Zur Landtagswahl in NRW
Am Sonntagabend gratulierten sich die bürgerlichen Parteien verhalten zu ihren Wahlergebnissen. Die CDU ging als Wahlsiegerin nach Hause, die Grünen setzen ihre Siegesserie fort, die FDP wurde als Juniorpartner der Regierung abgestraft und die SPD ist in NRW auf einem historischen Tief. Doch hinter den Prozentpunkten verbirgt sich eine tiefergehende Krise des politischen Establishment. Im bevölkerungsreichsten Land nahm gerade Mal die Hälfte der Menschen überhaupt den Weg zur Wahlurne auf sich.
Von Jens Jaschik, Sol Dortmund und Frank Redelberger, Sol Lemgo und Stadtrat für DIE LINKE
Während bundesweite Themen, wie der Krieg in der Ukraine oder die Inflation, die Debatte prägten, war der Landtagswahlkampf an sich wenig polarisierend. Blasse Spitzenkandidat*innen und halbherzige Kampagnen zeichneten in NRW den Kampf um Stimmen aus. Obwohl die soziale Ungerechtigkeit, steigende Mieten, marode Schulen, Preissteigerungen oder Arbeitslosigkeit für die meisten Menschen große Themen sind, stieß die Landtagswahl auf wenig gesellschaftliches Interesse.
Trotz des Verlust von absoluten Stimmen konnte die CDU ihre Spitzenposition mit 35,7 Prozent ausbauen. Deutlicher Wahlsieger sind die Grünen, die – jedenfalls auf prozentualer Ebene – ihr Ergebnis mit 18,2 Prozent verdreifachen konnten. Ihr Höhenflug ist Ausdruck von Hoffnungen von Teilen der Mittelschichten auf einen grünen, nachhaltigen Kapitalismus, aber auch der Stimmung unter einem Teil dieser Schicht für eine aggressivere Außenpolitik gegen Russland angesichts des Ukraine-Kriegs, die von den Grünen verkörpert wird.
Die SPD hat mit 26,7 Prozent das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte eingefahren. Die FDP wurde stellvertretend für die Regierungspolitik in der schwarz-gelben Landesregierung abgestraft, wo es vor allem eine große Unzufriedenheit mit der Schulpolitik in der Pandemie gab. Sie verlor mehr als die Hälfte ihrer Wähler*innen und stürzte von 12,6 auf 5,9 Prozent ab – womit die alte Landesregierung prozentual und in absoluten Stimmen verloren hat.
Die LINKE scheiterte mit 2,1 Prozent weit entfernt von der Fünf-Prozent-Hürde an einem Einzug in den Landtag. Wieder fehlt in den nächsten fünf Jahren im Parlament eine Kraft, die den einfachen Menschen und sozialen Bewegungen eine Stimme geben kann. Allein das niedrige Ergebnis der AfD, die zwar trotzdem ihren Einzug in den Landtag schafft, ist ein Grund zur Freude.
Bezüglich der möglichen Regierungskoalitionen spricht die Tagesschau von einer „Neuen Unübersichtlichkeit“. Sowohl Schwarz-Grün als auch eine Ampelkoalition sind möglich. Je nach dem wie weit welche Partei bereit ist, sich inhaltlich zu verbiegen. Am Wahlabend zeigten sich CDU und Grüne sehr offen für eine Regierungskoalition, während die FDP sich gerade als Verliererin der Ampel im Bund sieht. Hier zeigt sich die Beliebigkeit der etablierten Parteien. Aber egal welche Regierung am Ende in Düsseldorf zusammenkommt, sie wird nicht die Interessen der Jugend und der Arbeiter*innenklasse repräsentieren. Und sie wird damit konfrontiert sein, dass sie an der Wahlurne gerade Mal die Unterstützung von einem Drittel der Wahlberechtigten bekommen hat.
Nichtwähler*innen größte „Partei“
Der Fakt, dass die Wahlbeteiligung in NRW auf ein historisches Tief von 55,5 Prozent gesunken ist, ist in den Medien kaum eine Erwähnung wert. Ein Rückgang von 9,7 Prozentpunkten im Vergleich zur Landtagswahl 2017. Von den fast 13 Millionen Wahlberechtigten sind fast sechs Millionen nicht zur Wahl gegangen. Trotzdem wird von einem klaren Regierungsauftrag für die CDU gesprochen. Dabei hat die CDU an absoluten Stimmen sogar verloren! Bei den Zweitstimmen hat sie ca. 200.000 Stimmen weniger bekommen und bei den Erststimmen sogar 600.000 Stimmen weniger. Hier zeigt sich das geringe Vertrauen, dass der CDU entgegen gebracht wird. Die Nichtwähler*innen sind mit Abstand die größte Partei, mehr als doppelt so viele wie die 2,55 Millionen CDU-Wähler*innen und ihr Wachstum ist ebenfalls größer als der Stimmenzuwachs der Grünen. Die CDU hat an der Wahlurne gerade mal die Unterstützung von einem Fünftel der Wahlberechtigten bekommen. Jede mögliche Regierungskoalition würde ihre politische Legitimation auf nicht mal die Hälfte der Wahlberechtigten stützen.
