Russlands Invasion der Ukraine und die neue Ära des Kapitalismus

Eine marxistische Analyse

Der Einmarsch des mörderischen Putin-Regimes in die Ukraine hat die Welt zusätzlich zur COVID-19-Pandemie in eine weitere Katastrophe gestürzt. Der Krieg, der seit mehr als zwei Wochen wütet, hat ein Gemetzel und menschliches Leid mit sich gebracht, wie es Europa seit den Balkankriegen in den 1990er Jahren nicht mehr erlebt hat.

Von Tony Saunois, Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale

Dieser Konflikt spiegelt die neue Ära wider, in die der globale Kapitalismus jetzt eingetreten ist. Die COVID-Pandemie war der große Beschleuniger für alle grundlegenden Widersprüche des Kapitalismus. In diesem Krieg haben sich bereits einige der grundlegenden Tendenzen herauskristallisiert, insbesondere die Verschärfung der geopolitischen Beziehungen zwischen den kapitalistischen Mächten. Was in einer früheren Periode undenkbar gewesen wäre, ist jetzt, während des langwierigen Todeskampfes des globalen Kapitalismus, möglich geworden.

Die Folgen dieses Krieges für die geopolitischen Beziehungen, die Weltwirtschaft und die politischen und Klassenbeziehungen sind bereits verheerend. Doch die Krisen in all diesen Bereichen werden sich in den kommenden Wochen, Monaten und Jahren noch verschärfen. Krieg und Revolution sind die größten Prüfungen für Sozialist*innen und Revolutionär*innen. Die offizielle Linke und vor allem die sozialistische Linke hat, wie schon während der COVID-Pandemie, erneut vor den herrschenden Klassen kapituliert und es versäumt, eine umfassende, abgerundete Analyse oder Perspektive dieser Ereignisse zu liefern. Noch viel weniger haben sie ein unabhängiges Programm der Arbeiter*innenklasse vorgelegt. Bestenfalls haben sie zum “Frieden” aufgerufen, aber die kapitalistischen Wurzeln dieses Konflikts ignoriert. So ignorieren sie die Tatsache, dass weder Putin, noch die westlichen kapitalistischen Führer, noch irgendeine Institution oder ein*e Vertreter*in des Kapitalismus in der Lage sind, diese schreckliche Krise oder die Folgen, die sich nun daraus ergeben, zu lösen.

Der russische Einmarsch in der Ukraine offenbart die Ära des Niedergangs des US-Imperialismus, in der wir uns jetzt befinden. Die kurze Periode nach 1991, in der eine unipolare Welt herrschte, in der die USA oft in der Lage waren, ihren Willen international durchzusetzen, ist vorbei. Putin hat die Invasion aus großrussischem Chauvinismus und dem Wunsch heraus unternommen, eine erweiterte russische Einflusssphäre mit willfährigen Regimen in den Ländern an Russlands Grenzen zu errichten. Ziel ist es, die Ukraine als unabhängigen Staat und ihr Existenzrecht auszulöschen. Putin hat die Ideologie von “Noworossija” – “Neurussland” – wieder aufgegriffen, um einen erweiterten Raum russischer Sprache und Kultur zu schaffen und die Staaten oder Kleinstaaten in ein solches Amalgam zu assimilieren. Dies ist das Ergebnis von drei Jahrzehnten provokativer Osterweiterung der NATO sowie der Aufrüstung und Modernisierung der russischen Streitkräfte.

Das Recht auf Selbstbestimmung

Putin behauptet, er habe sich für die Anerkennung der ethnisch hauptsächlich russischen Enklaven Donezk und Luhansk eingesetzt. Der westliche Imperialismus gibt vor, sich für das Selbstbestimmungsrecht und die Souveränität der Ukraine einzusetzen. Doch Putin kümmert sich nicht um die Völker von Donezk in der ausgerufenen Volksrepublik Donezk (PRD) oder der Volksrepublik Luhansk (PRL). Auch der westliche Imperialismus kümmert sich nicht um die demokratischen Rechte des ukrainischen Volkes. Putin hat Lenin denunziert, der zusammen mit den Bolschewiki das Selbstbestimmungsrecht des ukrainischen Volkes verteidigt hat. Putin macht sich den großrussischen Chauvinismus zu eigen. Die USA und ihre Verbündeten haben die demokratischen Rechte vieler Völker mit Füßen getreten, z. B. die der Palästinenser*innen, denen das Recht auf Selbstbestimmung verweigert wird. Sie sind auch nicht bereit, das demokratische Recht von Donezk und Luhansk zu akzeptieren, demokratisch über ihre Zukunft zu entscheiden.

