„Habe wenig Hoffnung auf das Bürgergeld“

Interview mit Dorit Hollasky

Mit der Einführung des „Bürgergelds“ ab dem 1. Januar 2023 kündigte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) nicht nur die Aufhebung des Hartz-IV-Systems an, sondern verspricht während der Vorstellung seiner Pläne auch „mehr Respekt“ vor der Lebensleistung von Menschen, die in die Langzeitarbeitslosigkeit geraten sind. Seine Parteifreundin Andrea Nahles sieht in der anstehenden Reform eine „Chance mit dem Kapitel Hartz IV abzuschließen“. Die SPD war es auch, die Hartz IV 2005 gegen den massiven Widerstand innerhalb der Bevölkerung einführte, als sie zusammen mit den Grünen erstmals nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten die Bundesregierung stellten. Sie senkten damit die Leistungen für Langzeitarbeitslose drastisch ab, verglichen mit dem zuvor geltenden System.

Solidaritaet.info spricht mit Dorit Hollasky über ihre Erfahrungen mit Hartz IV, ihre Meinung zum „Bürgergeld“ und was geschehen müsste, um Langzeitarbeitslosen zu helfen. Dorit Hollasky berät seit der Einführung von Hartz IV Leistungsbeziehende und ist Sprecherin der ver.di-Betriebsgruppe im Städtischen Klinikum Dresden* und des „Bündnis für Pflege“ in Dresden. Sie ist Mitglied im Sol-Bundesvorstand.

Solidaritaet.info: Die „Bild-Zeitung“ titelte am 20. Juli bezüglich der Pläne von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil von der SPD, es stünde damit eine „Hartz-IV-Revolution“ bevor. Was sagst Du, gehen Leistungsbezieher*innen nun endlich besseren Zeiten entgegen?

Dorit Hollasky: Ausgerechnet die Bild… Bislang war das Blatt nicht gerade für seine mitfühlende Art bekannt, wenn es um Hartz-IV-Empfänger*innen ging.

Was die Leistungsbeziehenden erwartet, ist im Detail schwer zu sagen. Bislang hat Hubertus Heil nur Eckpunkte vorgestellt. Die lassen mich aber wenig hoffen. Außerdem sind es bisher scheinbar nur die Pläne des Arbeitsministers, was wahrscheinlich bedeutet, dass sich die Ampel noch nicht einmal innerhalb des Kabinetts einig über die genaue Konzeption des Bürgergelds sein dürfte. Langsam wird auch die Zeit bis zum 1. Januar knapp.

Glaubst Du nicht an die Einführung zum Jahreswechsel?

Ich würde es zumindest nicht ausschließen, dass die Bundesregierung den Start verschieben muss. Es müssten neue Anträge entworfen werden, ein neues Computersystem muss entwickelt, Hartz-IV-Empfänger*innen in das neue System übergeleitet und 78.000 Jobcentermitarbeiter*innen geschult werden. Aber zuvor muss das Gesetz noch durch Bundestag und Bundesrat. Es dürfte also knapp werden.

Aber die Verbesserung der Lage der Hartz-IV-Empfänger*innen lohnt doch den Aufwand…

Inwieweit sich die Lage der Leistungsbeziehenden verbessern wird, wenn Heils Pläne Wirklichkeit werden, ist eine offene Frage. Klar, gibt es in den Eckpunkte Dinge, die das Leben der Hartz-IV-Empfänger*innen erleichtern würden, dass darf man nicht übersehen. Das Schonvermögen pro Person soll auf 60.000 Euro angehoben werden. Außerdem soll der Vermittlungsvorgang abgeschafft werden. Der ist bei Hartz IV an sich schon schrecklich, weil er Beziehende zwingt praktisch jede Arbeit anzunehmen, selbst wenn sie mies bezahlt ist oder die Leistungsbeziehenden deutlich überqualifiziert…

…auch die Sanktionen gegen Arbeitssuchende sollen ja nun abgeschafft werden.

Ja, das soll aber lediglich für die ersten sechs Monate gelten, danach ist es grundsätzlich wieder möglich Menschen die Leistungen zu kürzen, wenn sie sich aus Sicht des Jobcenters nicht kooperativ verhalten. Verglichen mit der aktuellen Situation wäre das sogar eine Verschlechterung, denn im Moment gilt bei Hartz IV ein Sanktionsmoratorium wegen der Coronapandemie. Um das Leben von Langzeitarbeitslosen in diesem Punkt wirklich zu verbessern, bräuchte man dieses Moratorium nur entfristen. Aber scheinbar sollen Sanktionen durch die Hintertür wieder eingeführt werden.

