Nahrungsmittelkonzerne und Getreidehändler enteignen!
“Wir hatten bereits vorher Probleme mit den Lebensmittelpreisen… Was einige Länder jetzt tun, verschärft diese Situation, und der Krieg bringt uns in eine Lage, in der wir leicht in eine Lebensmittelversorgungskrise geraten könnten”, sagte Maximo Torero, Chefökonom der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen.
Von Iain Dalton, Socialist Party England & Wales
Unter den großen Nahrungsmittelproduzenten ist Russland mit einem Anteil von 17 Prozent am Weltmarkt der weltweit größte Weizenexporteur, die Ukraine steht mit zwölf Prozent auf Platz drei. Die Ukraine ist mit einem Marktanteil von dreißig Prozent der größte Exporteur von Sonnenblumenkernen, während Russland mit 27 Prozent an zweiter Stelle steht. Die Ukraine ist darüber hinaus der viertgrößte Exporteur von Mais mit einem Anteil von 17 Prozent an den weltweiten Ausfuhren. Rundfünfzig0 Länder importieren dreißig Prozent oder mehr ihres gesamten Weizenbedarfs aus der Ukraine oder Russland.
Unmittelbar vom Krieg betroffen sind die Getreidelieferungen aus den Häfen am Schwarzen Meer und am Asowschen Meer, wie z. B. Odessa, Nikolajew und Mariupol, die seit Ausbruch des Konflikts stillgelegt sind. Fast die Hälfte der Wintergetreideernte hat die Ukraine noch nicht verlassen.
Auch der Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-Zahlungsverkehrssystem hat sich auf die Lieferungen aus dem Land ausgewirkt. Die Androhung von Sanktionen führt dazu, dass Unternehmen sich quasi selbst sanktionieren, d. h. aus Angst, von künftigen Sanktionen betroffen zu sein, keine Lieferungen russischer Rohstoffe einkaufen.
Unterbrechungen bei der Ernte
Die Ernte der Wintersaaten in der Ukraine wird zweifellos beeinträchtigt werden, und zwar sowohl im Hinblick darauf, wie gut die Pflanzen versorgt werden können, als auch darauf, inwieweit sie geerntet werden können, wenn der Krieg weitergeht.
Die Androhung weiterer Sanktionen wird wahrscheinlich zu einer geringeren Sommeraussaat von Getreide in Russland führen. Und während höhere Preise in anderen Ländern wie den USA zu einer verstärkten Aussaat führen könnten, warnte ein Artikel des niederländischen Finanzdienstleisters ING: “Wenn es zu einer längeren Unterbrechung der Versorgung durch die Ukraine und Russland kommt, kann die verstärkte Aussaat in anderen Erzeugerländern helfen, aber sie wird die potenziellen Verluste der Schwarzmeerproduzenten nicht vollständig ausgleichen.”
All diese Entwicklungen kommen zu den bereits stark gestiegenen Lebensmittelpreisen hinzu, die auf zahlreiche Faktoren zurückzuführen sind, darunter die Auswirkungen von Covid-19 auf die Verfügbarkeit von Arbeitskräften und die anhaltende Krise in der Lieferkette, die zu Verzögerungen bei den Lieferungen führt.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Umweltkrise, wie z. B. die Hitzewelle und Dürre in Kanada, die sich negativ auf den für die Nudelherstellung verwendeten Hartweizen ausgewirkt haben. Es wird vorhergesagt, dass die Kosten für Nudelprodukte im Vereinigten Königreich in diesem Jahr um fünfzig Prozent steigen könnten.
Starke Regenfälle in China haben dazu geführt, dass die Weizenernte um zwanzig Prozent geringer ausfallen könnte als erwartet, obwohl Chinas Weizenreserven für 18 Monate ausreichen, und dieses Defizit ausgleichen können.
Ein weiterer Faktor sind die gestiegenen Kosten für industrielle Rohstoffe in der Landwirtschaft. Der Preis für Harnstoff, eine Schlüsselkomponente in einigen Düngemitteln, die größtenteils in der Ukraine und Russland hergestellt werden, ist in die Höhe geschnellt. Auch die Preise für Treibstoff, der für den Betrieb landwirtschaftlicher Fahrzeuge benötigt wird, sind in die Höhe geschnellt.