Das CWI ist gegen den Einmarsch in die Ukraine und gegen Putins Ziel, die Ukraine als unabhängigen Staat zu zerstören. Man kann jedoch nicht darauf vertrauen, dass der westliche Imperialismus die Rechte des ukrainischen Volkes verteidigt. Die Arbeiter*innenklasse und das Volk der Ukraine müssen ihre eigenen multiethnischen, bewaffneten, demokratisch kontrollierten Verteidigungskräfte aufbauen. Im Falle einer Invasion sind sowohl Selbstverteidigung als auch ein politisches Programm und eine Organisation der Arbeiterklasse erforderlich.

Die “Unabhängigen Volksrepubliken” Donezk und Luhansk werden von rücksichtslosen rechtsnationalistischen Kräften regiert, die mit Putins Regime konform gehen. Die Völker von Donezk und Luhansk haben auch das Recht zu entscheiden, ob sie unabhängig sein, in der Ukraine bleiben oder ein Teil Russlands werden wollen. Unter der Herrschaft der russischen Bajonette kann dies jedoch nicht demokratisch entschieden werden. Eine solche demokratische Lösung für die nationalen und kulturellen Rechte aller kann nur von der Arbeiter*innenklasse und den Völkern der Region erreicht werden, indem der Krieg beendet und die ukrainischen und russischen Arbeiter*innenklassen zusammengeführt werden. Das Fehlen mächtiger unabhängiger Arbeiter*innenorganisationen und -parteien in der Ukraine und in Russland, die ein sozialistisches Programm zum Sturz des Kapitalismus haben, ist ein Haupthindernis, das überwunden werden muss, um die demokratischen und kulturellen Rechte aller Völker der Region zu verteidigen.

Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln

Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Obwohl Putins genaues Endspiel unklar bleibt, scheint sein Ziel zumindest darin zu bestehen, den östlichen Teil der Ukraine zu besetzen und die Hafenstadt Mariupol sowie Charkiw einzunehmen, um eine von Russland kontrollierte Zone zu bilden, die die Krim mit Donezk und Luhansk verbindet, möglicherweise auch Odessa einschließt und sich bis nach Transnistrien erstreckt. Putin kämpft dafür im Rahmen dessen, was er als russische Interessen ansieht, und nun auch für das Prestige seines Regimes. Es scheint, als hätten Putin und seine Bande geglaubt, ein schneller Sieg sei möglich. Mit dem Angriff auf die ukrainische Hauptstadt Kiew wollte Putin möglicherweise einen “Regimewechsel” herbeiführen und eine eher pro-russische, antiwestliche Regierung einsetzen.

Dies schien der Plan zu sein. Doch wie der deutsche Militärstratege Helmuth von Moltke aus dem 19. Jahrhundert sagte, überlebt kein Plan den ersten Kontakt mit dem Feind. Plan 1 ist gescheitert, also hat Putin zu Plan 2 gegriffen. Die russische Armee ist offenbar auf entschlossenen Widerstand der ukrainischen Streitkräfte gestoßen. Während die russischen Streitkräfte im Süden vorankommen, scheinen sie im Norden festzustecken. Putin wendet nun eine ähnliche Taktik an wie die russische Armee in Syrien und legt Städte in Schutt und Asche. In einigen Gebieten vor allem in Mariupol, sind sie dabei, das zu wiederholen, was sie in Aleppo und Grosny, getan haben, und das unter entsetzlichen menschlichen Opfern. Der Beschuss von zivilen Gebieten ohne militärische Bedeutung geht weiter, ebenso wie die Zerstörung ganzer Städte. Dabei wird auch ein Teil der ukrainischen Infrastruktur zerstört.

