Ein amerikanischer Showdown

Über die Ereignisse am 6. Januar 2021 und die Krise in den USA

Hannah Sell, Generalsekretärin der Socialist Party (England und Wales), bespricht eines der zahlreichen neueren Bücher, die sich mit den Ereignissen in Washington DC am 6. Januar 2021 und ihren Folgen befassen, und untersucht die Krise sowohl der republikanischen als auch der demokratischen Partei und die Aussichten auf große Bewegungen, die die USA erschüttern. Dieser Artikel stammt aus Socialism Today – dem monatlich erscheinenden Magazin der Socialist Party.

This Will Not Pass: Trump, Biden, and the Battle for America’s Future
Von Jonathan Martin und Alexander Burns
Veröffentlicht in den USA bei Simon & Schuster, 2022

„This Will Not Pass“, ein neues Buch von zwei New York Times-Journalisten, Jonathan Martin und Alexander Burns, wurde vor Beginn der aktuellen Anhörungen des House Committee zu den Ereignissen vom 6. Januar 2021 veröffentlicht. Es behandelt jedoch einen Großteil des gleichen Themas. Nur sind seine Enthüllungen über den Sturm auf das Kapitol zahm im Vergleich zu einigen der Beweise, die bei den Anhörungen vorgelegt wurden. Darüber hinaus lässt es trotz des vielversprechenden Titels keine Rückschlüsse darauf zu, wie sich der „Kampf um die Zukunft Amerikas“ entwickeln wird. Nicht zuletzt, weil es kaum auf die Erfahrungen der amerikanischen Arbeiter*innenklasse, ihrer Organisationen und die Entwicklung ihres Bewusstseins darüber, was getan werden muss, um eine Antwort auf die amerikanische Krise zu finden, eingeht.

Nichtsdestotrotz beschreiben Martin und Burns die Ereignisse in Washington DC am 6. Januar gut, darunter, wie Trump die Menge aufpeitschte und erklärte: „Wir werden niemals aufgeben, wir werden niemals kleinbeigeben“, während seine Kumpels wie der Kongressabgeordnete aus Alabama, Mo Brooks, der Menge sagten, sie sollten anfangen, „Namen zu notieren und Ärsche zu treten“ und Rudy Guiliani den „Trial by Combat“ (Entscheidung durch Duell) über die Wahlergebnisse forderte. Währenddessen versteckten sich in den Kongressgebäuden Politiker*innen unter Schreibtischen und schrieben letzte Botschaften an ihre Familien. Das Buch beschreibt „den republikanischen Präsidentschaftskandidaten Mitt Romney, der nur Sekunden davon entfernt ist, ‚mit einer Schar von Aufständischen zusammenzustoßen‘, die den Senat überfallen hatten, und er tobt darüber, ‚was das dem Land und der Welt sagt‘ und ‚das einzige Mal, dass dies jemals zuvor passiert ist, im Bürgerkrieg war.‘“

Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass „in gewisser Hinsicht die Geschichte vom 6. Januar eine Beinahe-Katastrophe ist. Der Aufstand im Kapitol war eine nationale Schande, aber es gab kein Massaker an Abgeordneten, keine Ermordung des Vizepräsidenten oder des Haussprechers, keine Revolte in den Streitkräften – und keinen Versuch von Präsident Trump, während einfache Abgeordnete in Bürogebäude eingesperrt und Kongressführer auf einer Militärbasis abgesondert waren, mit brutaler Gewalt die Macht zu ergreifen und zu halten. Aber als rohes politisches Trauma übertraf es jedes andere Ereignis in der Geschichte des modernen Kongresses.“

Dies ist eine vernünftige Zusammenfassung dessen, was passiert ist. Trump und seine Unterstützer*innen behaupteten nicht nur, dass sie die Wahl gewonnen hätten, sondern trafen eine Reihe von Maßnahmen, um zu versuchen, die Lüge Wirklichkeit werden zu lassen. Beispielsweise wurde großer Druck auf das Justizministerium ausgeübt, Trump zu unterstützen. Als hochrangige Beamt*innen ihm wiederholt sagten, dass sie die Vorwürfe eines weit verbreiteten Wahlbetrugs untersucht und keine Grundlage gefunden hätten, argumentierte Trump, sie müssten keine Beweise finden. „Sagen Sie einfach, die Wahl sei korrupt und überlassen Sie den Rest mir“, sagte er ihnen. Und als die Beamt*innen sich weigerten, dem nachzukommen, plante Trump, den amtierenden Generalstaatsanwalt abzusetzen und einen loyalen Anhänger, Jeffrey Clark, einzusetzen, um in seinem Sinne zu handeln. Erst die Androhung von Massenrücktritten im Ministerium zwang Trump zum Einlenken.

