Sri Lanka: Massen stürmen Präsidentenpalast

Stellungnahme der Vereinigten Sozialistischen Partei

Am 9. Juli wurde in Sri Lanka ein historischer Tag begangen, an dem die Massen entscheidend in die Geschichte eingingen. Menschen aus dem ganzen Land strömten in die Hauptstadt Colombo, um ihre Stimme laut und deutlich zu erheben. Die Menschen kamen und kamen, und sie kamen immer wieder.

Von TU Senan, Internationales Sekretariat des Komitees für eine Arbeiter*inneninternationale


Der 9. Juli wurde von den Protestführer*innen als Tag gewählt, um den berüchtigten Präsidenten Gotabaya Rajapaksa (Spitzname Gota) loszuwerden. Die Massenbewegung, die infolge der Lebenshaltungskostenkrise ausgebrochen war, erreichte ihren Höhepunkt am 9. Mai – dem Tag, an dem Premierminister Mahinda Rajapaksa zum Rücktritt gezwungen wurde. Er organisierte einen Angriff auf die Demonstrant*innen, bevor er sein Amt aufgab. Diese Peitsche der Konterrevolution hatte den ersten Ausbruch der Wut ausgelöst – über hundert Häuser von Parlamentsabgeordneten wurden niedergebrannt. Das Establishment reagierte darauf und kooptierte den ehemaligen Premierminister und rechtsgerichteten Führer der United National Party (UNP), um den Platz von Mahinda zu besetzen.


Dies führte zu einer gewissen Zersplitterung der Bewegung. Dennoch setzte die “Gota Go Gama”-Besetzung ihren Protest fort. Diese Fortsetzung, wenn auch auf niedrigem Niveau, führte dazu, dass am 9. Juni ein weiterer Rajapaksa abgesetzt wurde, der berüchtigte Basil Rajapaksa, der auf undemokratische Weise zum Finanzminister ernannt wurde.
Doch die Familie Rajapaksa tut weiterhin so, als hätte sie nichts falsch gemacht, und weigerte sich, das wichtige Amt des Präsidenten aufzugeben. Basil hat erklärt, dass er bald zurückkehren wird. Alle Parlamentarier haben die enorme Wut und den Hass, die sich im ganzen Land entwickelt haben, völlig unterschätzt. Trotz vieler Hindernisse herrschte die einhellige Meinung, dass der 9. Juli das Ende von Gotabaya und der gesamten Familie Rajapaksa bedeuten sollte.
Die Rajapaksa-Familie hat alles in ihrer Macht Stehende getan, um ihre Herrschaft fortzusetzen. Sie sorgte für zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen an wichtigen Orten wie dem Amtssitz des Präsidenten, dem Präsidialsekretariat und Temple Tree (dem Amtssitz des Premierministers). Die staatlichen Nachrichtendienste hatten zusammen mit der Polizei begonnen, wichtige Aktivist*innen zu verhaften. Es wurden verschiedene repressive Maßnahmen ergriffen. Auch in den regierungsfreundlichen Medien wurde eine staatlich geförderte Propaganda entfesselt.
Wieder einmal sah es so aus, als hätte Gota die Kontrolle über das Parlament zurück gewonnen. Die Mehrheit der Parlamentarier*innen fürchtete die Bewegung und stellte sich hinter Gota. Am 9. Juli sah es so aus, als hätte Gota dem Druck standgehalten. Als letzter Ausweg wurden indirekte Drohungen ausgesprochen und in der Nacht vor dem Protesttag eine Ausgangssperre verhängt. Aber nach der breiten Verurteilung und der Entschlossenheit derjenigen, die den Protest am 9. Juli unterstützten, wurde die Ausgangssperre am Morgen aufgehoben.
Ein Streik der Transportarbeiter wurde ebenfalls abgesagt, um den Protestierenden die Fahrt nach Colombo zu ermöglichen. Für diejenigen, die sich die Reise nicht leisten konnten, zahlten andere. An einigen Orten sponserten auch kleine Unternehmen Fahrkarten. Schließlich strömten die Menschen mit Zügen und Bussen in die Hauptstadt. Alle hatten nur ein Ziel vor Augen: Gota loswerden.
Mit diesem Ziel vor Augen marschierten Zehntausende zum Haus des Präsidenten und zum Temple Tree und sahen sich mit mehreren Barrikaden konfrontiert, die von der Polizei, Sondereinsatzkräften und der Armee errichtet worden waren. Nicht nur eine, sondern viele hintereinander. Die Massen drängten durch sie hindurch. Die Armee feuerte mit scharfen Kugeln auf die Demonstrant*innen. Ein paar Demonstrant*innen wurden vor dem Haus des Präsidenten erschossen und später für tot erklärt. Die Demonstrant*innen sahen sich gewalttätigen und brutalen Angriffen von Sondereinsatzkommandos und der Polizei ausgesetzt. Aber selbst das reichte nicht aus, um sie aufzuhalten.

