Kassel: Erfolgreicher Kampf für einen Tarifvertrag nach TVÖD

Bilanz einer betrieblichen Kampagne

Interview mit Sebastian Förster, Sozialarbeiter aus Kassel, über eine erfolgreiche Kampagne für deutlich bessere Bezahlung und Arbeitsbedingungen in einem traditionell eher schlecht organisierten Bereich. 

In welchem Bereich arbeitest Du?

Es handelt sich um einem Betrieb mit etwa einhundert Beschäftigten, die über verschiedene Standorte verteilt sind. Der Großteil der Kolleg*innen arbeitet in der Eingliederungshilfe/qualifizierten Assistenz mit Menschen mit psychischen Erkrankungen (Ambulant Betreutes Wohnen) sowie eine Kinder- und Jugendhilfe. Hier gibt es als größte Beschäftigtengruppe Sozialarbeiter*innen/Sozialpädagog*innen und zahlreiche Pflegekräfte, Erzieher*innen, Ergotherapeut*innen und Heilerziehungspfleger*innen in der Tätigkeit von Sozialarbeiter*innen. Außerdem gibt es ein Bistro mit Küche, eine Verwaltung und die Hauswirtschaft.

Wie habt ihr die gewerkschaftliche Kampagne im Betrieb aufgebaut?

Vor etwa zwei Jahren haben drei Kolleg*innen und ich die Initiative für die Gründung einer ver.di-Betriebsgruppe und für eine innerbetriebliche Kampagne für einen Tarifvertrag (im dem Fall der TVöD) ergriffen. Damals glaubte kaum jemand in der Belegschaft, dass wir wirklich soweit kommen. Es gab bis dahin auch keinerlei vergleichbare Traditionen für kollektive gewerkschaftliche Aktivitäten im Betrieb.

Zuerst nahmen weniger Leute an den monatlichen Treffen teil  Es kamen dann immer neue Leute hinzu, was bedeutete, dass wir immer wieder von der Ursuppe her anfangen mussten zu erklären, was ein Tarifvertrag ist und wie der TVÖD aussieht. Gerade das hat aber sehr geholfen, unsere Basis im Betrieb auszubauen.

Bis jetzt galten statt einem Tarifvertrag nur individuelle Arbeitsverträge. Bei den Betriebsversammlungen haben wir uns immer wieder Stimmungsbilder abgeholt, ob wir weiter für den TVöD kämpfen sollen. Wir haben auch sonst quasi jede Möglichkeit genutzt, um ausführlich von unseren Diskussionen und Standpunkten zu berichten. Ich denke, der TVöD ist durch uns das zentrale Dauer-Thema im Betrieb geworden. Wir haben auch mit Kolleg*innen anderer Standorte Kontakt aufgenommen und diskutiert.  Mit Einsetzen der Pandemie haben wir dann unsere Treffen als Videokonferenzen durchgeführt. Hier war (u.a. wegen der Frage der Kinderbetreuung oder längerer Fahrtwege) die Zahl der Teilnehmerinnen immer höher.

Neben dem TVÖD haben wir unter anderem gefordert, dass nicht-akademische Fachkräfte (Pflegekräfte, Erzieher*innen, Ergotherapeut*innen und eine Heilerziehungspflegerin), die die selbe Arbeit wie akademische Fachkräfte (z.B. Sozialarbeiter*innen) verrichten, auch gleich bezahlt werden.

Wie verlief die Auseinandersetzung und was habt ihr erreicht?

Lange weigerte sich die Geschäftsführung mit ver.di über einen Tarifvertrag zu verhandeln. Nach einiger Zeit hat die Geschäftsführung doch noch eingewilligt, mit ver.di zu verhandeln. Nach Abschluss der Tarifverhandlungen hat es sich erwiesen, dass es grundsätzlich richtig war, auf die volle Durchsetzung unserer Forderungen zu setzen – auch wenn es von Einigen immer wieder Bedenken gab. Bis auf kleine Abweichungen wird der TVöD ab 1.3. dynamisch angewendet. 

Dies bedeutet für alle Kolleg*innen Verbesserungen, z.B. einen Tag Urlaub mehr, eine Arbeitsstunde weniger pro Woche (auf eine Vollzeitstelle gerechnet), eine gesicherte Jahressonderzahlung, eine deutlich verbesserte Stufenregelung und eine Zuzahlung bei mehr als sechs Wochen Krankheit. Ab 2023 wird es zudem eine betriebliche Altersvorsorge geben. Viele Kolleg*innen werden direkt von sehr deutlichen Gehaltssteigerungen profitieren. Andere erhalten Ausgleichszahlungen, bis auch sie von der verbesserten Stufenregelungen profitieren. Niemand wird schlechter gestellt. Zudem gilt die Betriebsvereinbarung für gleiches Entgelt.

Der Verhandlungsführer von ver.di Hessen bezeichnete das Paket nach Unterzeichnung des Eckpunktepapiers als „das beste Verhandlungsergebnis“, welches er „jemals abschließen konnte“. Wir gelten bei anderen vergleichbaren Trägern in der Region mit dem Tarifvertrag gerade als Vorbild und ich denke, andere werden dem Beispiel folgen.

Wie geht es weiter?

Wir haben durch die Kampagne den gewerkschaftlichen Organisationsgrad von etwa dreißig auf fünfzig Prozent steigern können. Ab 1. März 2022 sind wir voraussichtlich pünktlich zum Start der bundesweiten Tarifrunde Sozial- und Erziehungsdienst mit dabei. Wir wollen jetzt in der Betriebsgruppe diskutieren, wie wir uns da einbringen können.