Bullshit-Coup

Bei allem Krach, den Trump machte, war dies jedoch kein Putschversuch mit der geringsten Aussicht auf Erfolg. Kein bedeutender Teil der Staatsmaschine unterstützte seine Kampagne und selbst innerhalb seiner unmittelbaren Clique betrachteten die meisten seine Behauptungen als „Bullshit“, die „dem Land einen schweren, schweren Bärendienst erweisen“, wie der ehemalige Generalstaatsanwalt unter Trump, William P. Barr, es ausdrückte. Sogar seine Tochter Ivanka Trump hat vor der Anhörung ausgesagt, dass die Behauptungen ihres Vaters haltlos waren.

Auch gelang es Trump nicht, eine Massenmobilisierung zu seiner Unterstützung hervorzurufen. Es gibt keine offiziellen Schätzungen der Zahl der Teilnehmer*innen an den Protesten vom 6. Januar in Washington DC oder landesweit. Sie waren jedoch nicht groß. Die Demonstrationen, die derzeit die USA zur Verteidigung des Abtreibungsrechts überschwemmen, stellen die Pro-Trump-Demonstrationen vom 6. Januar in den Schatten. Die Teilnehmer*innenzahl in Washington DC lagen eher bei Tausenden als bei Zehn- oder Hunderttausenden, einschließlich anscheinend nur Hunderter von jeder der verschiedenen rechtsextremen Gruppen wie den Proud Boys.

Nichtsdestotrotz ist es ein Zeichen für die tief verwurzelten Probleme des US-Kapitalismus, dass sein scheidender Präsident versuchte, seinen Nachfolger an der Präsidentschaft zu hindern, indem er fälschlicherweise behauptete, die Wahl sei gestohlen worden, und die Menge im Kapitol aufforderte, „auszurasten“. Und es wurde nun enthüllt, dass er auf Demonstrant*innen, die die Erhängung des Vizepräsidenten forderten, mit „Ja, vielleicht sollte er es sein“ antwortete. Seine Handlungen untergruben die Mythen, die verwendet werden, um das Vertrauen in die „Demokratie“ der USA aufrechtzuerhalten, und untergruben damit die Stabilität des US-Kapitalismus weiter. Zu seinem Vermächtnis gehörte auch die massive Untergrabung der Autorität des nicht gewählten Obersten Gerichtshofs, indem er die Richter*innen ernannte, die den Sturz von Roe vs Wade zugelassen haben. Noch besorgniserregender für die ernsthaften Strategen des US-Kapitalismus: Trump und der Trumpismus sind weit davon entfernt, eine erschöpfte Kraft zu sein. Die jüngsten Umfragen zeigen, dass etwa 60 Prozent der Wähler*innen der Meinung sind, dass Joe Biden fair gewählt wurde, während dieser Anteil bei den republikanischen Wähler*innen auf etwa 25 Prozent sinkt.

Dieses Buch zielt, wie die Anhörungen, eindeutig darauf ab, Trump und seine Anhänger*innen unter den republikanischen Wähler*innen zu diskreditieren und Druck auf die Republikanische Partei auszuüben, sie rauszuwerfen. Bisher gibt es jedoch nur wenige Anzeichen dafür. Wie die Gründerin des „Anti-Trump Republican Accountability Project“ es gegenüber der New York Times ausdrückte: „Ich hoffe, dass es Platz für einen vernünftigen Flügel der Republikanischen Partei gibt, um wieder aufsteigen zu können“, aber „die Chancen dafür sind äußerst gering “.

Martin und Burns bestätigen ihren Pessimismus, indem sie anschaulich schildern, wie die Republikanische Partei in den Wochen nach dem 6. Januar vor Maßnahmen gegen Trump zurückschreckte. Unmittelbar im Anschluss an den 6. Januar nennt Mitch McConnell, der Vorsitzende der Republikaner im Senat, Trump einen “abscheulichen Menschen”, den die Republikaner “politisch bekämpfen mussten”. Als er seine Bemühungen aus dem Jahr 2014 beschrieb, um zu verhindern, dass aufständische Kandidat*innen der extremen Rechten als republikanische Kandidat*innen aufgestellt werden, erklärte er: “Wir haben die Hurensöhne vernichtet und das werden wir auch bei den Vorwahlen ’22 tun.

Am Ende des Buches singt McConnell jedoch eine ganz andere Melodie, nachdem er sich angesichts von Trumps Stärke in der republikanischen Basis zurückgezogen hat. Republikaner*innen, die „entschieden mit Trump gebrochen hatten“, würden „in den Ruhestand gehen oder wahrscheinlich nie wieder kandidieren“. McConnell sah sich “mit der entmutigenden Aussicht konfrontiert, dass er sich möglicherweise mit Senatskandidaten wie Mo Brooks begnügen muss, dem rechtsextremen Mann aus Alabama, der am 6. Januar vor Trumps Mob gesprochen hatte, bevor dieser randalierte”. In der Tat hat sich Brooks bei den Vorwahlen in Alabama nicht als Favorit erwiesen, aber nur, weil Trump ihn zugunsten einer anderen, ebenfalls von Trump unterstützten Kandidatin, Katie Britt, fallengelassen hat.