Der Ausgang eines jeden Krieges ist nicht vorherbestimmt. Dennoch wird es dem Putin-Regime nicht möglich sein, die gesamte Ukraine zu besetzen und die gesamte Bevölkerung über einen längeren Zeitraum zu unterdrücken, selbst wenn es ihm gelingt, die wichtigsten Städte einzunehmen. Bei einer Landmasse, die so groß ist wie Deutschland und Frankreich zusammen, und einer Bevölkerung von vierzig Millionen Einwohner*innen wäre Putin mit einem anhaltenden, langwierigen Kampf des bewaffneten Widerstands konfrontiert. Wenn auch mit vielen Unterschieden, würde die Ukraine in einem solchen Szenario zu Putins Afghanistan werden.

Die Folgen des Krieges waren für die westlichen imperialistischen Mächte tiefgreifend. Kurzfristig hat er sie offenbar geeint und die NATO und die EU gestärkt. In den westlichen kapitalistischen Ländern betrachtet eine breite Schicht die NATO in dieser Phase positiver, da sie von vielen, wenn auch nicht von allen, als eine Kraft angesehen wird, die die Kämpfe stoppen oder zumindest deren Ausbreitung verhindern könnte. Die derzeit starke Pro-NATO- und Pro-EU-Stimmung unter den Ukrainer*innen ist Ausdruck des verzweifelten Wunsches, ihr Leben und ihre Heimat zu retten, ihre Lage zu verbessern und mehr “demokratische” Rechte zu erlangen. Diese Stimmung kann jedoch auch in ihr Gegenteil umschlagen, nämlich in das Gefühl, dass “ihre Worte der Unterstützung keine wirkliche Unterstützung bieten”. Dieses Gefühl wird bereits von einer Schicht geäußert, die das Gefühl hat, “der Westen hat uns im Stich gelassen”.

Gleichzeitig versucht der westliche Imperialismus, insbesondere der US-Imperialismus, diese Krise zu nutzen, um an der alten Weltordnung in einer grundlegend veränderten Weltlage festzuhalten.

Asien, Afrika und Lateinamerika

Diese positivere Sichtweise der NATO findet in vielen Ländern der neokolonialen Welt, insbesondere in Asien und Afrika, keinen Widerhall. Dies zeigte sich bei der Abstimmung in der UN-Generalversammlung zur Verurteilung der russischen Invasion, bei der sich 35 Länder – alle aus Asien, Afrika und Lateinamerika – der Stimme enthielten. In einigen Ländern gibt es in Teilen der Bevölkerung eine wohlwollendere Haltung gegenüber Russland. Darin spiegeln sich vor allem zwei Aspekte wider. Erstens ist es eine Reaktion auf die erstaunliche Heuchelei der westlichen imperialistischen Mächte, die eine ebenso brutale Interventionsbilanz vorzuweisen haben. Die blutigen Interventionen des westlichen Imperialismus im Irak und im Jemen sowie andere Beispiele sind im Bewusstsein von Millionen Menschen in diesen Ländern verankert.

Diese Gefühle spiegeln sich auch in einigen der bürgerlichen Regime in diesen Ländern wider. Als ein pakistanischer Ex-General seine Unterstützung für Russland zum Ausdruck brachte und von den USA verurteilt wurde, antwortete der pakistanische Premierminister Imran Khan, der in Pakistan eine reaktionäre Politik betreibt, mit den Worten: “Wir sind nicht eure Sklaven”.

Indien, Pakistan und Bangladesch unterstützen Russland indirekt in diesem Konflikt. In Uganda twitterte der Kommandeur der Armee, General Kainerugaba, der Sohn von Präsident Museveni, dass “die Mehrheit der Menschheit (die nicht weiß ist) Russlands Haltung in der Ukraine unterstützt”. Evo Morales in Bolivien hat die USA angegriffen und sie für den Tod von Millionen von Menschen durch die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki sowie durch den Condor-Plan in Lateinamerika und andere NATO-Interventionen verantwortlich gemacht.