Zu diesem Zeitpunkt war auch klar, dass die Soldaten nicht bereit waren, Massenmorde zu riskieren, nur um den Präsidenten zu schützen. Angesichts der Ereignisse vom 9. Mai fürchteten alle die Massenbewegung und die Folgen, wenn sie sich entschließen würden, gegen sie vorzugehen.
Als die Massen schließlich in die Residenz des Präsidenten eindrangen, war diese leer. Gotabaya war im Vorfeld heimlich geflohen, und während wir diese Zeilen schreiben, ist sein Aufenthaltsort immer noch nicht bekannt. Es wird berichtet, dass viele Mitglieder seiner Familie inzwischen heimlich das Land verlassen haben. In den sozialen Medien kursierten einige Videos, die zeigten, wie einige Gotabaya-Anhänger zu einem Schiff rannten. Viele Beamte der Einwanderungsbehörde am Flughafen kündigten außerdem an, dass sie jeden Versuch der Familie Rajapaksa, das Land über den Flughafen zu verlassen, blockieren würden. Durch ihre lokalen Verbindungen zu Armee und Marine gelang es der Familie Rajapaksa, eine geheime Rettungsmöglichkeit zu finden.
Der von den Demonstrant*innen geforderte sofortige Rücktritt wurde vom Präsidenten ignoriert, der sie als “Extremisten” abtat. Er und der Premierminister erklärten, sie würden “ihren Rücktritt in Betracht ziehen”. Schließlich sah sich Gota gezwungen, seinen Rücktritt zu akzeptieren – aber selbst dann verschob er ihn auf den 13. Juli.

Premierminister Ranil Wikramasinge hingegen behauptete, er werde nicht zurücktreten, bevor eine neue Regierung gebildet sei. Auch er geriet mit Journalist*innen und Demonstrant*innen aneinander. Kurz darauf wurde eine seiner Privatresidenzen in Brand gesetzt. Es ist anzumerken, dass der Hauptprotest friedlich verlief. Obwohl viele den Temple Tree und andere Wohnhäuser gestürmt haben, wurden diese Gebäude nicht beschädigt. Es gab keine Berichte über Plünderungen. In der Residenz des Präsidenten fanden die Demonstrant*innen außerdem rund 18 Millionen Rupien in bar. Um jeden Vorwurf der Plünderung zu vermeiden, zählten die Demonstranten das Geld und übergaben es der Regierung.

