiten aufzudecken.

Unmittelbar muss die Entsendung russischer Truppen natürlich kritisiert und zurückgewiesen werden. Schon jetzt mussten zehntausende Menschen ihre Heimat verlassen und es besteht die große Gefahr ethnischer Spaltung und Säuberungen. Die massive Zunahme von Schusswechseln und militärischen Auseinandersetzungen von beiden Seiten ist nicht im Interesse der Arbeiter*innenklasse.

Gleichzeitig müssen die Heuchelei und Hysterie auf beiden Seiten entlarvt werden. Selbstverständlich geht es Putin, der Proteste im eigenen Land oder auch zuletzt in Kasachstan massiv unterdrückt, nicht um demokratische Rechte. Es ist aber genauso unerträglich, wie sich die Vertreter*innen der USA, der NATO, der EU oder Deutschland aktuell als Verteidiger*innen von Demokratie und/oder staatlicher Souveränität gegen das autoritäre Russland aufspielen. Diese Länder haben zahlreiche Kriege geführt oder unterstützt – zum Beispiel im Nahen Osten oder auf dem Balkan – die neue, ihnen genehme Regime installierten, ohne dass die Bevölkerung ernsthaft darüber entscheiden durfte. Wenn der Westen Putin vorwirft, er würde mit False-Flag-Aktionen oder seinem Gerede über einen Genozid Vorwände für einen Einmarsch vorbereiten, wirft er mit ziemlich großen Steinen im Glashaus. 1964 erfanden die USA unter dem Demokraten-Präsident Johnson einen militärischen Zwischenfall im Golf von Tonkin, um ihre militärische Intervention in Vietnam massiv aufzustocken. Den Kosovo-Einsatz, den ersten Kampfeinsatz der Bundeswehr nach 1945, rechtfertigte der damalige deutsche Außenminister Joschka Fischer zum Beispiel mit der impliziten Nahelegung, in Serbien drohe eine neues Auschwitz. Das NATO-Mitglied Türkei hält seit der Invasion von 1974 und der ethnischen Säuberung den nördlichen Teil Zyperns besetzt.

Der NATO und der EU geht es in der Ukraine um eine Sicherung ihres geopolitischen Einfluss in Osteuropa. Russland geht es darum, seinen geopolitischen Einfluss auszudehnen und den westlichen Einfluss zurückzudrängen. In dieser Situation müssen Sozialist*innen eine unabhängige Klassenposition formulieren und besonders die Rolle der eigenen herrschenden Klasse in den Fokus nehmen. “Der Hauptfeind steht im eigenen Land” formulierte schon Karl Liebknecht, der als erster Abgeordneter 1914 gegen die Kriegskredite für den 1. Weltkrieg stimmte.

DIE LINKE

Das ist leider das komplette Gegenteil von den Positionen, die man aus der Spitze der Partei DIE LINKE vernimmt. Auch wenn die Partei sich für Frieden und Abrüstung und gegen Eskalation ausspricht, tut sie das nicht auf Grundlage einer Klassenposition und schürt Illusionen in die Diplomatie der kapitalistischen Mächte. Dietmar Bartschs Vorschlag, Angela Merkel sollte in dem Konflikt vermitteln, war ein neuer Tiefpunkt seiner Versuche, aus der Opposition zu beweisen, dass DIE LINKE fit ist, “deutsche Interessen” auch außenpolitisch zu vertreten. Aber auch das Statement der Partei- und Fraktionsspitzen, welches für eine diplomatische Vermittlung durch Frankreich und Deutschland argumentiert, sprach de facto zwei kapitalistischen Regierungen (noch dazu der deutschen) das Vertrauen aus, den Konflikt zu lösen. Hingegen gibt es von anderen prominenten Mitgliedern der LINKEN einen Aufruf, der Illusionen in das russische Regime schürt.