Dies ist keine marxistische Opposition gegen den westlichen Imperialismus. Museveni ist ein autoritärer Herrscher. Morales hat sich mit dem Kapitalismus arrangiert, als er an der Macht war. Aber sie spiegeln wider, was als Heuchelei des westlichen Imperialismus angesehen wird. In Teilen der Massen in diesen Ländern herrscht das Gefühl vor, dass die Proteste des Westens gegen die Schrecken in der Ukraine im Gegensatz zu der Haltung gegenüber dem schrecklichen Leiden der Massen in Äthiopien, Jemen, Gaza und anderen Kriegsgebieten stehen.

In einer Schicht gibt es auch eine Sehnsucht nach der Vergangenheit und die Unfähigkeit, den reaktionären Gangsterkapitalismus von Putins Regime vollständig zu akzeptieren. Einige haben sich nicht mit der Tatsache abgefunden, dass der Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion bedeutete, dass ein neues Gesellschaftssystem des reaktionären oligarchischen Kapitalismus an ihre Stelle trat, das von Putin verkörpert wird. In Südafrika zum Beispiel wird die Vorstellung, dass die UdSSR im bewaffneten Kampf gegen das Apartheidregime geholfen hat, heute mit einer wohlwollenden Haltung gegenüber Putin und Russland in diesem Krieg gleichgesetzt. In vielen Ländern der neokolonialen Welt spiegelt sich die Heuchelei des westlichen Imperialismus in der Haltung wider, Russland sei das “kleinere Übel”. Doch in den wichtigsten westlichen kapitalistischen Ländern ist die überwältigende Stimmung gegen den Krieg und gegen Russland.

Chinas Reaktion auf die Krise

Einige der Länder, die Russland stärker unterstützt haben, sind wirtschaftlich zunehmend an China gebunden. China hat seinerseits eine Position eingenommen, die einer “pro-russischen Neutralität” gleichkommt. Das Regime von Xi unterstützt die russische Invasion zwar nicht ausdrücklich, verfolgt aber eine vorsichtige Politik, die auf die Verteidigung der eigenen Interessen abzielt. Aus diesem Grund wollen Xi und das chinesische Regime ein Ende des Konflikts. Es mischt sich in die Gespräche mit dem ukrainischen Regime ein, in der Hoffnung, eine Einigung herbeizuführen – was nicht einfach sein wird – und dadurch seine globale Position zu stärken. Eine größere Krise in der Weltwirtschaft wäre nicht im Interesse des chinesischen Staatskapitalismus. Die Auswirkungen der Verlangsamung der Weltwirtschaft infolge des Ukraine-Krieges werden sich auf die chinesischen Exporteure auswirken. Es ist kein Zufall, dass China im März 2022 sein niedrigstes Wachstumsziel seit dreißig Jahren festgelegt hat, nachdem es bereits 2021 eine Verlangsamung gab.

Bezeichnenderweise hat China als Reaktion auf die “gestärkte” Position der NATO und den Versuch des US-Imperialismus, die “alte Ordnung” zu verteidigen, mit einer energischen Warnung an den US-Imperialismus geantwortet. Wang Yi, Chinas Außenminister, erklärte in seiner Rede vor dem Nationalen Volkskongress, dass “Russland und China sich gemeinsam den Versuchen widersetzen, die Mentalität des Kalten Krieges wieder aufleben zu lassen.” Er prangerte die Bestrebungen der USA an, eine indopazifische NATO zu gründen, und warnte dann, dass Taiwan nicht die Ukraine sei.