Die Demonstrant*innen haben sich über den gefälschten Rücktritt von Gotabaya hinweggesetzt und ihre Besetzung des Temple Tree fortgesetzt. Sie haben erklärt, dass die Besetzung so lange andauern wird, bis der Präsident zurücktritt und für immer verschwindet. Der Temple Tree ist inzwischen zu einem Museum geworden. Zehntausende von Menschen besuchen ständig diesen Palast, um sich einen Überblick über das prunkvolle Leben zu verschaffen, das diese Beamten führten, während man sie zum Hungern aufforderte. Diese Orte, die eigentlich öffentliche Ämter sein sollten, werden hinter großen Toren geheim gehalten und stark geschützt, um normale Menschen fernzuhalten. Dies ist das erste Mal, dass die verarmte Bevölkerung die Möglichkeit hat, einen Blick darauf zu werfen. Einige haben sogar Videos von Hausbesichtigungen in den sozialen Medien veröffentlicht.
Nach dieser Krise hatten westliche Regierungen und Indien auf eine schnelle Lösung gedrängt – die frei gewordenen Posten mit anderen Parlamentariern zu besetzen und eine Allparteienregierung der nationalen Einheit zu bilden. Dies wird von der Massenbewegung, die den Rücktritt der gesamten Regierung fordert, natürlich kategorisch abgelehnt.
Einige, die die Bewegung unterstützen und bisher daran teilgenommen haben, haben die Bildung einer Übergangsregierung gefordert. Die Vereinigte Sozialistische Partei (USP), die srilankische Sektion des Komitees für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI), vertritt die Auffassung, dass die Interimsregierung, selbst wenn sie nur sehr kurzfristig eingesetzt wird, nicht im Namen der kämpfenden Massen handeln wird. Nachstehend die Erklärung, die USP veröffentlicht hat:

Erklärung der Vereinigten Sozialistischen Partei (CWI Sri Lanka)


Eine gewaltige Massenbewegung, wie sie das Land noch nie gesehen hat, hat nun das korrupte kapitalistische Parlament außer Kraft gesetzt. Das Versprechen des Rücktritts des Präsidenten und des Parlaments ist nicht genug. Viele haben instinktiv verstanden, dass der Präsident versucht, Zeit zu gewinnen, um sich zu erholen oder sogar neu zu formieren. Daher hat die Bewegung richtigerweise beschlossen, die Besetzung des Temple Tree fortzusetzen, bis der Präsident zurücktritt und geht.
Alle Teile des alten Regimes und der herrschenden Klasse müssen zurückgewiesen werden. Der Westen, Indien und andere imperialistische Mächte arbeiten bereits mit ihren lokalen Verbündeten zusammen, um auf eine Art Allparteienregierung zu drängen, damit die Grundlagen des Systems und damit ihr Griff nach der Macht erhalten bleiben. Sie versuchen, “alte, korrupte” Politiker als “neue” neu zu erfinden.
Keiner von ihnen hat eine Vorstellung davon, wie die aktuelle Krise aus der Sicht der kämpfenden Massen angegangen werden kann. Bis zum 9. Juli haben sich die meisten von ihnen mit Gotabaya und Ranil zusammengetan und akzeptiert, dass es keinen anderen Weg gibt, als hart gegen die Arbeiter*innen, die Jugend und die Armen vorzugehen. Sie arbeiten alle zusammen, um das Land und die Ressourcen des Landes an Geier-Kapitalisten zu verkaufen, um ihre Taschen weiter zu füllen.
Was hat sich jetzt geändert? In welcher Hinsicht haben sie sich verändert? Bringen sie jetzt etwas anderes vor? Sie sind Feinde des Volkes. Aus diesem Grund werden sie jetzt von den Massen entmachtet. Warum sollte man ihnen die Macht zurückgeben, um sie wiederzubeleben?  Aber es geht nicht nur darum, die alten Führer abzusetzen. Es gibt “neue” Politiker*innen, die nur darauf warten, dass sie an der Reihe sind, die Macht in die Hand zu nehmen.
Sri Lanka braucht eine neue Zukunft. Der Vorschlag einer Interimsregierung mit dem Ziel, diesen Volksfeinden die Macht zurückzugeben – oder sogar die Macht zu teilen – kann ihnen nur helfen, sich zu erholen. Die Mitglieder der Elite, die noch nicht weggelaufen sind, sprechen jetzt von “Einheit” und einer “Allparteienregierung”. Ja, wir wollen die Einheit, die Einheit der arbeitenden, armen und ausgebeuteten Massen, um eine bessere Zukunft zu gewinnen, aber nicht die “Einheit” mit den Ausbeutern und Unterdrückern! Es gibt eine Alternative, die Massen haben Macht gezeigt, und diese Macht kann außerhalb der Mauern von Parlament und Temple Tree koordiniert und organisiert werden.
Lasst uns weiterhin Komitees in den Betrieben, in den Städten und in jedem Dorf aufbauen und sie stärken. Sie sollten sofort die demokratische Verteilung der Güter an die Bevölkerung organisieren. Diese Gremien können ihre Vertreter*innen in ein nationales Gremium entsenden. Bilden wir aus diesen Gremien die Nationalversammlung. Dieses Interimsgremium kann auch die Kontrolle über die staatlichen Angelegenheiten übernehmen – und gleichzeitig die demokratische Wahl einer revolutionären verfassungsgebenden Versammlung vorbereiten. Sie wird wirklich die Bestrebungen aller Teile der Gesellschaft widerspiegeln.

