Großbritannien: Johnson geht – Tories in Aufruhr

Starmers Labour-Partei keine Alternative für Arbeiter*innen

Am Morgen des 13. Dezember 2019, als Großbritannien erwachte, um festzustellen, dass Boris Johnson mit einer erdrutschartigen Mehrheit zum Tory-Premierminister gewählt worden war, argumentierte die Socialist Party, dass “die scheinbare Stärke von Johnsons Regierung durch die kommenden Ereignisse erschüttert werden wird“. Im Jahr 1987 hatte Margaret Thatcher eine Mehrheit von 102 Sitzen im Parlament. Innerhalb von zwölf Monaten begann die Kampagne der Massenverweigerung gegen die Kopfsteuer, angeführt von Militant, der heutigen Socialist Party. Sie verwandelte die Eiserne Lady in Eisenspäne und zwang sie 1990 zum Rücktritt. Heute ist die Tory-Partei viel schwächer als damals. Sie ist erbittert gespalten, und Johnson konnte nur gewinnen, indem er sich von seiner eigenen Partei distanzierte und mit populistischer Rhetorik behauptete, er setze sich für ‘das Volk’ ein, was nicht der Wahrheit entspricht.

Jetzt, nur 31 Monate später, ist Johnson aus dem Amt gedrängt worden. Sein Rücktritt erfolgt vor dem Hintergrund des ersten landesweiten Bahnstreiks der Transportarbeiter*innengewerkschaft RMT, der die Kraft der Arbeiter*innenklasse demonstriert, sich gegen die Teuerungsrate zu wehren. Dieser landesweite Streik schloss sich einer wachsenden Flut entschlossener lokaler Aktionen an, und weitere landesweite Lohnstreiks in verschiedenen Sektoren, darunter Telekommunikation, Post, Lehrer*innen und andere, stehen bevor.

Erst vor zwei Wochen erklärte Johnson, dass es notwendig sei, “den Kurs beizubehalten” und der RMT die Stirn zu bieten, aber stattdessen verlässt er die Szene und führt in der Zwischenzeit den Vorsitz über eine Zombie-Regierung. Für alle Lohnabhängigen, die für eine Lohnerhöhung kämpfen, zeigt der Zusammenbruch der Regierung, dass diese besiegt werden kann. Durch koordinierte Streiks könnten inflationsgeschützte Lohnerhöhungen durchgesetzt und alle Tories aus dem Amt gedrängt werden.

In den 24 Stunden vor seiner Rücktrittszusage war Johnsons letzte Verteidigungslinie, dass sein Rücktritt nur zu einem Chaos in der Tory-Partei führen würde, dem wahrscheinlich in kurzer Zeit eine Parlamentswahl folgen würde, die eine Niederlage für die Tories bedeuten würde. Diesmal hat er die Wahrheit gesagt. Der verlogene, korrupte Charakter Johnsons und seiner Regierung ist kein Einzelfall, sondern spiegelt die Krankheit des britischen Kapitalismus und den langen, langsamen und unrühmlichen Niedergang seiner wichtigsten Partei wider: der Tories.

Natürlich war die kapitalistische Elite Großbritanniens nie ein homogener Block, und ihre Unterschiede – beispielsweise zwischen Industrie- und Finanzbossen – haben sich lange in der Tory-Partei niedergeschlagen. In der Vergangenheit war die Tory-Partei jedoch in der Regel äußerst erfolgreich bei der Vermittlung dieser Interessen, weitgehend hinter verschlossenen Türen und nicht vor den Augen der Arbeiter*innenklasse.

Heute gehen sie sich offen gegenseitig an die Gurgel. Wie es der Economist am 11. Juni formulierte: “Eine Partei, die rücksichtslos, pragmatisch und effizient war, ist jetzt feige, inkohärent und unfähig.” Das liegt nicht in erster Linie an den Persönlichkeiten der Tory-Politiker*innen, sondern daran, dass keine*r von ihnen einen Weg nach vorn aufzeigt. Die Wut der Masse der arbeitenden Bevölkerung und der Mittelschicht wächst angesichts der steigenden Inflation, die dazu führt, dass die Reallöhne bis April 2022 um durchschnittlich 4,5 Prozent sinken.

Die Verschuldung von Unternehmen, Regierungen und Privatpersonen ist auf einem Rekordhoch. Das Investitionsniveau ist niedrig. Die Exporte sind zurückgegangen. Es gibt keine kapitalistische Politik, die einen Weg zu gesundem Wachstum und steigendem Lebensstandard bietet. Das ist die eigentliche Ursache für den Zerfall der Tories.