Putin strebt eine Intensivierung der wirtschaftlichen Beziehungen zu China an, um die Auswirkungen der Sanktionen und der wirtschaftlichen Isolierung Russlands durch den Westen auszugleichen, obwohl einige chinesische Unternehmen ihre Investitionen in Russland zurückgefahren haben. Kurzfristig ist davon auszugehen, dass sich die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen China und Russland wie schon vor der russischen Invasion verstärken werden. In einer Schlagzeile der Financial Times vom 3. März heißt es “Es ist unwahrscheinlich, dass Xi seinen ‘besten Freund’ trotz des Drucks der Ukraine fallen lässt”. Wie lange diese “Allianz” aufrechterhalten wird, ist eine andere Frage. Auch wenn es möglich ist, dass die wirtschaftlichen Beziehungen zu China die Auswirkungen der westlichen Sanktionen abmildern können, wird dies nicht verhindern, dass die russische Wirtschaft schwer getroffen wird und die russischen Arbeiter*innen und die Mittelschicht einen schrecklichen Preis dafür zahlen müssen.

Russische Arbeiter zahlen den Preis und Putins Zukunft

Der Absturz des Rubels um mehr als dreißig Prozent innerhalb einer Woche, der Anstieg der Zinssätze von 9,5 Prozent auf zwanzig Prozent und die Unterbrechung des Zugangs zu internationalen Finanzmitteln werden zu einer starken Senkung des Lebensstandards in Russland führen. Putin stützte sich auf eine Kriegskasse von 630 Milliarden US-Dollar an Gold- und Devisenreserven. Doch wie viel davon abgerufen werden kann, ist jetzt fraglich. Mehr als zwei Drittel davon werden in Fremdwährungen oder Wertpapieren gehalten und sind nun weitgehend tabu. Dies ist ein weiterer Schlag für Putin. Gleichzeitig können kapitalistische Sanktionen auf zweierlei Weise wirken. Sie können eine Schicht wütend machen, die sich gegen den Krieg und Putin stellt. Kurzfristig können sie jedoch auch eine “Belagerungsmentalität” und nationalistische Gefühle in Russland stärken. Diese Entwicklungen sowie die steigende Zahl russischer Opfer, da der Krieg für die russischen Streitkräfte mittel- bis langfristig immer komplizierter wird, können schließlich auf das Ende des Putin-Regimes hindeuten. Kurzfristig wird Putin jedoch wahrscheinlich sein Regime an der Macht halten, das in dieser Phase wahrscheinlich die Unterstützung der Mehrheit genießt, gestärkt durch die brutale staatliche Unterdrückung der Kriegsgegner*innen. Der Widerstand gegen den Krieg innerhalb Russlands scheint ziemlich groß zu sein und kann noch wachsen. Putin hat jedoch mit weitreichenden Repressionen reagiert, die das repressive bonapartistische Regime widerspiegeln, dem er vorsteht. Die Außenpolitik ist eine Fortsetzung der Innenpolitik; die Brutalität, die Putins Regime in der Ukraine angewandt hat, kann auch gegen die russischen Massen eingesetzt werden.

Der massive innere Sicherheitsapparat kann kurzfristig die Entwicklung einer Oppositionsbewegung verzögern, die stark genug ist, um das Regime herauszufordern, das immer noch eine gewisse Unterstützung genießt. Diese Situation kann sich jedoch schnell ändern, je nachdem, wie sich der Krieg selbst entwickelt. Wenn Russland in einen langwierigen Krieg und eine kollabierende Wirtschaft verwickelt wird, könnte sich die Opposition entwickeln und eine Art “Palastputsch” provozieren, auch wenn dies kurzfristig unwahrscheinlich erscheint. Das Prestige von Putins Regime und des russischen Kapitalismus steht auf dem Spiel. In diesem Stadium sind die Hauptakteure des Regimes um Putin allesamt eingefleischte Loyalisten, von denen viele, wie Putin, aus dem ehemaligen KGB der ehemaligen UdSSR stammen.

