Vier Tote durch Polizeieinsätze in einer Woche
In den letzten sieben Tagen wurden in Frankfurt/Main, Dortmund, Oer-Erkenschwick und Köln Menschen bei Polizeieinsätzen getötet. Die Opfer gehören zu den ausgrenzten Teilen der Bevölkerung: obdachlos, geflüchtet, arm.
In Dortmund traf es einen 16-jährigen Geflüchteten aus dem Senegal, der angeblich mit einem Messer bewaffnet war. Er wurde mit einer Maschinenpistole durchlöchert. Fünf Schüsse trafen ihn. In Köln widersetzte sich ein Mieter seiner Zwangsräumung und wurde erschossen.
Diese Polizeiwillkür muss ein Ende haben! Wir fordern unabhängige Untersuchungskommissionen durch Gewerkschaften, Mieter*innen- und Migrant*innenorganisationen und Nachbarschaftsvertreter*innen und demokratische Kontrolle über die Polizeitätigkeit durch gewählte Vertreter*innen aus der Arbeiter*innenklasse.
Wir veröffentlichen hier einen Text eines Kölner Sol-Mitglieds zur Erschießung des Mieters im Rahmen der Zwangsräumung und einen Text zur Rolle des Staats im Kapitalismus aus dem jahr 2017 des Sol-Bundessprechers Sascha Staničić.
My Job right now is eating these doughnuts(*)
Wieder erschüttert ein Skandal der Kölner Polizei nicht die Stadt. Bei einer Zwangsräumung erschießt ein Beamter, der zur Unterstützung des Gerichtsvollziehers im Einsatz ist, den Mieter.
Von Johannes Bauer, Köln
Wir lehnen jeden einzelnen Teilaspekt dieses Vorgangs ab. Alle beteiligten Stellen haben versagt und müssen dafür angeklagt werden. Wir lehnen Zwangsräumungen ab. Wir lehnen Privateigentum an Mietwohnungen ab. Wir sprechen dem Staat das Recht ab, Menschen auf die Straße zu setzen. Innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft sind die Rechtsgrundlagen für diese Maßnahmen so geregelt, dass die Eigentümer*innen der Wohnungen, also extrem privilegierte Menschen, gegenüber den Mieter*innen begünstigt werden. Das ist geltendes Recht, aber nicht gerecht.
Im aktuellen Fall hat ein Beamter den Mieter, der sich der Räumung widersetzte, in die Brust geschossen. Der Mann starb. Angeblich war der Mieter mit einem Messer bewaffnet. Die Kölner Boulevardpresse gab der Vorgehensweise der Polizei Schützenhilfe und bezeichnete den Mieter als bekannten Randalierer und Ruhestörer. Das ist völlig inakzeptabel. In dieser Gesellschaft ist es immer weiter möglich, einen einzelnen Menschen individuell für seine Lebenssituation haftbar zu machen. Wer es nicht schafft, sich ein privilegiertes Leben zu erkämpfen oder sich eine halbwegs gesicherte Existenz aufzubauen, muss eben damit rechnen, auf der Straße zu landen, oder erschossen zu werden. Wer unbequem wird, wer sich widersetzt oder wer durch die Lebensumstände krank wird, hat keinen Schutz zu erwarten, sondern Verfolgung – eventuell bis zum Tod. Ein Ruhestörer oder Randalierer im Haus kann unangenehm sein. Jeder halbwegs kluge Mensch weiß aber auch, was es heißt, dass ein Nachbar durchdreht. Man ist selbst nur eine Tür, ein Stockwerk von einem Menschen entfernt, der es nicht gepackt hat. Was stand bei ihm am Anfang der Abwärtsspirale? Jobverlust? Krankheit? Beziehungsprobleme? Wer in einem Wohnsilo lebt, wer es nicht wenigstens zur Eigentumswohnung oder dem Haus geschafft hat, wer zusammen zuckt, wenn die Waschmaschine ein seltsames Geräusch macht, weil man sich nicht ohne weiteres eine neue leisten kann, ohne ein paar enge Monate zu haben, der weiß, dass er selbst nur einen schmalen Graben von einer kritischen, prekären Lebenssituation entfernt ist.