Für eine sehr kurze Zeit konnte Johnson dank eines erfolgreichen populistischen Appells bei den Parlamentswahlen 2019 die Risse in der Tory-Partei überdecken. Als der Glanz der Wahlen von ihm abfiel, ging diese Zeit zu Ende und es kam erneut zu einem Bürger*innenkrieg, der damit endete, dass innerhalb von 24 Stunden 4 Minister*innen zurücktraten, die versuchten, Johnson zum Rücktritt zu zwingen. Einige, wie die derzeitige Bildungsministerin Michelle Donelan, waren weniger als zwei Tage im Amt, bevor sie zurücktraten. Für ihre 35 Stunden Kabinettszugehörigkeit erhält sie aber immer noch 17.000 Pfund!

Uneinigkeit über den nächsten Regierungschef

Jetzt, da Johnson mit Füßen getreten wurde, wünscht sich die Kapitalist*innenklasse verzweifelt, dass sich die Tories auf eine*n Kandidaten oder eine Kandidatin einigen, auf welche*n sie sich verlassen können, dass er/sie in ihrem Sinne handelt, und welche*r so schnell wie möglich eingesetzt werden kann. Sie wissen jedoch, dass die Chancen, dies zu erreichen, sehr gering sind.

Die Einigkeit um Johnson wurde nur erreicht, weil alle Teile der Kapitalist*innenklasse und alle Flügel der Tory-Partei verzweifelt versuchten, den damaligen linken Führer der Labour-Partei, Jeremy Corbyn, daran zu hindern, eine Parlamentswahl zu gewinnen. Jetzt, da diese Gefahr gebannt ist und Labour von Starmer – einem prokapitalistischen Blair-Politiker – angeführt wird, gleichen die Tories wieder Katzen, die in einem Sack kämpfen.

Die Financial Times brachte die Verzweiflung der Kapitalist*innenklasse auf den Punkt, als sie zu dem Schluss kam, dass der Ausweg aus dem Chaos darin bestünde, “den langwierigen Prozess der Ausschreibung der Abstimmung an alle Parteimitglieder abzuschaffen” – mit anderen Worten, die Demokratie in der Tory-Partei abzuschaffen und die Entscheidung darüber, wer sie führen soll, den Tory-Abgeordneten zu überlassen. Sicherlich ist es richtig, dass die Tory-Partei mit ihren nur etwa 120.000 Mitgliedern – im Vergleich zu drei Millionen in ihrer Blütezeit – nicht in der Lage ist, einen Kandidaten oder eine Kandidatin zu wählen, welche*r verlässlich für den britischen Kapitalismus eintritt, und auch auf die tief gespaltene Parlamentsfraktion kann man sich nicht verlassen.

Während seiner Zeit als Premierminister agierte Johnson wiederholt als “Poundland Trump”. Er war bereit, die Institutionen des britischen Kapitalismus ernsthaft zu untergraben, indem er zum Beispiel das Parlament 2019 vorläufig auflöste, während er fälschlicherweise behauptete, für “das Volk” zu handeln. In den letzten Tagen seiner Amtszeit war er auch bereit, die Tory-Partei zu sprengen, indem er sich weigerte zurückzutreten und versuchte, allgemeine Wahlen auszurufen. Am Ende musste er diese Strategie aufgeben, weil er bei den Abgeordneten keine Unterstützung für diese Trump-Strategie fand.

Der Hauptgrund dafür, dass selbst der rechtspopulistischste Flügel der Tory-Partei diesen Weg nicht einschlagen wollte, war, dass der “Populist” Johnson (der nie wirklich populär war – Theresa Mays anfängliche persönliche Umfragewerte waren höher als die, die Johnson jemals erreichte) nun beim besten Willen nicht mehr populär ist. Im Gegenteil, die jüngsten Nachwahlen zum Parlament zeigen, wie sehr er verhasst ist. Bevor er schließlich zurücktrat, forderte eine klare Mehrheit der Tory-Wähler*innen, dass er gehen solle.

In seiner Rücktrittsrede setzte Johnson jedoch seinen populistischen Ansatz fort, indem er sich auf das Mandat der 14 Millionen Tory-Wähler*innen von 2019 berief und gleichzeitig die “Exzentrizität” der Tory-Abgeordneten beschimpfte, die ihn im Stich gelassen hätten. Auch Johnsons Abgang wird nicht das Ende der Tory-Version des Trumpismus bedeuten. Die Tories sind nicht in zwei – oder gar drei oder vier – klar umrissene Blöcke gespalten, sondern befinden sich in einem Prozess der Zersplitterung auf vielfältige Weise. Nichtsdestotrotz ist der rechtspopulistische Flügel immer stärker geworden. Es ist möglich, dass Johnson durch eine*n Kandidat*in ersetzt wird, der/die die Tory-Getreu*innen mit einer “Johnson’schen” Politik anspricht. Dazu könnten Steuersenkungen gehören, aber auch, vor dem Hintergrund der wachsenden Wirtschaftskrise, weitere staatliche Interventionsmaßnahmen. Eine solche “fiskalische Inkontinenz”, wie der Economist sie beschreibt, könnte leicht dazu führen, dass die Finanzmärkte das Pfund angreifen und sich die kapitalistische Wirtschaftskrise verschärft.