Eine Übergangsregierung muss nicht zwangsläufig Elemente des alten Regimes in sich tragen. Sie muss auch nicht aus korrupten kapitalistischen Politiker*innen bestehen. Sie kann sofort von demokratisch gewählten Vertreter*innen der Gewerkschaften, den Führer*innen der Aragaliya (Kampf), den Führer*innen der Bauern und Bäuerinnen und den sozialistischen Aktivist*innen, die gemeinsam mit den Massen kämpfen, gebildet werden und ist dann einer Nationalversammlung der Komitees rechenschaftspflichtig.
Dieses Gremium wird die Forderungen der Aragaliya umsetzen und sich von dort aus weiterentwickeln. Wenn eine Interimsregierung aus alten Elementen besteht, wird ihr Hauptziel nicht darin bestehen, die Forderungen der Massen zu erfüllen, sondern vielmehr darin, Zeit zu gewinnen, damit sich die Vertreter*innen der herrschenden Klasse umgruppieren und neu erfinden können – und damit letztendlich die Kernforderungen der Massen zu vereiteln.
Sie mögen in dieser Phase zu einigen Zugeständnissen bereit sein, nachdem sie gesehen haben, was die Massen tun können. Aber es wird nicht in ihrem Interesse sein, die Forderungen vollständig zu erfüllen. Wir sollten den korrupten Leichen nicht wieder Leben einhauchen, indem wir sie in das Übergangsgremium zurückbringen.
Wir müssen den sofortigen Erlass aller Schulden fordern – die Rückzahlung der Makroschulden muss sofort eingestellt werden. Die Kapitalisten, die ihren Reichtum mitnehmen und sich heimlich aus dem Staub machen, müssen ebenfalls gestoppt werden. Wir müssen den geplünderten Reichtum sofort konfiszieren und strengere Kapitalverkehrskontrollen einführen, als es jetzt der Fall ist. Allein durch diese Maßnahmen würden genügend Geld und Ressourcen zur Verfügung stehen, um die unmittelbare Knappheit an Lebensmitteln, Treibstoff und anderen lebenswichtigen Gütern zu bewältigen. Es sollten sofort Notfallplanungsausschüsse eingerichtet werden, um einen wirtschaftlichen Notfallplan umzusetzen.
Wir appellieren an alle Kämpfenden, die Allparteien-Koalition abzulehnen, die aus dem bestehenden Parlament und anderen pro-kapitalistischen Kräften gebildet wird. Selbst wenn versucht wird, Vertreter*innen der Protestbewegung in die Übergangsregierung einzubeziehen, müssen wir uns fragen: Welche Macht wird uns gegeben? Welche Rolle werden wir spielen? Stimmt das Parlament den Forderungen, die wir vorgebracht haben, voll zu? Wir dürfen keinen Kompromiss eingehen, der eine Einheitsregierung als Deckmantel für den Versuch benutzt, das kapitalistische System aufrechtzuerhalten, das die Menschen in Sri Lanka und Milliarden auf der ganzen Welt im Stich gelassen hat.

In Solidarität mit der Massenbewegung in Sri Lanka wurde auch in London ein Protest von Tamil Solidarity organisiert. Fast 100 Tamilen, Singhalesen und Muslime nahmen an dem Protest vor der srilankischen Botschaft am 9. Juli teil – zur gleichen Zeit wie der Protest in Sri Lanka

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