Besonders in den ärmeren Städten – wie Duisburg, Hagen oder Dortmund – war die Wahlbeteiligung sehr niedrig, in einigen Stadtteilen unter vierzig Prozent. Im Interview mit den Ruhrnachrichten erklärt der Dortmunder SPD-Kandidat Volker Baran zu der niedrigen Wahlbeteiligung in seinem Wahlbezirk: „Ich bin mit meinem Latein am Ende. Viele meckern zwar, aber beteiligen sich nicht an politischen Entscheidungen.“, als wären die Gründe ein Buch mit sieben Siegeln. Fakt ist, dass die etablierten Parteien seit Jahrzehnten für diese Menschen nichts getan haben. Ihre Lebenssituation hat sich nicht verbessert. Egal wen sie wählen, die da Oben machen am Ende, was sie wollen. Viele Menschen fühlen sich zu Recht von der Politik im Stich gelassen. Und auf dem Wahlzettel haben sie keine ansprechende politische Alternative gefunden. Viele Menschen resignieren und hoffen auf keine weitere Verschlechterung ihres Lebensstandards. Das Wahlergebnis in NRW ist vor allem ein Ausdruck der Krise des politischen Establishment und seiner Institutionen
DIE LINKE in der Krise
DIE LINKE hätte die Partei sein müssen, die diese Schichten mobilisiert – nicht nur an der Wahlurne, sondern auf der Straße, im Betrieb, in der Schule und der Uni. Zusammen mit den sozialen Bewegungen und den streikenden Kolleg*innen der Uni-Klinika und der Sozial- und Erziehungsdienste hätte sie eine starke Alternative zum Establishment präsentieren können. Im Wahlkampf war zu spüren, dass viele Menschen unzufrieden mit der Situation und wütend auf die herrschende Politik sind. Stattdessen ist DIE LINKE grandios gescheitert. Während sie 2017 noch knapp an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte, ist ihr Ergebnis diesmal auf 2,1 Prozent gesunken, das sind 270.000 Stimmen weniger. Hier fällt besonders auf, dass viele der vormaligen LINKE-Wähler*innen diesmal gar nicht an der Wahl teilgenommen haben. Offenbar traut kaum jemand der LINKEN zu, an den miesen sozialen Verhältnissen etwas zu ändern. Es wäre falsch die Ursache für dieses bittere Ergebnis allein auf die Krise der LINKEN auf Bundesebene zu reduzieren, wobei diese sicher eine große Rolle gespielt hat.
Die LINKE.NRW ist mit geschlossenen Augen in dieses Wahldesaster gegangen. Auf dem Landesparteitag Ende 2021 wurde der Wahlkampf diskutiert als wäre der Einzug in den Landtag schon sicher. Man wäre das Zünglein an der Waage, um eine Regierungsbeteiligung der FDP zu verhindern. Angesichts der Umfragewerte kam dies einer Realitätsverweigerung gleich. Das desaströse Ergebnis der Bundestagswahl, wo DIE LINKE schon die Hälfte ihrer Stimmen in NRW verloren hatte, war kaum eine Diskussion wert. Man hat auch darauf verzichtet zu diskutieren, wie man den Wahlkampf nutzen kann, um die Partei aufzubauen, die Mitgliedschaft zu aktivieren und sich als oppositionelle und antikapitalistische Kraft zu präsentieren. Stattdessen hat man sich an SPD und Grüne angebiedert. Und auch jetzt sprechen Mitglieder vom Landesvorstand auf Facebook davon, dass niemand mit diesem Ergebnis hätte rechnen können.
