Der Ölpreisschock von 1973

Stehen wir vor einer neuen Periode der kapitalistischen Stagflation?

Während wir uns auf eine zweistellige Inflationsrate zu bewegen, versucht die Tory-Regierung in Großbritannien, die Schuld für den enormen Anstieg der Benzin- und Gaspreise von sich zu schieben, indem sie auf den Preisschock verweist, der in diesem Jahr durch den Ukraine-Krieg ausgelöst wurde.

Einige kapitalistische Kommentatoren haben die aktuelle Krise mit dem starken Anstieg der Inflation in den 1970er Jahren nach dem Ölembargo im Anschluss an den arabisch-israelischen Krieg von 1973 verglichen.

Aus den Erfahrungen der 1970er Jahre lassen sich wichtige Lehren für die Arbeiter*innenklasse und die organisierte Arbeiter*innenbewegung ziehen, doch die wirtschaftliche Lage des Weltkapitalismus ist heute weitaus prekärer.

von David Reid, Socialist Party England & Wales (Dieser Artikel erschien zuerst am 25. April 2022 auf der englischsprachigen Webseite socialistworld.net)

Der Krieg zwischen Israel und den arabischen Staaten im Oktober 1973 fand am Ende eines 25 Jahre lang anhaltenden Aufschwungs des Weltkapitalismus statt.

Nach dem Krieg, der oft als Yom-Kippur- oder Ramadan-Krieg bezeichnet wird, übten die ölreichen arabischen Regime der Opec (Organisation erdölexportierender Länder) Vergeltung gegen die Unterstützung und Aufrüstung Israels durch die wichtigsten kapitalistischen Mächte. Die ölproduzierenden Staaten verhängten ein Ölexportembargo gegen den Westen. Der Ölpreis vervierfachte sich von drei Dollar pro Barrel auf zwölf Dollar.

Das Embargo war ein großer Schock für das kapitalistische System. Der beispiellose kapitalistische Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg kam jäh zum Stillstand. Die Benzinpreise schossen in die Höhe und verteuerten den gesamten Verkehr.

In Großbritannien erwog die Tory-Regierung von Premierminister Ted Heath die Einführung einer Benzinrationierung. In der gesamten kapitalistischen Welt begann eine einjährige Rezession – die tiefste seit der Großen Depression in den 1930er Jahren. Ein neues Wort hielt Einzug in das Wirtschaftslexikon: “Stagflation” – steigende Inflation senkte den Lebensstandard, was die Nachfrage nach Gütern verringerte, während gleichzeitig die Wirtschaft stagnierte.

Und die kapitalistische Wirtschaftskrise führte zu politischen Krisen, die die Existenz des Kapitalismus selbst in Frage stellten. Die Arbeiter*innen traten in Aktion, um Lohnerhöhungen zu fordern, die mit der Inflation Schritt hielten. Als die Bergarbeiter*innen im Januar 1974 für eine Lohnerhöhung von 35 Prozent streikten, was jedoch nur das Lohnniveau von vor 1972 aufrechterhielt, setzte eine neue Welle der gewerkschaftlichen Militanz in Großbritannien ein.

Die Heath-Regierung führte eine Drei-Tage-Woche ein, um die Energievorräte zu schonen und rief im Februar Parlamentswahlen unter dem Motto “Wer regiert Britannien” aus. Sie hatten die Hoffnung, ein erneutes Mandat zu nutzen, um die Bergarbeiter*innen zu besiegen. Stattdessen erlitt sie eine knappe Wahlniederlage, und die Bergarbeiter*innen setzten ihre Lohnforderungen gegenüber der neu gewählten Labour-Regierung unter Wilson durch.

Die hohe Inflation hielt in den 1970er Jahren an und erreichte unter Harold Wilson sogar 24 Prozent und der Klassenkampf verschärfte sich. Die Basis der Labour Party, die zu diesem Zeitpunkt noch von der Arbeiter*innenklasse dominiert wurde, schwenkte nach links. Die damals kleinen marxistischen Kräfte, die sich um Militant (die Vorgängerorganisation der Socialist Party) gruppierten, begannen, das Ohr einer wachsenden Zahl von Arbeiter*innen und Jugendlichen zu gewinnen.