Bei den republikanischen Vorwahlen für die Zwischenwahlen – die jetzt zur Hälfte durch sind – dominieren bisher die Kandidat*innen, die Trumps Behauptung unterstützen, dass die Wahl 2020 “gestohlen” wurde. Dies gilt sowohl für die Wahlen auf Landes- als auch auf Bundesebene, darunter für die Positionen von Gouverneur*innen, Staatssekretär*innen und der Generalstaatsanwaltschaften, die erheblichen Einfluss auf die Durchführung der Wahlen im Jahr 2024 haben werden.

Das Buch berichtet sehr detailliert über die Diskussionen innerhalb der verschiedenen Teile des “Duopols” – der republikanischen und demokratischen Parteimaschinen – während Trumps Präsidentschaft und danach. Es offenbart vor allem die tiefe Niedergeschlagenheit all der seriösen kapitalistischen Politiker*innen und Strateg*innen, die versuchen, im Interesse des US-Kapitalismus zu handeln, und die sehen, dass die Ereignisse außer Kontrolle geraten.

Was hat der 6. Januar bedeutet? Wie ist es zu erklären, dass eine der beiden großen kapitalistischen Parteien in den USA von einem rechtspopulistischen Demagogen wie Trump dominiert wird? Und wie kann eine solche Partei in der Lage sein, bei den Zwischenwahlen zuzulegen und eine reelle Chance zu haben, die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2024 zu gewinnen? Spiegelt dies einen entscheidenden Rechtsruck in großen Teilen der amerikanischen Arbeiter- und Mittelschicht wider?

Diese Fragen werden in Burns und Martins Buch nicht beantwortet oder auch nur klar gestellt, aber es wird zumindest eine Verbindung zwischen dem Versagen des US-Kapitalismus und den politischen Entwicklungen hergestellt: “In weniger als einem Drittel der Lebenszeit eines durchschnittlichen Amerikaners erlebte das Land ein angefochtenes Präsidentschaftsrennen im Jahr 2000, die Terroranschläge vom 11. September 2001, die langen und katastrophalen Kriege im Irak und in Afghanistan, die Finanzkrise von 2008 und die Große Rezession, die Wahl von Donald Trump im Jahr 2016 und die verheerenden Folgen der Coronavirus-Pandemie im Jahr 2020. Das ist ein Katalog von Versagen und Versagen und Versagen”.

Der Kapitalismus wackelte und knarrte

Das Fazit des Buches lautet, dass das kapitalistische System der USA bisher “gewackelt und geknarrt hat – aber es ist nicht gescheitert. Aber es ist auch nicht gediehen”. Das “amerikanische Zweiparteiensystem kann nur dann gut funktionieren, wenn mindestens eine Partei gleichzeitig politisch mächtig, intern kohärent und ernsthaft am Regieren interessiert ist. Am Ende des Jahres 2021 kann man weder die regierenden Demokraten noch die republikanische Opposition mit diesen Worten beschreiben.

Die Autoren befürchten eindeutig, dass ein katastrophales Scheitern bevorsteht, mit Folgen für den Kapitalismus weltweit wie auch für die USA. Aus dem Ausland betrachtet, so argumentieren sie, sieht das mächtigste Land der Welt “weit entfernt von einer lebendigen und dauerhaften Republik”, “zu oft wie ein müdes und unzusammenhängendes Durcheinander von Regionen aus, das in Not- oder Kriegszeiten riesige Geldsummen ausgeben kann, aber ansonsten unfähig ist, seine wichtigsten und hartnäckigsten innenpolitischen Probleme zu lösen”. Sie zitieren Biden, der während seiner Wahlkampagne sagte: “Ich hoffe sehr, dass es klappt, wenn nicht, bin ich mir nicht sicher, ob wir ein Land haben werden”.