Abrupte Veränderungen und Verschärfung der Krise

Der Krieg hat in einigen Ländern auch zu einem abrupten historischen Wandel in der Politik geführt. Zum ersten Mal hat die EU als Ganzes offiziell beschlossen, den Kauf von Waffen zu finanzieren. Deutschland änderte unter dem SPD-Kanzler Scholz über Nacht seine Militärpolitik und führte einen massiven Rüstungs-Sonderhaushalt in Höhe von 100 Milliarden Euro ein, erhöhte die “normalen” Militärausgaben auf über zwei Prozent seines BIP und stimmte zu, die gewinnbringende Ausfuhr deutscher Waffen in Konfliktgebiete zuzulassen. Die deutsche Regierung strebt den Aufbau des größten Militärapparats in Europa an, was eine massive Veränderung der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1945 bestehenden Position darstellt. Dies sind wichtige Ausgangspunkte, die die neue Situation in den Weltbeziehungen widerspiegeln. Sie sind Teil einer Explosion der Rüstungsausgaben, die weltweit stattgefunden hat, nicht zuletzt in China, das seinen Militärhaushalt erneut aufgestockt hat.

Der Krieg in der Ukraine hat die westlichen imperialistischen Mächte in dieser Phase geeint. Doch hinter dieser Maske bleiben die zwischen ihnen existierenden unterschwelligen Spannungen bestehen. Die Spaltungen innerhalb der EU und zwischen der EU und dem US-Imperialismus haben sich nicht verflüchtigt. Sie werden wieder zum Vorschein kommen, vor allem, wenn die Auswirkungen dieser Krise in der Weltwirtschaft zunehmend spürbar werden und sich auf jedes Land auswirken. Neue Gräben können sich auch in der Frage auftun, wie auf die Krise reagiert werden soll. Es ist eine Sache, wenn die USA und Großbritannien die Einfuhr von russischem Öl, Gas und Kohle verbieten. Eine ganz andere ist es, dies von Deutschland und anderen Ländern zu verlangen, die viel stärker davon abhängig sind.

Der massive Anstieg der Öl- und Gaspreise droht einen Stagflationsschock auszulösen, vor allem in Ländern, die Energie importieren. Die Ölpreise stiegen am 7. März im Morgenhandel sprunghaft um zwanzig Prozent auf 139 US-Dollar pro Barrel. Am selben Tag stiegen die Großhandelspreise für Gas in Europa auf 335 Euro pro Megawattstunde, gegenüber 16 Euro vor einem Jahr! Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts hat Shell innerhalb von 24 Stunden eine Kehrtwende vollzogen und den Kauf von russischem Öl auf dem Spotmarkt eingestellt.

Sollte sich dieser Prozess fortsetzen, ist nicht auszuschließen, dass Russland die Gaslieferungen nach Europa einstellt. Dies hätte verheerende Folgen. Die EU-Länder importieren 40 Prozent ihres Gases aus Russland. Außerdem liefert Russland zehn Prozent des weltweiten Rohöls.

Der US-Imperialismus und die westlichen Mächte suchen verzweifelt nach alternativen Öl- und Gasquellen, um die Abhängigkeit von russischen Lieferungen zu verringern. Das muss sein! Dies hat zu dem Spektakel geführt, dass Bidens Regierung “freundliche” Gespräche mit dem Maduro-Regime in Venezuela aufgenommen hat, das sie seit Jahren zu stürzen versucht.

Die Folgen des Krieges werden zu einer höheren Inflation führen. Er droht, den flüchtigen wirtschaftlichen post-COVID-“Aufschwung” abzuwürgen und eine Rezession auszulösen, die zu einer möglichen Stagflation (Rezession und höhere Inflation) führt. Die Unterbrechung der Teilelieferungen aus der Ukraine hat bereits dazu geführt, dass Automobilhersteller und andere Unternehmen einige europäische Werke schließen mussten. Dies führt zu einem scharfen Angriff auf den Lebensstandard in der ganzen Welt. In vielen Ländern wird dies zu einem explosionsartigen Anstieg der Armut führen, einschließlich der Zunahme von Hunger, Unterernährung und Obdachlosigkeit in den westlichen imperialistischen Mächten.