Der Ölschock löste zwar die erste große Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit aus. Es ist jedoch ein Fehler, diesen Schock als Hauptursache für das Ende des Nachkriegsbooms zu sehen. Es gab bereits Anzeichen dafür, dass der Boom zu Ende geht und sich neue Widersprüche in der kapitalistischen Wirtschaft, die sich während der Wachstumsperiode angesammelt hatten, zuspitzen.

Ende des Nachkriegsaufschwungs

Das beispiellose Wachstum in der gesamten kapitalistischen Welt war 1970 bereits abgeklungen.

Die Arbeiterklasse hatte während des Aufschwungs durch Kämpfe und die wachsende Stärke der Gewerkschaften einen höheren Lebensstandard und wichtige Reformen wie den Wohlfahrtsstaat und ein staatliches Gesundheitswesen durchsetzen können.

Angesichts eines völlig anderen Kräfteverhältnisses in der Welt machten die Kapitalist*innen gute Gewinne und Zugeständnisse an die Arbeiter*innenklasse, die aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgekehrt war und keine Wiederholung von Armut und Arbeitslosigkeit der 1930er Jahre wollte.

Doch Ende der 1960er Jahre war die Zeit des anhaltenden Wachstums bereits vorbei, und die Bosse wehrten sich gegen die Forderungen der Arbeiter*innen. Besonders deutlich waren die Anzeichen in Großbritannien, wo die “Industriekapitäne” in den alternden Industrien sich geweigert hatten, in einem Umfang zu investieren, der es ihnen ermöglichte, international konkurrenzfähig zu bleiben. Da der Nachkriegsboom zu Ende ging, versuchten die Unternehmen zunehmend, die Arbeiter*innenklasse für den Abschwung zahlen zu lassen.

Der Klassenkampf hatte sich verstärkt. In Frankreich war 1968 eine revolutionäre Bewegung der Arbeiter*innenklasse kurz davor, den Kapitalismus zu stürzen.

Die Zahl der Streiktage in Großbritannien war von 1,8 Millionen im Jahr 1963 auf 11 Millionen im Jahr 1970 gestiegen, und zunehmend waren es Vertrauensleute in den Betrieben, die Kämpfe organisierten und nicht mehr die alte “konservative” Gewerkschaftsführung.

Und die Inflation nahm bereits zu. Die “keynesianische” Politik der Regierungen in der ganzen Welt, die im Wesentlichen darauf abzielte, Geld zu drucken, um das Wachstum anzukurbeln, hatte lange Zeit dazu beigetragen, das Wachstum aufrechtzuerhalten, aber dabei auch eine Inflationsspirale in Gang gesetzt.

Der Anstieg der von den Regierungen geschaffenen Geldmenge ging nicht mit einem Anstieg der Produktion einher, so dass mehr Geld für ein relativ kleineres Angebot an Waren ausgegeben wurde, was zu einem Anstieg der Preise führte. Die Inflation im UK war von einem Prozent im Jahr 1960 auf über neun Prozent im Jahr 1971 angestiegen.

Der Ölschock verstärkte einen Prozess, der in den kapitalistischen Volkswirtschaften bereits angelegt war.

Krise wird auf Arbeiter*innen abgewälzt

Wie immer versuchten die Bosse, die Arbeiter*innenklasse dazu zu zwingen, für die Krise des kapitalistischen Systems zu zahlen. Die alternde britische Industrie verlor Märkte, weil sie nicht in die Erneuerung von Maschinen und Produktionstechniken investierte.

Die aufstrebenden Volkswirtschaften Japans und Westdeutschlands investierten drei- bis viermal mehr als die britischen Kapitalist*innen und waren in der Lage, die Produktivität zu steigern und ihre Produkte billiger zu machen. Die Reaktion der britischen Kapitalist*innen war jedoch nicht, mehr zu investieren, sondern stattdessen zu versuchen, die Reallöhne zu drücken und die Ausbeutung der Arbeitskräfte zu intensivieren.

Für die Bosse war die Inflation bis zu einem gewissen Grad recht nützlich, um die Reallöhne zu drücken. Wenn die Löhne weniger stark stiegen als die Inflation, sank der Wert der Löhne und Gehälter der Arbeiter*innen, da die Preise stiegen. Doch die Angriffe der Bosse eröffneten eine neue Ära des industriellen Klassenkampfes, die bereits vor dem Ölschock begonnen hatte.