Auch wenn Biden die Wahl gewonnen hat, erkennen die Autoren an, dass er ein schwacher Präsident ist und dass die Dinge nicht “funktionieren”. Innenpolitisch liegen Bidens Zustimmungswerte derzeit bei 39 Prozent, wobei 47 Prozent seine Leistungen stark missbilligen und nur 16 Prozent sie stark befürworten. Auf globaler Ebene hat er zwar behauptet, dass “Amerika wieder an der Spitze der Welt steht”, aber die Realität hat seine Propaganda nur bedingt widergespiegelt. Zuerst wurde die Autorität der USA durch den überstürzten Rückzug aus Afghanistan untergraben, dann durch die Invasion in der Ukraine. Während Biden letztere zweifellos dazu genutzt hat, die westlichen imperialistischen Mächte hinter den USA zu versammeln, ist allein die Tatsache, dass Putins Regime sich zu einem Einmarsch entschlossen hat, ein Hinweis auf den anhaltenden Niedergang der Vormachtstellung der USA. Und obwohl die Invasion vorübergehend den Eindruck westlicher imperialistischer Einigkeit verstärkt hat, bleiben die Spaltungen zwischen den NATO-Mächten bestehen und werden wahrscheinlich noch deutlicher zutage treten, wenn sich die Pattsituation weiter hinzieht und insbesondere, wenn der gegenwärtige Krieg sein Endspiel erreicht.

Letztlich sind sowohl die Schwächung der Stärke des US-Imperialismus auf globaler Ebene als auch die Instabilität im eigenen Land ein Ausdruck des kränkelnden Charakters des US-Kapitalismus. Der Lebensstandard in den USA stagniert bestenfalls seit Jahrzehnten. Im Gegensatz zu ihren europäischen Kolleg*innen hatten die US-Arbeiter*innen nie eine politische Massenpartei, an die sie sich wenden konnten, um für ihre Interessen gegen die der Eliten zu kämpfen. Historisch gesehen hat das Fehlen einer solchen Partei, die Druck auf die Kapitalistenklasse ausübt, dazu geführt, dass das äußerst dysfunktionale Wahl- und Rechtssystem der USA groteske Auswüchse entwickeln konnte. Dies war auch ein zentraler Faktor für den im Vergleich zu Westeuropa viel begrenzteren Wohlfahrtsstaat, auf den die US-Arbeiter*innen zurückgreifen können. Nichtsdestotrotz verbesserte sich insbesondere während des Nachkriegsaufschwungs der Lebensstandard breiter Teile der Arbeiter*innenklasse nach dem Albtraum der 1930er Jahre, was den Mythos des “amerikanischen Traums” und die soziale Basis sowohl der Demokraten als auch der Republikaner nährte.

Seit dem Ende des Nachkriegsaufschwungs Mitte der 1970er Jahre ist der Anteil der unteren 90 Prozent am Reichtum jedoch stark gesunken, während der Anteil der winzigen kapitalistischen Elite in die Höhe geschnellt ist. Wäre die Verteilung des Reichtums in dem halben Jahrhundert seither auf dem Nachkriegsniveau geblieben, hätten die unteren 90 Prozent 50 Billionen Dollar mehr in den Taschen! Wäre diese gigantische Zunahme der Ungleichheit mit einer Verbesserung des Lebensstandards für die Arbeiter*innen- und Mittelklasse einhergegangen, hätte dies nicht zu der enormen Unzufriedenheit geführt, die sich entwickelt hat. Das war jedoch nicht der Fall. Stattdessen haben die Große Rezession, die Covid-Pandemie und die jetzt zunehmende Inflation die ohnehin schon stagnierenden Einkommen stark erschüttert. Schon vor der Pandemie konnten 40 Prozent der US-Haushalte nicht einmal 400 Dollar für Notfälle aufbringen; 28 Millionen Amerikaner*innen waren überhaupt nicht krankenversichert, weitere 44 Millionen waren unterversichert.

Trump zapft Unzufriedenheit an

Ein wichtiges Element von Trumps Wähler*innenbasis beruht auf seiner Fähigkeit, die wachsende Unzufriedenheit von Teilen der Mittel- und Arbeiter*innenklasse auf sehr verzerrte Weise zu nutzen. Im Jahr 2020 verlor er zwar gegen Biden, aber seine Stimmenzahl stieg um 11 Millionen. Er hat sich eindeutig darauf verlassen, Rassismus und Nationalismus zu schüren und die jahrzehntelange Abhängigkeit der Republikanischen Partei von der christlichen Rechten zu verdoppeln. Im Jahr 2020 haben 84 Prozent der weißen evangelikalen Protestant*innen für Trump gestimmt.

Als Trump jedoch demagogisch versprach, “den Washingtoner Sumpf auszutrocknen”, machte er sich die Enttäuschung über die Präsidentschaften von Clinton, Bush und Obama zunutze, die allesamt neoliberale Programme zugunsten der Reichen durchführten. Im Jahr 2020 stimmten 56 Prozent der Wähler*innen ohne Schulabschluss für Trump, verglichen mit 41 Prozent für Biden. Dies war ein Anstieg von 51 Prozent für Trump im Jahr 2016. Trump, der selbst zu den Superreichen gehört, hat es dennoch geschafft, reale Probleme auszunutzen, auf die die Demokraten keine Antwort hatten, und gleichzeitig einen Wunschtraum von einer besseren Zukunft anzubieten, nämlich “Amerika wieder groß zu machen”, was eine Schicht von hauptsächlich, aber nicht ausschließlich, weißen Wähler*innen aus der Arbeiter*innenklasse ansprechen konnte.