Der Landesvorstand hat im Wahlkampf keine Führung angeboten. Die Geschäftsstelle tat sich schwer den Wahlkampf zu organisieren. In vielen Orten hat sich nur ein Bruchteil der aktiven Mitgliedschaft am Wahlkampf beteiligt. Viele LINKE-Büros sind voll mit hunderten Wahlplakaten, die nicht aufgehangen wurden. Das ist unter anderem ein Ergebnis der mangelnden innerparteilichen Demokratie, der unsolidarischen Diskussionskultur, den oftmals verknöcherten Kreisverbänden, die Neumitglieder kaum eine Möglichkeit geben sich zu integrieren, usw. usf. Nur wenige Kreisverbände fallen aus diesem Raster. Aber strukturelle Reformen allein werden die LINKE. NRW nicht retten. Die Krise ist vor allem eine politische. Die LINKE hat es nicht geschafft, sich als Alternative zum kapitalistischen Wahnsinn zu präsentieren. Dafür ist ihr Programm unzureichend. Nicht nur die laschen Wahlplakate sind ein Ausdruck davon. Man setzt auf Reformen des Kapitalismus – in einigen Bundesländern verwaltet DIE LINKE diesen mit – und orientiert auf die Wahlebene und die etablierten Parteien, insbesondere SPD und Grüne, statt sich an die Arbeiter*innenklasse zu richten, und gemeinsam für konkrete Verbesserungen und eine sozialistische Perspektive zu streiten. In dem Versuch, die pro-kapitalistischen Parteien von linken Forderungen zu überzeugen, kann DIE LINKE nur verlieren. Ein Kurswechsel ist dringend nötig.
Während des Wahlkampf haben die linken Parteiströmungen Antikapitalistische Linke (AKL) und Bewegungslinke sich mit Kritik zurückgehalten. Man wollte stattdessen Einheit präsentieren. Aber die aktuellen Verhältnisse – das Hufeisenbündnis von Wagenkencht-Unterstützer*innen und dem Reformer*innenlager – in der LINKEN. NRW haben den Landesverband gegen die Wand fahren lassen. Der Wagenknecht-Flügel glänzte mit Zurückhaltung beim Wahlkampf und hatte offenbar kein großes Interesse DIE LINKE als eine kämpferische Mitgliederpartei aufzubauen. Parallel dazu wird der rechte Reformer-Flügel dieses Ergebnis jetzt nutzen, um ihre Basis in der LINKEN. NRW auszubauen, und noch stärker für eine Anbiederung an SPD und Grüne zu argumentieren und die Partei noch mehr an das politische Establishment anzupassen, statt eine radikale Alternative zu formulieren. Der linke Flügel muss jetzt den Kampf für eine kämpferische und sozialistische Neuausrichtung führen. Die Sozialistische Organisation Solidarität (Sol)setzt sich für einen solchen Kurswechsel ein. Der beste Weg eine kämpferische, sozialistische Linke aufzubauen, ist in der Sol aktiv zu werden.
Perspektiven
Fünf Jahre keine soziale Opposition im Landtag bedeutet nicht, dass sich die Arbeiter*innenklasse und die Jugend kein Verhör verschaffen wird. Es wird Opposition von Unten, von der Straße, den Betrieben, Schulen und Universitäten geben. Die Resignation, die die geringe Wahlbeteiligung ausdrückt, wird nicht dauerhaft sein. Wenn die Verhältnisse sich weiter zuspitzen, werden immer mehr Menschen eine Alternative zu Krise und Kapitalismus suchen. Umfragen kurz vor der Landtagswahl haben gezeigt, dass die Mehrheit der Menschen schon jetzt die möglichen Regierungskoalition mehrheitlich negativ bewerten
DIE LINKE und verschiedene Kleinstparteien sind an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. Sie machen 8,1 Prozent der abgegebenen Stimmen aus. Fast die Hälfte der Menschen sind nicht zur Wahl gegangen. Und 2,3 Millionen Menschen waren nicht wahlberechtigt, obwohl sie ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben – eine Millionen von ihnen sogar schon seit 20 Jahren! Der Landtag und die neue Regierung repräsentieren nicht mal die Hälfte der Menschen, die in NRW leben. In der Realität repräsentieren sie sogar nur die Interessen der reichsten 10 Prozent und der Banken und Konzerne. Hier liegt das Potenzial neue Mehrheit zu schaffen, in dem die Menschen gegen die Politik der Herrschenden mobilisiert werden. NRW hat viele Probleme: Armut, hohe Arbeitslosigkeit, steigende Mieten, marode Schulen… Auch die kapitalistische Krise wird in Zukunft NRW noch härter treffen, besonders im industriellen Sektor. Damit sich was ändert, ist Widerstand nötig. Der Streik der Kolleg*innen an den Unikliniken zeigt in welche Richtung es gehen sollte.
Nur ein sozialistisches Programm kann eine Lösung zur kapitalistischen Krise anbieten. Die Sozialistische Organisation Solidarität kämpft für ein Programm, dass an die Probleme der einfachen Menschen anknüpft und von der Notwendigkeit einer sozialistischen Demokratie ausgeht, wo die Mehrheit der Menschen nicht nur über die Politik, sondern auch über die Wirtschaft demokratisch entscheidend. Nur die Arbeiter*innenklasse den Weg für einen solchen Wandel bereiten.