Ähnlich verhält es sich mit der Erhöhung des Regelsatzes. Nachdem Hubertus Heil erst nur sagte, der werde erhöht, aber nicht um welchen Betrag, stehen nun etwa 50 Euro im Raum. Damit deckt man bestenfalls die steigenden aktuelle Steigerung der Heiz- und Lebenshaltungskosten. Aus den teilweise erschreckenden Lebensverhältnissen holt das niemanden.

Was wäre Deiner Meinung nach denn angemessen?

Zur Angemessenheit gibt es ziemlich genaue Zahlen. Das lässt sich alles errechnen.

Aber die Bundesregierung rechnet doch auch, um die Höhe der Regelsätze festzulegen.

Ja, und sie kommt aktuell auf 449 Euro plus Miete. Das ist deutlich zu wenig! Der böse Trick dabei ist einfach: Man betrachtet den Verbrauch der ärmsten 15 Prozent der deutschen Bevölkerung. Dazu zählen nunmal aber die 3,7 Millionen Hartz-IV-Empfänger*innen, 1,5 Millionen Sozialgeldbeziehende und die mehr als 800.000 Aufstockenden, deren Lohn so gering ist, dass sie Hartz IV dazu beziehen müssen. Man will also herausfinden, welcher Verbrauch angemessen ist, indem man den Verbrauch der Menschen betrachtet für die man Zahlen zum Verbrauch vorweisen will. Die Katze beißt sich in den Schwanz.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband fordert mindestens 678 Euro als Regelsatz plus Warmmiete, aber das ist aus deren Sicht wirklich das absolute Minimum. Wir als Sol gehen noch weiter Die Sol sagt: Es müssten bei Erwachsenen schon 900 Euro plus Warmmiete sein.

Der vorgesehene Regelsatz mag zu niedrig sein, aber dass ab sofort mehr auf Aus- und Weiterbildung gesetzt werden soll ist doch positiv.

Das Versprechen gab es schon bei der Einführung von Hartz IV, die Realität auf den Jobcentern sieht anders aus.

Wenn man wirklich individuell Menschen begleiten und beim Weg aus der Langzeitarbeitslosigkeit helfen will, dann müsste man unter anderem die Beschäftigten der Jobcenter dringend schulen. Man bräuchte unbedingt mehr Personal. Schon jetzt sind die Jobcentermitarbeiter*innen hoffnungslos überlastet.

Hubertus Heil hat 500 Millionen angekündigt, um die Reform umzusetzen.

Und sein Kabinettskollege Christian Lindner von der FDP will im nächsten Jahr 600 Millionen bei der Integration von Langzeitarbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt einsparen. Da steckt man in die eine Tasche nicht einmal mehr das, was man aus der anderen rausnimmt. Ich kann da keinen ernsthaften Fortschritt erkennen. Zumal auch 500 Millionen nicht viel Geld sind, wenn es um eine Reform in dieser Größenordnung geht. Gerade haben wir mal schnell 100 Milliarden für die Bundeswehr locker gemacht. Wie wäre es mit 100 Milliarden für Soziales, statt für Rüstung?

Also, im Grunde ist das Bürgergeld der sprichwörtliche alte Wein in neuen Schläuchen?

Das steht zu befürchten und wäre nach Hartz IV dann einer weiterer Schlag gegen Arbeitslose.

Weshalb macht die SPD überhaupt diesen Schritt, wenn es ihr nicht um die Menschen geht?

Bei der Einführung von Hartz IV 2005 ging es dem damaligen sozialdemokratischen Bundeskanzler Gerhard Schröder um die Schaffung eines Niedriglohnsektors. Menschen sollten gezwungen werden jede Arbeit anzunehmen, wie schlecht sie auch bezahlt ist, wie unzumutbar auch die Arbeitsbedingungen sind. Das ist leider geglückt und war nicht allein ein Schlag gegen Arbeitslose, sondern auch gegen Gewerkschaften.

Inwiefern?

Die Kolleg*innen, insbesondere im Osten, hatten Angst sich gewerkschaftlich zu organisieren. Was, wenn das der Chef erfährt? Was, wenn der mich bei nächstbester Gelegenheit entlässt? Dann rutsche ich in die Mühlen von Hartz IV… Das wollten Viele eben nicht riskieren. Und so senkte man das Lohnniveau in Deutschland gleich von zwei Seiten: Einerseits, weil man als Hartz-IV-Empfänger*in jede noch so schlecht entlohnte Arbeit akzeptieren musste; andererseits, weil es Gewerkschaften noch schwerer gemacht wurde, um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen.