Vor allem die Präsidentschaftskampagne von Bernie Sanders im Jahr 2016 hat gezeigt, dass es möglich ist, einige der von Trump angezogenen Wähler*innen mit wirtschaftlichen und klassenbezogenen Themen erfolgreich anzusprechen. „This Will Not Pass” berichtet, dass Trump dies tatsächlich erkannt hat, indem er Chris Christie, dem ehemaligen Gouverneur von New Jersey, sagte, er fürchte zwar nicht Biden, wohl aber Sanders, weil dieser “den Wählern riesige neue staatliche Leistungen versprechen würde. Das, so Trump, wäre populär”.

Im Jahr 2016 wurde Sanders’ Anziehungskraft jedoch durch seine Unterstützung für Clinton und vier Jahre später durch seine befürwortende Haltung gegenüber der Präsidentschaft Bidens zunichte gemacht. Martin und Burns verweisen mehrfach darauf, wie viel “angenehmer” Biden seinen Umgang mit Sanders und den linken Demokraten fand, verglichen mit der extremen Rechten seiner Partei, obwohl er sich “mit der extremen Linken nicht wohlfühlt” und “am liebsten innerhalb des etablierten Systems arbeitet”. Mit anderen Worten: Biden ist ein kapitalistischer Establishment-Politiker bis ins Mark, konnte aber mit den linken Demokraten zusammenarbeiten, weil die Linken in jeder Phase auf dem Rückzug waren. Doch Bidens Präsidentschaft führt zu einem starken Rückgang des Lebensstandards, während die Inflation in die Höhe schießt, was wiederum die Unterstützung für den “Trumpismus” weiter anheizen kann, da es bislang keine klare Alternative der Arbeiter*innenklasse zum Duopol gibt.

Natürlich sind neben wirtschaftlichen Themen auch soziale Fragen – einschließlich Rassismus und Frauenrechte – sehr wichtige Faktoren in der US-Politik. Die Mehrheit der US-Kapitalist*innenklasse ist entsetzt über die Aufhebung des Urteils Roe vs. Wade, vor allem wegen des Ausmaßes der Volksbewegung, die dies auslösen könnte. Für die Demokraten bietet dies jedoch eine Gelegenheit, ihre Stimmenzahl bei den diesjährigen Zwischenwahlen zu erhöhen, indem sie versprechen, dass sie im Falle eines Sieges mit einer entscheidenden Mehrheit sowohl im Repräsentantenhaus als auch im Senat ein Bundesgesetz zum Schutz der Abtreibungsrechte auf nationaler Ebene verabschieden werden. Dass es sich dabei um einen zynischen Trick handelt, wird vielen Wähler*innen nicht entgangen sein, denn die Demokraten haben es bisher versäumt, ein solches Gesetz zu verabschieden und Biden selbst hat in der Vergangenheit Maßnahmen zur Untergrabung der Abtreibungsrechte unterstützt. Trotzdem könnten die Wähler*innen, die verzweifelt für die reproduktiven Rechte kämpfen wollen, nun im November in großer Zahl für die Demokraten stimmen. Für andere Teile der Arbeiter*innenklasse wird jedoch der Wunsch, gegen ihren sinkenden Lebensstandard unter Biden zu protestieren, dringender sein.

Dennoch ist die Darstellung der kapitalistischen Medien, wonach die US-Bevölkerung in sozialen Fragen in zwei völlig antagonistische Lager gespalten ist, eine grobe Vereinfachung. Eine dritte Partei – eine Arbeiter*innenpartei -, die sich für wirtschaftliche und soziale Fragen einsetzt, könnte die bestehende Polarisierung durchbrechen. Nur wenige Monate vor den letzten Präsidentschaftswahlen, auf dem Höhepunkt der Black-Lives-Matter-Proteste, unterstützten 74 Prozent der Amerikaner*innen die Bewegung. Bei den republikanischen Wählern war die Unterstützung geringer, aber eine große Minderheit – 40 Prozent – sagte, sie stimme den Protesten zu. Zweifelsohne haben viele von ihnen anschließend für Trump gestimmt. In ähnlicher Weise wird die Aufhebung des Urteils Roe vs. Wade durch den Obersten Gerichtshof der USA von der Mehrheit der US-Bevölkerung, aber auch von einer erheblichen Minderheit – 41 Prozent – der Republikaner abgelehnt.