Die Tatsache, dass zum Beispiel das Minsker Abkommen von 2015 weder zu einer Lösung des Konflikts noch zu einer anhaltenden Waffenruhe geführt hatte und nun auch offiziell als gescheitert angesehen werden dürfte, bestätigt, dass dieser Konflikt nicht durch Verhandlungen der Imperialisten zu lösen ist. Statt Vertrauen in die (Geheim-)Diplomatie kapitalistischer Regierungen zu setzen, sollten sich Sozialist*innen auf “keine Seite” in diesem Konflikt stellen, sondern erklären, dass die Arbeiter*innen und Armen in der Ukraine, in Russland, in Europa und weltweit kein Interesse an Eskalation und Krieg haben und die ersten sind, die darunter leiden. Die Arbeiter*innenbewegung sollte sich international gegen die Kriegstrommeln und die weitere Aufrüstung und für den Abzug aller ausländischen Truppen in den verschiedenen Ländern und aus den Grenzregionen aussprechen.

Recht auf Selbstbestimmung

Viel ist dieser Tage vom Recht auf Selbstbestimmung der Völker und vom Recht auf Selbstverteidigung zu lesen. Soweit pro-kapitalistische Politiker*innen diese Wörter in den Mund nehmen, wird damit immer versucht, den eigenen Interessen einen schönen, täuschenden Mantel umzuhängen. Der Westen rechtfertigt damit die eigene Politik und die der ukrainischen Regierung, die sich gegen die Aggression Russlands nur verteidigen würde. Russland und die pro-russischen Separatisten berufen sich auf dieselben Rechte, wenn sie den wachsenden NATO-Einfluss kritisieren oder zum Beispiel auf die diskriminierenden Gesetze der ukrainischen Regierung gegen die russische Bevölkerung in der Ukraine hinweisen.

Die internationale Arbeiter*innenbewegung sollte diese Heuchelei entlarven und deutlich machen, dass nur eine von den Kapitalist*innen unabhängige Bewegung der Arbeiter*innen und Armen in diesen Ländern diese Rechte erkämpfen kann. Das Recht auf nationale Selbstbestimmung – bis hin zur Bildung eigenständiger Staaten, wenn die Mehrheit der Bevölkerung der betroffenen Gebiete das möchte – ist etwas, was Marxist*innen stets verteidigt haben. Gleichzeitig darf es auch in solchen Gebieten keine Diskriminierung von Minderheiten geben und müssen volle demokratische Rechte gewährleistet werden. Und ja, angesichts der Zunahme von Kämpfen in der Ostukraine und der nun beschlossenen Entsendung russischer Truppen, verteidigen Marxist*innen auch das Recht auf Selbstverteidigung. Sie meinen damit aber nicht das Recht der Kapitalist*innen, ihre Kriege zu rechtfertigen, sondern das Recht der arbeitenden Bevölkerung ihre Wohnungen und Nachbarschaften zu verteidigen. Zur Verteidigung gegen Angriffe, egal von welcher Seite, ist die Bildung von demokratischen, multinationalen Arbeiter*innenmilizen nötig.

Für eine sozialistische Alternative

Das bedeutet nicht, dass es in der aktuellen Situation nicht falsche Hoffnungen in der Arbeiter*innenklasse in die verschiedenen kapitalistischen Kräfte geben kann. Es ist zum Beispiel fraglich, ob die verbliebende Bevölkerung in den sogenannten Volksrepubliken im Osten die russischen Truppen als Besatzer sehen wird. Angesichts der Eskalation ist es zudem wahrscheinlich, dass sich die ethnischen Spannungen weiter verschärfen und es zu ethnischen Säuberungen kommt. Die Arbeiter*innenbewegung muss auf die Verantwortung der kapitalistischen Kräfte dafür hinweisen und sich gegen jede Spaltung aussprechen.