Die Bedrohung der weltweiten Nahrungsmittelversorgung ist potenziell katastrophal, insbesondere für die Länder der neokolonialen Welt. Auf die Ukraine und Russland entfallen 29 Prozent der weltweiten Weizenexporte, 19 Prozent des weltweiten Maisanbaus und 80 Prozent des Sonnenblumenöls. Der Krieg kann den Anbau der diesjährigen Ernten beeinträchtigen. Bangladesch, Sudan und Pakistan beziehen über fünfzig Prozent ihrer Weizenlieferungen aus Russland oder der Ukraine. Der sich bereits abzeichnende Preisanstieg wird verheerende Auswirkungen auf diese und andere Länder haben. Bereits jetzt sind acht Millionen Menschen in Afghanistan vom Hunger bedroht, und das Schicksal von Millionen weiterer Menschen in anderen Ländern ist absehbar.

Hinzu kommt, dass Russland und Weißrussland wichtige Lieferanten von Düngemitteln sind, deren Preise ebenfalls massiv angestiegen sind. Dies wird für die Nahrungsmittelproduktion in den Ländern der neokolonialen Welt katastrophale Folgen haben.

Diese Entwicklungen werden mit Sicherheit zu massiven sozialen und politischen Explosionen in der gesamten neokolonialen Welt und in den kapitalistischen Industrieländern führen. Aufstände von Bäuer*innen und Landarbeiter*innen und eine allgemeine soziale Krise infolge von Hungersnöten können in Asien, Afrika und Lateinamerika ausbrechen. Hungersnöte dieses Ausmaßes können Kriege und ethnische Konflikte um Getreide und Nahrungsmittel auslösen.

Ein Weltkrieg?

Das Ausmaß dieser Krise hat zu der Befürchtung geführt, dass ein dritter Weltkrieg und ein nuklearer Holocaust ausgelöst werden könnten. Putins Hinweis, dass er über Atomwaffen verfügt, hat diese Befürchtungen sicherlich noch verstärkt. Solche Befürchtungen, die vor allem unter jungen Menschen verbreitet sind, sind verständlich, vor allem angesichts der Art der am Konflikt beteiligten Kräfte. Kriege können eskalieren und sich über das hinaus ausweiten, was die streitenden Kräfte beabsichtigt haben. Zufällige Zusammenstöße können größere Konflikte auslösen. Es ist nicht auszuschließen, dass dieser Konflikt zu größeren militärischen Auseinandersetzungen und Scharmützeln führen könnte, insbesondere an der polnischen Grenze oder in anderen Ländern.

Es liegt jedoch nicht im Interesse des westlichen Imperialismus oder Putins, dass sich dieser Konflikt zu einem totalen Krieg zwischen den NATO-Streitkräften und Russland entwickelt und zu einem dritten Weltkrieg mit einem nuklearen Waffengang wird. Dies würde nicht nur zum Abschlachten von Millionen von Menschen führen, sondern auch die kapitalistische Wirtschaft und die Herrschaft der Oligarchen auslöschen. Der Vorschlag der polnischen Regierung, ihre MiG-Kampfflugzeuge zu einem US-Luftwaffenstützpunkt in Deutschland und dann in die Ukraine zu schicken, wurde vom Pentagon aus genau diesem Grund abgelehnt: um eine vollständige Eskalation des Konflikts zu einem größeren Krieg zu verhindern. Dies zeigt auch, dass sich die NATO und die westlichen Mächte im weiteren Verlauf der Krise entzweien könnten. Die Einrichtung direkter Kommunikationslinien zwischen dem russischen Militär und der NATO zeigt auch, dass die herrschenden Eliten Sicherheitsvorkehrungen treffen, um eine solche Katastrophe zu verhindern.

Der Beschluss der USA und des Vereinigten Königreichs, die Einfuhr von russischem Öl, Gas und Kohle zu verbieten, wird erst Ende des Jahres in Kraft treten. Darin spiegelt sich zum einen der Druck wider, eine Ausweitung des Konflikts zu vermeiden, und zum anderen der Zeitbedarf für den Aufbau einer zuverlässigen alternativen Ölversorgung.