Dysfunktionale ‘Demokratie’

Der Stimmenzuwachs für rechtspopulistische Politiker*innen ist eindeutig nicht nur ein amerikanisches Phänomen. Le Pen in Frankreich und Bolsanaro in Brasilien sind einige der offensichtlichsten Beispiele. Der britische Premierminister Johnson wurde als “Poundland Trump” (Billig-Trump) bezeichnet und kam wie dieser innerhalb einer etablierten kapitalistischen Partei an die Macht, indem er sich als Opposition zu ihr ausgab.

Nichtsdestotrotz gibt es spezifische Merkmale der Situation in den USA, die besondere Gefahren für die dortige Kapitalist*innenklasse bergen. Keine kapitalistische Demokratie gibt der Bevölkerung mehr als nur eine sehr begrenzte Möglichkeit, die Handlungen der Regierungen zu beeinflussen. Die US-amerikanische “Demokratie” ist jedoch besonders beschnitten und dysfunktional. Die Präsidentschaft wird nicht durch die Volksabstimmung entschieden, sondern durch das Wahlleutekollegium, bei dem der Gewinner in allen Bundesstaaten bis auf zwei alle Stimmen des Wahlleutekollegiums erhält. Das Gremium wurde von den Gründervätern geschaffen, um die “Tyrannei der Mehrheit” zu verhindern und die politische Hegemonie der Südstaaten, die Sklaven besaßen, zu schützen, und ist zugunsten der kleinen, überwiegend weißen und republikanischen Landstaaten gewichtet. Die Verstädterung verstärkt diese historisch gewachsenen Ungleichheiten. Die Zahl der in Städten lebenden Menschen ist zwischen 2000 und 2010 um 12 Prozent gestiegen und hat seitdem weiter zugenommen. Infolgedessen vertrat im Jahr 2020 ein einziger Wahlmann bzw. eine einzige Wahlfrau mehr als 700.000 Menschen oder weniger als 200.000, je nachdem, welchen Staat er vertrat. Darüber hinaus werden in einer Reihe von Bundesstaaten undemokratische Maßnahmen zur Einschränkung der Stimmabgabe, zur Bildung von Wahlbezirken und sogar zur Streichung von Wähler*innen aus dem Wählerverzeichnis, zumeist nicht-weißen Menschen, verschärft.

Im Jahr 2020 erhielt Trump mehr als sieben Millionen Stimmen weniger als Biden. Im Jahr 2016 hat er trotz eines Rückstands von fast drei Millionen Stimmen “gewonnen”. Es ist möglich, dass Trump oder ein Trump’scher republikanischer Kandidat im Jahr 2024 das Wahlleutekollegium mit einem noch geringeren Anteil an den Wähler*innenstimmen gewinnen könnte. Trumps letzter Sieg wurde mit einem massiven Aufschrei der Wut auf den Straßen quittiert, der jedoch im Vergleich zu der Explosion der Wut, die beim nächsten Mal zu beobachten wäre, in den Schatten gestellt würde. Umgekehrt könnte ein knapper Sieg der Demokraten zu einer neuen Kampagne führen, die behauptet, die Wahl sei gestohlen worden.

Beide Szenarien würden zu einer weiteren Periode der Instabilität in Washington führen. Es würde auch die Fliehkräfte verstärken, die auf die USA einwirken, die seit jeher einen stark föderalen Charakter haben. Als Trump Präsident war, hat er die Spannungen zwischen der Bundesregierung und den Bundesstaaten verschärft. In einer Phase der Pandemie drohte er den von den Demokraten geführten Bundesstaaten New York, New Jersey und Connecticut mit einer von oben verordneten Quarantäne. Andrew Cuomo, der damalige Gouverneur von New York, bezeichnete dies als “Kriegserklärung”. Während der BLM-Bewegungen drohte Trump damit, die Armee über die Köpfe der Gouverneure der Bundesstaaten und der städtischen Behörden hinweg einzusetzen, und tat dies mit der Entsendung von Bundespolizist*innen nach Portland, der größten Stadt in Oregon. Selbst Nancy Pelosi, die pro-kapitalistische demokratische Sprecherin des Repräsentantenhauses, twitterte demagogisch, dass “Trump und seine Sturmtruppen gestoppt werden müssen”.

Diese Art von Spannungen eskaliert derzeit im Kampf um die Abtreibungsrechte und wird weiter zunehmen. Schon jetzt wächst die Unterstützung für die Idee eines Auseinanderbrechens der USA. Vor den letzten Präsidentschaftswahlen ergab eine Umfrage der Hofstra University, dass fast 40 Prozent der wahrscheinlichen Wähler die Abspaltung eines Staates unterstützen würden, wenn ihr Kandidat verliert. YouGov stellte im vergangenen Juni fest, dass 37 Prozent der Amerikaner*innen eine “Bereitschaft zur Abspaltung” befürworten. Während diese Stimmung im Süden und unter den Republikanern am stärksten ist, ergab eine Umfrage, dass 41 Prozent der Biden-Anhänger*innen (sowie 52 Prozent der Trump-Anhänger*innen) zumindest einigermaßen mit der Idee übereinstimmen, “dass es an der Zeit ist, das Land zu spalten, und dass blaue/rote Staaten die Abspaltung von der Union befürworten”.