Die Kölner Polizei ist eine Großbehörde, die jedes Jahr für mindestens einen Skandal gut ist. Immer und immer wieder spielt dabei unangemessene Gewaltanwendung gegen wehrlose oder unbeteiligte Menschen, gegen Migrant*innen oder gegen Menschen in emotionalen oder psychischen Ausnahmesituationen eine Rolle. Dass in der Behörde etwas gewaltig schiefgeht zeigen auch Vorfälle, in denen Beamte sich gegenseitig mit ihren Schusswaffen töten, im Training, im Spiel. Der Kölner Polizeieinsatz zeiht wie unter einem Brennglas die Funktion der Polizei im Kapitalismus: die bestehenden Eigentumsverhältnisse, also das Privateigentum an Grund und Boden und an Unternehmen zu schützen.
Polizeitätigkeit ist eine besonders verantwortungsvolle Aufgabe. Sie beinhaltet Eingriffe in Persönlichkeitsrechte. Die Menschen, welche solche Tätigkeiten ausführen, müssen emotional stabil und belastbar sein. Sie müssen sich in besonderer Weise an Regeln halten und den Schutz der Menschen, gegen die sie intervenieren als höchsten Auftrag ansehen. Wir fordern Einblick in die Arbeit der Polizei. Polizeiarbeit muss unter Kontrolle der Organisationen der Arbeiter*innenklasse, von Gewerkschaften, Nachbarschaftskomitees und Bürgerrechtsanwält*innen stehen, um die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu gewährleisten, Korpsgeist aufzudecken und anderen Wildwuchs und Missbrauch in der Behörde zu begrenzen. Die Polizei verfügt über herausragende Überlegenheit gegenüber einem einzelnen renitenten Menschen. Die Polizei kann sich immer eine Überzahl schaffen. Sie verfügt über Schutzausrüstung und Hilfsmittel aller Art, um sich vor einzelnen bedrohlichen Menschen zu schützen. Die Verantwortung für die Eskalation und den Ausgang dieser Aktion liegt allein bei der Polizei.
Wir fordern für Polizist*innen jederzeit barrierelosen Zugang zu psychologischer und persönlicher Betreuung, sowie die Möglichkeit, sich anonym über Missstände zu beschweren und Einsätze zu verweigern, ohne disziplinarisch belangt zu werden. Die Ermittlung der genauen Todesumstände liegt jetzt in den Händen der Polizei Bonn. Wir haben kein Vertrauen in eine Aufklärung und Ahndung von Fehlverhalten durch eine andere Polizeibehörde. Ein Mensch ist tot. Tod durch Armut.
(*)Body Count, Smoked Pork
Was ist der Staat?
Auszug aus der Broschüre „Sicherheit statt Kapitalismus“ von Sascha Staničić
In der Schule lernen wir, der der Staat “seien wir alle”, weil wir ja in einer Demokratie leben. Wenn wir aber Erfahrungen mit dem Staat machen, dann haben wir selten das Gefühl, dass wir Teil davon sind. Ob gegenüber der Polizei, vor Gericht, auf dem Amt – in der Regel machen wir die Erfahrung mit einem abgehobenen, undurchschaubaren, autoritären Apparat konfrontiert zu sein.
Das soll so sein, denn der Staat ist von der Masse der Bevölkerung separiert. Das wird schon in dem Begriff des “staatlichen Gewaltmonopols” deutlich, der vorsieht, dass (bei wenigen staatlich geregelten Ausnahmefällen) nur von staatlichen Organen Gewalt ausgehen oder Recht gesprochen werden darf.
MarxistInnen sprechen davon, dass der Staat in letzter Instanz aus besonderen Formationen bewaffneter Menschen besteht, also Polizei, Armee, Gefängnisaufsehern etc., die Gefängnisse und andere Zwangsanstalten zu ihrer Verfügung haben. Aufgabe des Staates ist es, die Einhaltung von “Gesetz und Ordnung” zu gewährleisten. Dazu hat er RicherInnen zur Verfügung, die Zwangsmaßnahmen anordnen können, PolizistInnen, die diese durchsetzen und Gefängnisse, die im Zweifelsfall dazu dienen, Menschen aus dem Verkehr zu ziehen, die die bestehende Ordnung (vermeintlich) gefährden.