Unter kapitalistischen Bedingungen kann es in der Ukraine keine wirkliche nationale oder soziale Selbstbestimmung für die verschiedenen Teile der Bevölkerung geben. Das zeigt auch die wirtschaftliche Entwicklung des Landes: Die Ukraine ist ein furchtbares Beispiel für die Folgen der kapitalistischen Restauration und ein Beweis dafür, dass der Kapitalismus nicht in der Lage ist die Region nachhaltig weiterzuentwickeln. Die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung hat kaufkraftbereinigt bis heute nicht das Niveau aus den 1990er Jahren erreicht – im internationalen Vergleich der wirtschaftlichen Entwicklung zwischen 1990 und 2017 ist die Ukraine auf dem fünftletzten Platz weltweit! Daraus entspringt auch die fortbestehende Abhängigkeit der Ukraine von heute westlichen Mächten bzw. der sogenannten östlichen Volksrepubliken von Russland.

Es ist hier nötig zu erklären, dass auch historisch gesehen die nationale Abhängigkeit und Unterdrückung der Ukraine und anderer Nationalitäten durch das zaristische Groß-Russland von Lenin und den Bolschewiki aufs Schärfste bekämpft wurde. Unter dem Zaren war Russland ein Vielvölkergefängnis. Putin kritisierte Lenin in seiner Rede am Montag und bezeichnete seine Haltung „nicht nur als Fehler, sondern schlimmer als einen Fehler“. Laut Putin hätte Lenin, dadurch dass er das Recht auf nationale Selbstbestimmung einschließlich des Rechts auf die Bildung eigener, unabhängiger Staaten auch nach der Oktoberrevolution verteidigt hat, die „Mine“ für das Auseinanderbrechen der Sowjetunion zum Ende des letzten Jahrhunderts gelegt. Dabei war diese Haltung der Bolschewiki in der sogenannten „Nationalitätenfrage“ eine notwendige Voraussetzung für den Erfolg der Revolution, um den Arbeiter*innen und Armen unterdrückter Völker zu beweisen, dass die neue sozialistische Arbeiter*innendemokratie nichts mit dem alten autoritären Zwang und großrussischen Nationalismus gemein hat. Sie argumentierten damals weiter für Arbeiter*inneneinheit über Grenzen hinweg und für eine sozialistische Veränderung auch in den Gebieten, in denen die Bevölkerung für eine Abtrennung war. Sie erklärten sich aber bereit, die Sowjetunion als eine freiwillige Föderation gleichberechtigter, sozialistischer Nationen aufzubauen. Putin hat völlig Recht, wenn er darauf hinweist, dass diese Politik durch die Stalinisierung in der Praxis völlig auf den Kopf gestellt wurde. Er möchte die Tradition des russischen Chauvinismus und bürokratischen Zentralismus, die mit Stalin wieder einzog, fortsetzen – wenn auch auf kapitalistischer Grundlage. Dass im Zuge des Niedergangs des Stalinismus auch die nationale Bestrebungen wieder explodierten, liegt aber daran, dass der Stalinismus die nationale Frage eben nicht lösen konnte.

Genauso wenig ist der Kapitalismus in der Lage, in Ländern wie der Ukraine wirkliche Unabhängigkeit und Selbstbestimmung und ein Leben in Frieden und Wohlstand für die arbeitende Bevölkerung zu garantieren. Der Kampf für das Recht auf Selbstbestimmung muss deshalb mit dem gemeinsamen Kampf der Arbeiter*innenklasse und Armen für soziale Verbesserungen und eine wirkliche, sozialistische Veränderung einhergehen. Dafür ist die Beschlagnahmung des Reichtums der verschiedenen Oligarch*innen und letztlich die Überführung der Banken und Konzerne in öffentliches Eigentum unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung der Arbeiter*innenklasse nötig. Sozialist*innen sollten jeden Versuch unterstützen, unabhängige Gewerkschaften und Arbeiter*innenorganisation in der Ukraine aufzubauen, und für ein solches sozialistisches Programm argumentieren. Eine sozialistische Veränderung auf den Gebieten der Ukraine und der sogenannten Volksrepubliken im Osten, die das Selbstbestimmungsrecht und die vollen demokratischen Rechte für alle Minderheiten achtet, würde auf alle ehemaligen Teile der alten Sowjetunion und darüber hinaus ausstrahlen und die Arbeiter*innenklasse weltweit inspirieren.

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