Für die US-amerikanische Kapitalist*innenklasse insgesamt wäre ein Auseinanderbrechen der USA natürlich eine Katastrophe, die den Untergang ihrer Nation als globale Supermacht bedeuten würde, und kurzfristig ist das auch nicht zu erwarten. Das bedeutet jedoch nicht, dass der US-Kapitalismus über irgendwelche Mittel verfügt, um die vielfältigen Probleme zu überwinden, mit denen er konfrontiert ist, einschließlich der zunehmenden Zersplitterung des Nationalstaats. Auch hat die US-Kapitalist*innenklasse keine einheitliche Position zu vielen der wichtigsten Fragen, mit denen sie konfrontiert ist. Vor den Wahlen 2020 führte Forbes eine Umfrage unter US-Milliardär*innen durch. Von denjenigen, die antworteten, bezeichneten sich 43 Prozent als Republikaner und 33 Prozent als Demokraten. Allerdings stimmten 48 Prozent von ihnen für die Demokraten, um Trump zu stoppen. Zwar lassen sich aus einer Umfrage unter einzelnen Milliardär*innen nur begrenzt Schlussfolgerungen ziehen, doch zeigt dies, dass sie sowohl die Republikaner als auch die Demokraten als Parteien der kapitalistischen Elite ansehen, aber auch, dass eine Mehrheit einen verlässlicheren Vertreter ihrer Interessen im Weißen Haus haben möchte als ihren Milliardärskollegen Trump.

Unter dem Deckmantel der chaotischen Demagogie stimmen Trumps Ansichten jedoch mit denen eines Minderheitenflügels der herrschenden Klasse der USA überein. Aus Angst vor dem relativen Niedergang des US-Imperialismus wollen einige eine plumpe “America-First”-Politik verfolgen, anstatt wie Biden zu versuchen, mit anderen westlichen Mächten zusammenzuarbeiten, um die Interessen des US-Imperialismus durchzusetzen. Einige befürworten auch einen Angriff auf die Arbeiter*innenklasse, weil sie das Potenzial sozialistischer Ideen fürchten, und sie erkennen, dass das Aufpeitschen des Rechtspopulismus dazu beitragen kann.

Während die Mehrheit der US-Kapitalist*innenklasse diesen Weg zum jetzigen Zeitpunkt nicht weiter beschreiten will, weil sie weiß, dass dies eine Gegenreaktion auslösen würde, die ihre Herrschaft bedrohen könnte, haben sie auch keinen Ausweg. Die weitsichtigsten unter ihnen können erkennen, dass das “Duopol”, das in der Vergangenheit gut für sie funktioniert hat, indem es der US-Bevölkerung die Illusion einer Wahlmöglichkeit vermittelte, jetzt in einer schweren Krise steckt, aber das bedeutet nicht, dass sie Mittel und Wege finden können, das Problem zu überwinden. Diese Spaltungen zwischen verschiedenen Teilen der Kapitalist*innenklasse werden sich daher auch in Spannungen zwischen den Bundesstaaten und der Bundesregierung sowie den Großstädten niederschlagen. Es ist leicht zu erkennen, wie sich dies zum Beispiel zwischen Texas und anderen Bundesstaaten – unterstützt von den Ölmilliardären – entwickeln könnte, wenn eine Bundesregierung irgendwelche bedeutenden Schritte in Richtung sauberer Energie unternimmt, die ihre Profite bedrohen.

Arbeiter*innen beginnen zu handeln

Die einzige Kraft, die die Probleme der US-Gesellschaft überwinden könnte, ist auch die einzige Kraft, die die Kapitalistenklasse einhellig fürchtet: die potenziell mächtige US-Arbeiter*innenklasse. In den letzten zehn Jahren hat die Unterstützung für sozialistische Ideen im weitesten Sinne in den USA rapide zugenommen. In der jüngsten Umfrage äußerten sich 41 Prozent aller Erwachsenen positiv zum Sozialismus. Gleichzeitig sind die Gewerkschaften nach der Pandemie so beliebt wie seit 1965 nicht mehr. Dies spiegelt sich – noch – nicht in vollem Umfang im Streikniveau wider, aber auch hier gibt es einen Aufwärtstrend. Vor der Pandemie im Jahr 2018 erreichte die Zahl der US-Beschäftigten, die sich an Streiks und Aussperrungen mit 1.000 oder mehr Beschäftigten beteiligten, erstmals seit 1986 eine halbe Million, und 2019 war sie nur geringfügig niedriger. Jetzt, nach der Pandemie, gibt es weitere Anzeichen für eine wachsende Kampfbereitschaft. Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Abstimmungen über die Anerkennung von Gewerkschaften in den USA um 50 Prozent gestiegen.