Viele der staatlichen Aufgaben erscheinen nötig und sinnvoll. Gewalttäter müssen bestraft und ggf. aus dem Verkehr gezogen werden. Es muss Regeln des Zusammenlebens und -wirtschaftens geben. Außerdem sorgt der Staat doch auch für Sozialleistungen, das Bildungs- und Gesundheitswesen etc.
Das stimmt. In diesem Sinne gibt es eine duale Funktion des bürgerlichen Staates – einerseits als Repressionsinstrument, andererseits als “Sozialstaat” und Verwaltungsorgan. Der “Sozialstaat” wurde durch die Arbeiterbewegung erkämpft und war ein Zugeständnis der Herrschenden an die stärker und für diese bedrohlich werdende sozialistische Bewegung im 19. und 20. Jahrhundert. Der kapitalistische Staat hat hier Verwaltungsaufgaben übernommen, die nicht zwangsläufig durch ihn organisiert werden müssen (so sind ja die Sozialversicherungen formell unabhängig vom Staat organisiert, in manchen Ländern werden diese sogar direkt durch die Gewerkschaften organisiert).
In letzter Instanz bleiben vom Staat aber Polizei, Armee, Gerichte, Gefängnisse übrig. Das sind die Organe, die die Staatsmacht ausmachen und aufrecht erhalten. Sie scheinen über den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, insbesondere über den Klassen der Kapitalisten und der Lohnabhängigen, zu stehen. MarxistInnen gehen aber davon aus, dass in einer kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft auch der Staat einen kapitalistischen Charakter hat und letztlich die Klasseninteressen der KapitaleignerInnen vertritt. Das tritt immer dann offen zu Tage, wenn es zu Bewegungen kommt, die das Eigentum und die Macht dieser KapitalbesitzerInnen in Frage stellen könnten. Das ist bei sozialen Protestbewegungen und Streiks der Fall: Egal, ob bei der Bewegung gegen die Arbeitsmarktreform in Frankreich 2016, Protesten gegen Castor-Transporte oder G20-Gipfel in Deutschland oder Streiks von Bergarbeitern in Südafrika.
Die Demokratie im kapitalistischen Staat ist eingeschränkt und formell. Parlamente werden alle paar Jahre gewählt und durch vielfältige Wege und Mittel sind die etablierten Parteien der kapitalistischen Marktwirtschaft verpflichtet. Richter und Polizeipräsidenten werden in Deutschland eingesetzt und sind nicht direkt durch die Bevölkerung wähl- oder abwählbar. Es existiert eine sich selbst reproduzierende Staatselite, die weitgehend aus Menschen besteht, die aus der besitzenden Klasse kommen oder in sie emporgestiegen sind und durch unterschiedliche Dinge mit ihr verwoben ist.
Daraus ergibt sich die Erkenntnis, dass der bürgerliche Staat ein Gegner der Arbeiterklasse und ein Hindernis bei der Durchsetzung ihrer sozialen und politischen Interessen ist. Je stärker dieser ist, desto schwerer wird es also sein, die gesellschaftlichen Verhältnisse im Sinne der Arbeiterklasse zu verändern. Deshalb sollten Linke nicht für einen Ausbau von Polizei und Repressionsorganen eintreten.
Gleichzeitig ist staatliches Handeln im realen Alltag unverzichtbar und rufen auch Linke die Polizei, wenn in ihre Wohnung eingebrochen wird und bringen auch SozialistInnen eine Vergewaltigung oder andere Gewalttaten zur Anzeige. Das wirkt wie ein Widerspruch zur grundsätzlichen Opposition gegen den kapitalistischen Staat, ist es aber nicht. SozialistInnen sind auch gegen das System der ausbeuterischen Lohnarbeit und kämpfen gleichzeitig für Lohnerhöhungen, sind gegen das Privateigentum an Produktionsmitteln, beteiligen sich aber an den existierenden Mitbestimmungsmöglichkeiten für Beschäftigte im Rahmen dieses Privateigentums, sind GegnerInnen des bürgerlichen Parlamentarismus und nehmen an Parlamentswahlen teil. Erstens sollten Linke immer für jede Verbesserung auch im Rahmen der bestehenden Ordnung kämpfen und zweitens die Möglichkeiten ausnutzen, die diese Ordnung bietet, um die Interessen der lohnabhängigen Bevölkerung zur Geltung zu bringen.