Geburtshelferin der Revolution
Preissteigerungen bei Lebensmitteln und anderen Rohstoffen waren schon oft der Auslöser für Revolutionen. Wie die Zeitschrift Economist warnte: “All dies kann zu Unruhen führen. Präsident Anwar Sadat versuchte 1977, die ägyptische Brotsubvention abzuschaffen; er machte seine Entscheidung innerhalb weniger Tage rückgängig, nachdem es zu Unruhen gekommen war, die von der Armee niedergeschlagen werden mussten. Die Revolution in Äthiopien im Jahr 1974 folgte auf einen Ölpreisschock. Höhere Lebensmittelpreise in den Jahren 2008 und 2009 trugen dazu bei, die Revolten des arabischen Frühlings und die Proteste auszulösen, die 2019 zum Sturz von Omar al-Bashir im Sudan führten.” Und vergessen wir nicht die Russische Revolution vom Februar 1917, die durch einen Streik von Arbeiterinnen um die Forderung nach Brot ausgelöst wurde!
Ägypten ist eines der Länder, die von den weiteren Auswirkungen des Krieges besonders betroffen sind, da 86 Prozent des Weizenbedarfs aus Russland und der Ukraine importiert werden. Der Libanon ist ein weiterer Nettoimporteur von Weizen. Der Preis für Fladenbrot ist dort in den letzten zwei Jahren bereits um 400 Prozent gestiegen, und nachdem die Explosion im Hafen von Beirut die wichtigsten Getreidesilos zerstört hat, verfügt das Land nur noch über einen Monatsvorrat an Weizen.
Die lebensmittelbezogene Inflation in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara lag 2019-20 bereits bei neun Prozent und war in letzter Zeit noch höher.
Optimistische pro-kapitalistische Kommentator*innen werden darauf hinweisen, dass es theoretisch in verschiedenen Teilen der Welt genügend Überschüsse gibt, mit denen man die Versorgungslücke schließen könnte. Das würde jedoch voraussetzen, dass die Gesellschaft so organisiert wird, dass sie die Bedürfnisse der Menschen befriedigt und nicht die Profite einer Handvoll Reichen.
Im Gegensatz zu der Großzügigkeit, mit der Millionen von Menschen für die Kriegsflüchtlinge gespendet haben, besteht die Reaktion vieler kapitalistischer Regierungen auf diese jüngste Nahrungsmittelkrise darin, die protektionistischen Handelsmaßnahmen weiter zu verschärfen. Ungarn hat alle Getreideexporte verboten. Serbien verbietet die Ausfuhr von Weizen, Mais, Mehl und Speiseöl. Indonesien hat die Ausfuhr von Palmöl eingeschränkt.
Inzwischen beherrschen nur noch vier Unternehmen fast 75 Prozent des Getreidehandels. Archer-Daniels-Midland meldete für das vierte Quartal 2021 einen Gewinnzuwachs von 22 Prozent im Vergleich zum Vorjahr und erhöhte seine Dividendenausschüttung. Bunge steigerte seine Gewinne im vierten Quartal 2021 um 17 Prozent. Cargill meldete für sein Geschäftsjahr 2020/21 den größten Gewinn in seiner 156-jährigen Geschichte, während Louis Dreyfus für die erste Hälfte des Geschäftsjahres 2021-22 einen Gewinn von 336 Millionen Dollar ausweist, ein sattes Plus von 167 Prozent!
Im Kapitalismus geht das Elend der ArbeiterInnen Hand in Hand mit den riesigen Gewinnen der Aktionäre.
Nur wenn wir die großen Getreidehändler und die Supermarkt- und Logistikriesen in öffentliches Eigentum überführen, unter demokratischer Arbeiter*innenkontrolle und -verwaltung, können wir garantieren, dass die auf der Welt produzierten Lebensmittel tatsächlich zur Ernährung aller Menschen, zu einem wirklich erschwinglichen Preis gewährleisten können.
Dieser Artikel erschien zuerst in englischer Sprache am 25. März 2022 auf socialistworld.net