Die organisierte Arbeiter*innenklasse ist in der Lage, Putschversuche zu verhindern, die tausendmal schwerwiegender sind als das, was Trump 2020 vorhat. Martin und Burns erwähnen mit keinem Wort die Diskussionen, die in der Arbeiter*innenbewegung darüber geführt wurden, wie man auf Trumps Behauptungen, die Wahl sei gestohlen worden, reagieren sollte. Die Frage eines Generalstreiks wurde jedoch erörtert. So stimmte beispielsweise die Rochester-Genesee Valley Labor Federation im Bundesstaat New York dafür, die Vorbereitung eines Generalstreiks zu unterstützen, “falls erforderlich, um einen verfassungsmäßig vorgeschriebenen friedlichen Machtwechsel zu gewährleisten”. Auch dies war kein Einzelfall. Entschließungen, in denen zu einem Generalstreik aufgerufen wurde, wurden unter anderem von lokalen Gewerkschaftsverbänden in West-Massachusetts und Seattle verabschiedet.

Selbst die im Allgemeinen pro-kapitalistischen Spitzen der US-Gewerkschaftsbewegung diskutierten das Thema. Es wurde eine Entschließung des AFL-CIO-Exekutivrats verabschiedet, in der erklärt wurde, dass “Demokratien letztlich nicht von Richtern oder Anwälten geschützt werden”, sondern “von der Entschlossenheit der arbeitenden Menschen, sie zu verteidigen”. Es stimmt, dass Michael Podorzer, ein hochrangiger Berater des Präsidenten der AFL-CIO, in einem Interview sagte, dass “ein Generalstreik im Moment ein Slogan und keine Strategie ist”. Hätte Trumps Coup jedoch an Boden gewonnen, wäre ein Generalstreik nicht nur ein Slogan, sondern Realität geworden. Sara Nelson, Präsidentin der Association of Flight Attendants, die zu einem Generalstreik aufgerufen hatte, um Trumps Stilllegung der Bundesregierung im Januar 2019 zu beenden, brachte es im Vorfeld der Wahlen 2020 auf den Punkt: “Ist die Gewerkschaftsbewegung bereit, einen Generalstreik durchzuführen? Nein. Können wir es aber tun? Auf jeden Fall”.

Wenn die US-Arbeiter*innen in den Kampf ziehen, wird sich auch die Frage stellen, wie man eine Partei schmiedet, die ihre Interessen vertritt. Mehr als je zuvor seit Jahrzehnten werden sich in der nächsten Periode die Bedingungen für das Entstehen einer unabhängigen Arbeiter*innenpartei entwickeln. Eine solche Partei müsste für wirtschaftliche und soziale Forderungen kämpfen, verbunden mit einem sozialistischen Programm, das darauf abzielt, den riesigen Reichtum der US-Gesellschaft aus den Händen der Superreichen zu nehmen und ihn demokratisch von der Arbeiter*innenklasse verwalten zu lassen. Sie müsste auch ein Programm mit demokratischen Forderungen aufstellen. Dazu gehören die Infragestellung des undemokratischen Wahlleutekollegiums, des nicht repräsentativen Senats und des Obersten Gerichtshofs sowie die Beseitigung aller Hindernisse, die Kandidat*innen außerhalb des Duopols den Weg auf die Wahlzettel versperren.

Die Amtsenthebung Trumps bedeutet noch lange nicht das Ende der Instabilität in den USA, sondern das Land steht am Anfang einer neuen turbulenten Phase. Massenproteste, wie die Welle, die die USA derzeit wegen der Aufhebung des Urteils Roe vs. Wade überrollt, sind die Musik der Zukunft. Natürlich waren es die Massenbewegungen, die die USA in den 1960er und 70er Jahren erfassten, die das Recht auf Abtreibung überhaupt erst durchsetzten. Im Gegensatz zu damals hat der kränkelnde US-Kapitalismus heute jedoch viel weniger Handlungsspielraum; vor allem hat er weniger Möglichkeiten, den Lebensstandard der Arbeiter*innenklasse zu verbessern. Die Kämpfe, die die USA in der kommenden Zeit erfassen werden, werden daher wahrscheinlich ein höheres Niveau erreichen als in den 1960er Jahren und Chancen für die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft im mächtigsten kapitalistischen Land der Erde schaffen.

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