Unter diesen Umständen könnten die Überbleibsel der sogenannten “One-Nation”-Tories der alten Schule durchaus beschließen, im Interesse ihrer Klasse zu handeln und ihre Partei aufzugeben. Mitten in der Brexit-Krise wählten Leute wie Michael Heseltine die Liberaldemokrat*innen. Das war, als Corbyn Labour führte. In jüngster Zeit machten Gerüchte die Runde, dass ein Block von sechs Tory-Abgeordneten zur Labour-Partei wechseln würde. Natürlich ist das während eines Wahlkampfs um die Parteiführung nicht zu erwarten, aber je nach Ergebnis könnte es in noch größerem Umfang geschehen. Umgekehrt würde ein “One-Nation”-Tory, der/die es irgendwie schafft, die Führung der Torys zu gewinnen, vom ersten Tag an mit einer offenen Meuterei der Populist*innen rechnen müssen.

Labour sicher für kapitalistische Interessen

In einem Punkt bleibt die Tory-Partei jedoch geeint. Sie verteidigt das kapitalistische System und erwartet, dass die Menschen der Arbeiter*innenklasse für dessen Versäumnisse bezahlen. Was sagt es über Starmers Labour-Partei aus, dass sie fröhlich Leute wie den Abgeordneten Christian Wakeford begrüßen kann, der im April diesen Jahres direkt von den Tory-Bänken zur Labour-Partei übergetreten ist, während ihr früherer linker Führer, Jeremy Corbyn, nicht als Labour-Abgeordneter fungieren darf? Leider ist die Antwort einfach. Auch Starmers Labour vertritt die Interessen der kapitalistischen Elite und nicht die der Mehrheit der Arbeiter*innenklasse. Wie der Economist am 11. Juni schrieb: “Wenn konservative Abgeordnete sich über die Gefahren des Corbynismus beschweren, kann Sir Keir Starmer sagen, dass er von ganzem Herzen zustimmt. Er hat die Partei von Linken gesäubert, und zwar mit der Brutalität, die man früher mit den Konservativen assoziierte.“

Die Arbeiter*innenbewegung muss daraus die Konsequenzen ziehen. Erstens die Notwendigkeit, koordinierte Streiks sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor zu organisieren, um inflationsgeschützte Lohnerhöhungen zu erreichen. Die derzeitige Regierung ist schwach und kann besiegt werden. Wenn sie aus dem Amt gezwungen wird, wäre das ein Sieg für die Arbeiter*innenklasse.

Wir dürfen uns jedoch nicht dem Hirngespinst hingeben, dass das Warten auf eine Labour-Regierung, die im Interesse der Arbeiter*innen handelt, eine Lösung ist. Als der Schattenaußenminister von Labour sich weigerte, einen Streik zu unterstützen, weil es der Labour-Partei “ernst damit ist, in der Regierung zu sein”, sagte er alles darüber, wie die Labour-Partei in der Regierung handeln würde, um kapitalistische Interessen zu verteidigen. Wenn die Tories zusammenschmelzen und Labour vor dem Hintergrund einer wachsenden Streikwelle an die Macht kommt, wäre die Arbeiter*innenklasse in einer starken Position, um für die Verbesserung ihres Lebensstandards zu kämpfen, hätte es aber immer noch mit einer Regierung zu tun, die die Interessen der kapitalistischen Elite vertritt.

Daraus ergibt sich auch die dringende Notwendigkeit für die Arbeiter*innenbewegung, mit dem Aufbau einer eigenen politischen Partei zu beginnen. Wir brauchen Abgeordnete in Westminster, die dem wachsenden industriellen Kampf eine Stimme geben können. Anstatt auf ein zukünftiges Zeitpunkt zu warten, um dieses Problem in Angriff zu nehmen, sollte die Arbeiter*innenbewegung jetzt die ersten Schritte unternehmen, einschließlich der Vorbereitung der Aufstellung von Kandidat*innen für die nächsten Parlamentswahlen.

Johnsons Vorhersage, dass die nächste Regierung wahrscheinlich eine “Chaos-Koalition” sein wird – wie z.B. Starmer, der eine pro-kapitalistische Minderheitsregierung vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise anführt – ist wahrscheinlich. Die Gewerkschaften müssten sich organisieren, um für die Interessen der Lohnabhängigen gegen eine solche Regierung zu kämpfen. Diese Aufgabe würde erheblich gestärkt werden, wenn es einen Block von Abgeordneten einer Arbeiter*innenpartei gäbe, die kämpferische Gewerkschafter*innen vertritt. Wenn eine solche Partei für eine sozialistische Politik kämpft – beginnend mit der Verstaatlichung von Energie, Bahn, Post und Telekommunikation unter demokratischer Arbeiter*innenkontrolle, dem massiven Bau von Sozialwohnungen und einem Mindestlohn von 15 Pfund pro Stunde – könnte sie schnell die Unterstützung der Massen gewinnen.