Streikwelle

Die Tory-Regierung unter Heath, die 1970 gewählt wurde, startete im Namen des britischen Kapitalismus eine Offensive gegen die Gewerkschaften. Sie eröffnete eine der größten Streikperioden in der britischen Geschichte, in der Bergarbeiter*innen, Hafenarbeiter*innen und Arbeiter*innen in der Autoindustrie eine Massenbewegung anführten, die Heaths gewerkschaftsfeindliche Gesetze aushebelte und seine Regierung zu Fall brachte.

Die vorherige Labour-Regierung unter Wilson hatte ebenfalls versucht, die Gewerkschaften im Namen des Kapitalismus mit ihrer berüchtigten “In place of strife” (Anstatt des Streits)-Politik zurückzudrängen, die jedoch nach einer Revolte der Labour-Mitgliedsgewerkschaften fallen gelassen wurde.

Die 1974 neu gewählte Labour-Regierung, die wiederum von Wilson und später von James Callaghan geführt wurde, versprach jedoch Reformen.

Unter dem Druck der herrschenden Klasse setze sie jedoch mittelfristig das Diktat der Kapitalist*innen und des Internationalen Währungsfonds um und versuchte, Lohnerhöhungen durchzusetzen, die weit unter der Inflationsrate lagen – wiederum mit dem Ziel, die Arbeiter*innen den Preis für die Inflationskrise zahlen zu lassen.

Eine weitere große Streikwelle einschließlich des “Winters der Unzufriedenheit” 1978/79 gipfelte in der Niederlage Callaghans und der Machtübernahme durch Margaret Thatcher.

Heute hat der enorme Anstieg der Öl- und Gaspreise zu einem erneuten Anstieg der Inflation geführt. Die Verknappung des Marktangebots infolge der Covid-Lockdowns und des Krieges in der Ukraine treibt die Ölpreise so stark in die Höhe, dass vier Millionen Haushalte in Großbritannien im nächsten Winter nicht mehr heizen können.

Während die Tory-Regierung und die herrschende Klasse versuchen werden, die Schuld auf die steigenden Öl- und Gaspreise zu schieben, ist die Inflation viel tiefer im System selbst verankert.

Neue Offensive der Bosse

Die Bosse werden unweigerlich versuchen, die Arbeiter*innen für die Inflationskrise zahlen zu lassen, so wie sie uns für die Finanzkrise 2008 und die darauf folgende Rezession zahlen ließen.

Sie werden die Strategiepapiere aus den 1970er Jahren wieder hervorholen und behaupten, dass die Löhne der Arbeiter*innen begrenzt werden müssen, um eine Inflationsspirale zu verhindern. Dies wird unweigerlich eine neue Phase gewerkschaftlicher Lohnkämpfe einleiten, in der die Arbeiter*innen darum kämpfen, sich über Wasser zu halten, während die Bosse ihre Profite verteidigen.

Es wird sich die Frage stellen, wer für die Inflation zahlen soll: die Arbeiter*innenklasse oder die Kapitalist*innen?

Und die kapitalistische Weltwirtschaft befindet sich heute in einer noch schwächeren Position als in den 1970er Jahren. Schon vor Covid verlangsamte sich die Weltwirtschaft in Richtung einer weiteren möglichen Rezession.

Und der Lebensstandard der Arbeiter*innenklasse in der ganzen Welt hat bereits einen schweren Schlag erlitten. Überall auf der Welt haben die Kapitalist*innen die Arbeiter*innen gezwungen, durch Sparmaßnahmen enorme Einbußen im Lebensstandard hinzunehmen.

In Britannien sind von 1980 bis heute jährlich fast 250 Milliarden Pfund vom kollektiven Vermögen der Arbeiter*innenklasse in die Taschen der Kapitalist*innen geflossen.

Heute werden die Löhne und Gehälter der Arbeiter*innen durch die zweistellige Inflation noch härter getroffen, und es wird ihnen nichts anderes übrig bleiben, als für höhere Löhne zu kämpfen, um ihren Lebensstandard zu halten.

Die Angst vor einer Inflation könnte die Zentralbanken dazu veranlassen, die Zinssätze zu erhöhen und möglicherweise eine neue Rezession auszulösen. Zusammen mit einem wahrscheinlichen Wirtschaftsabschwung, der sich aus der Stagflation ergibt, kündigt diese Krise eine neue Phase des Klassenkampfes an.