Wenn die Partei DIE LINKE eine bürgernahe Polizei fordert, beinhaltet das zwar die Illusion, eine Polizei im Rahmen des Kapitalismus zu schaffen, die die Bürgerinteressen vertritt. Es bringt aber gleichzeitig zum Ausdruck, dass gewisse Polizeiaufgaben in der realen Gesellschaft in der wir leben, eine Notwendigkeit sind und viele ArbeiterInnen sich wünschen würden, dass die Polizeiarbeit für sie transparent, nachvollziehbar und kontrollierbar ist.
Deshalb fordern wir, konkrete demokratisierende Reformen, auch wenn eine Umsetzung dieser den Charakter der Polizei nicht ändern würde und uns das nicht von der Aufgabe befreien würde, die Selbstorganisation der Arbeiterklasse voran zu treiben und eine sozialistische Veränderung der Gesellschaft zu erkämpfen, in der ein wirklicher demokratischer, von der arbeitenden Bevölkerung selbst organisierter, Staat bestehen würde.
Konkret fordern wir, die Auflösung von Spezialeinheiten, die vor allem zur Unterdrückung von Protest und Demonstrationen eingesetzt werden können, die Auflösung von Verfassungsschutz und Geheimdiensten, Kennzeichnungspflicht für PolizistInnen und die Bildung von in den Nachbarschaften demokratisch gewählter Kontrollgremien, die die Tätigkeit der Polizei kontrollieren können und dazu Zugang zu allen nötigen Informationen bekommen und ähnliche durch Gewerkschaften und soziale Bewegungen gewählte Kontrollgremien auf Landes- und Bundesebene. Wir fordern auch das Streikrecht für PolizeibeamtInnen (wie für alle BeamtInnen) und ein wirkliches Befehlsverweigerungsrecht) aus Gewissensgründen (zum Beispiel beim Einsatz auf Demonstrationen, gegenüber Geflüchteten etc.). PolizistInnen sind einerseits StaatsdienerInnen, andererseits aber hinsichtlich ihrer individuellen ökonomischen Situation auch Lohnabhängige mit oftmals schlechten Lohn- und Arbeitsbedingungen. Eine linke Bewegung wird sicher nicht die
PolizistInnen in ihrer Gesamtheit für sich gewinnen können, aber sie sollte alles versuchen, um Teile davon zumindest dazu zu bewegen, sich dem Einsatz gegen Demonstrationen und die Arbeiterbewegung zu verweigern.
Deshalb sollten Linke zum Beispiel auch das Recht verteidigen, dass PolizistInnen sich in Gewerkschaften organisieren können.
In Bezug auf den anderen Arm bewaffneter Staatsorgane, der Bundeswehr, bedeutet das, zum Beispiel für ein Streikrecht und die Wahl von Personalräten von SoldatInnen einzutreten, die Kasernierung und Spezialeinheiten abzuschaffen, die jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit von Offizieren und Vorgesetzten und volle demokratische Rechte (Demonstrationsrecht, Rede- und Versammlungsfreiheit etc.) zu fordern.
Solche Kontrollgremien würden auch deutlich machen, dass der Staat nicht im Interesse der Arbeiterklasse handelt und deshalb eine Selbstorganisation von Lohnabhängigen nötig ist, um die eigenen Interessen durchzusetzen.
Gremien dieser Art, die aus der Arbeiterklasse gewählt und besetzt würden, wären da nur ein Mittel. Eine Selbstorganisation auf allen Ebenen ist sinnvoll, um die Sicherheit der Arbeiterklasse zu erhöhen. Das kann bei Streiks und Demonstrationen bedeuten, dass eigene Ordnerdienste gebildet werden, die Demonstrationen und Streikposten vor Angriffen durch Polizei oder Faschisten schützen können. Das kann im Fußballstadion bedeuten, dass sich Fangruppen zusammen schließen und VertreterInnen wählen, die rassistische Fangruppen aus den Stadien vertreiben, die friedliche Fangruppen aber auch vor Polizeigewalt schützen können. Und das kann in der Nachbarschaft bedeuten, dass bei Anwohnerversammlungen Gruppen gewählt werden, die zum Schutz vor rassistischen Überfällen oder auch vor gewalttätiger Kriminalität agieren.