Die weitreichenden Auswirkungen dieser Krise auf die geopolitischen Beziehungen spiegeln sich auch in den Auseinandersetzungen zwischen den Parteien wider, die an den Verhandlungen über ein Atomabkommen mit dem Iran beteiligt sind. Die USA und der Iran scheinen kurz vor einer Einigung zu stehen, die das iranische Regime dringend benötigt. Putin hat jedoch die zusätzliche Forderung erhoben, dass der Handel mit dem Iran von den US-Sanktionen ausgenommen wird. Das iranische Regime, das freundschaftliche Beziehungen zu Putin unterhält, bezeichnete dies als “nicht hilfreich”, da es die Verhandlungen ins Trudeln gebracht habe.

Die humanitäre Katastrophe, zu der mehr als zwei Millionen Flüchtlinge gehören, die aus den “Killing Fields” der Ukraine fliehen, hat ein Meer von menschlichem Elend geöffnet. Es ist eine Wiederholung der herzzerreißenden Szenen, die sich in anderen Konflikten auf der ganzen Welt in Asien, Afrika und Lateinamerika abgespielt haben. Dies ist die Realität des Kapitalismus in seinem Todeskampf für Millionen von Menschen auf der ganzen Welt. Der Krieg in der Ukraine hat auch eine Welle der menschlichen Solidarität ausgelöst.

In Polen, Berlin und anderswo haben Menschen ihre Häuser für Fremde geöffnet, um ihnen Essen, Unterkunft und andere Unterstützung anzubieten. Diese positiven Aspekte waren zunächst auch die Reaktion auf die Flüchtlinge aus Syrien. Diese Stimmung kann jedoch auch umschlagen, wenn die notwendigen Investitionen in Wohnraum, Bildung, Gesundheit und Arbeitsplätze ausbleiben und damit rechtsextremen und rassistischen Organisationen Raum zum Handeln gegeben wird. Der bösartige Rassismus, den Teile der ukrainischen und polnischen Staatsmacht und rechtsextreme Organisationen gegenüber afrikanischen und asiatischen Studierenden und anderen an den Tag legen, ist eine Warnung, wie die Situation zynisch ausgenutzt werden und die Stimmung umschlagen kann.

Bedarf an einer sozialistischen Alternative zum Krieg

Die Folgen dieser Krise auf internationaler Ebene, sowohl in Bezug auf die wirtschaftlichen als auch auf die geopolitischen Beziehungen, sind noch nicht absehbar, und es ist nicht klar, wie sie sich entwickeln wird. Sie verschärft jedoch die zugrundeliegenden multiplen Krisen, mit denen der globale Kapitalismus in dieser neuen Ära konfrontiert ist. Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen werden die in allen Ländern bestehende Polarisierung verschärfen. Die Wirtschafts- und Nahrungsmittelkrise, die sich vor allem in Asien und Afrika abzeichnet, wird zusammen mit anderen Problemen nationale und ethnische Konflikte und Kriege verstärken. Diese Probleme werden jedoch auch in allen anderen Regionen der Welt auftreten.

Dieser Konflikt wird in der einen oder anderen Form über einen längeren Zeitraum andauern. Darin enthalten ist der Kampf des Putin-Regimes, seinen Einflussbereich auszuweiten und sich als Weltmacht gegen die demokratischen Rechte und das Selbstbestimmungsrecht verschiedener Völker durchzusetzen. Der Kapitalismus, sowohl sein westlich-imperialistisches Gesicht als auch sein oligarchisch-bonapartistisches Gesicht, kann der Arbeiter*innenklasse und den Völkern in der Ukraine, in Donezk, Luhansk oder Russland keine Lösung anbieten. Dieser blutige Konflikt ist nicht der erste und wird nicht der letzte sein, der in dieser Ära des Kapitalismus ausbricht. Er unterstreicht die Dringlichkeit des Aufbaus von Arbeiter*innenmassenparteien mit einem revolutionären sozialistischen Programm, einschließlich einer unabhängigen Politik für die Arbeiter*innenklasse, um Krieg und den Kapitalismus, der ihn hervorbringt, zu bekämpfen.

Print Friendly, PDF & Email