Die SPD ist von einer Arbeiter*innenpartei, die sie ursprünglich einmal war, zu einer bürgerlichen Partei geworden und vertritt im Grunde die Interessen der Unternehmer. Dann passt das doch alles ins Kalkül, weshalb will man von dem System jetzt auf einmal weg?

Meine Antwort ist nur eine Mutmaßung, iIch denke, dass es darum geht, der Bevölkerung vorzugaukeln, dass die Koalition und insbesondere die SPD sich vom Makel Hartz IV reinwäscht und etwas „Gutes“ hinbekommt. Bürgergeld klingt einfach besser. Ein, zwei kleine Verbesserungen, aber das gleiche System der Spaltung und Unterdrückung. Zudem ist der Fachkräftemangel ein immer größeres Problem. Man kann es sich nicht mehr leisten, Arbeitslose dermaßen schnell wie bisher in Existenznöte zu bringen. Im Grunde geht es auch beim Bürgergeld nicht um wirkliche Hilfe, sondern um Verwertbarkeit durch das Kapital.

Sollte am 1. Januar wirklich das Bürgergeld eingeführt werden, dann geht damit dennoch eine Ära zu Ende. Achtzehn Jahre Hartz IV. Wie hast Du diese Zeit erlebt?

Ich erlebe das System Hartz IV als bedrückend, demütigend und krank machend. Menschen haben Angst vor ihren Terminen auf den Jobcentern. Um jede Kleinigkeit müssen sie kämpfen, mitunter sogar um die Finanzierung von Umzugskartons. Man muss sich das mal überlegen, im viertreichsten Land wollte das Jobcenter einen Umzug mit Mülltüten vorschreiben. Das konnte aber verhindert werden.

Fordern Vermieter*innen eine die Nebenkostennachzahlung, muss nicht selten um die Übernahme durch das Amt gekämpft werden. Gibt es aber noch so kleine Beträge zurück, weil die Leute im Winter gefroren haben, wird alles angerechnet. Gibt man auch noch so kleine Rückzahlungen nicht an, kann das eine Strafanzeige nach sich ziehen. In einem Fall erhielt eine Frau eine Strafanzeige wegen Betrugs, weil sie 2,78 Euro Zinsen vergessen hatte anzugeben. Es ist häufig grotesk erschütternd und hat mich nicht selten sprachlos und wütend gemacht.

Besonders schlimm sind die Aufforderungen zur Senkung der Kosten der Unterkunft. Wie soll jemand eine neue, preiswertere Wohnung finden, wenn die Mieten überall steigen? Dazu kommt, dass in Dresden in diesem Jahr die Angemessenheitsgrenzen für Einpersonenhaushalte sogar noch gesenkt wurden. Das ist einfach unwürdig. Es führt nicht zu Umzügen, sondern dazu, dass die Menschen die übersteigenden Beträge aus dem eh schon zu geringen Regelsatz zahlen.

Demütigend sind zum Beispiel die Regelungen, dass junge Erwachsene bis zum 25. Lebensjahr nicht ohne Genehmigung des Jobcenters bei ihren Eltern ausziehen dürfen und dass ihr Ausbildungsgeld mit zum Familieneinkommen gerechnet wird.

Also, muss Hartz IV weg und wir brauchen etwas anderes?

Unbedingt. Hartz IV ist für Arme keine Hilfe, ganz im Gegenteil. Ich habe aber auch wenig Hoffnung auf das Bürgergeld.

Was müsste Deiner Meinung nach passieren?

Die Sanktionen müssen komplett weg. Das Vermögen darf im Normalfall nicht angetastet werden, außer Reiche stellen Anträge auf Hilfe. Die entwürdigende Bedürftigkeitsprüfung und die zwangsweise Vermittlung müssen verschwinden. Der Regelsatz sollte 900 Euro plus Warmmiete für Erwachsene betragen. Die Mieten müssen in vollem Umfang übernommen werden, ebenso die Stromkosten.

Um die Arbeitslosigkeit und Armut an sich zu bekämpfen, müsste es eine radikale Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden bei vollem Lohn- und Personalausgleich geben. Der Mindestlohn müsste auf 15 Euro angehoben werden. Es ist absurd: Einerseits gibt es Millionen Arbeitslose und andererseits herrscht in einigen Branchen akuter Personalmangel. Es bräuchte ein milliardenschweres, öffentliches Investitionsprogramm, um sinnvolle und tarifgebundene Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst – also zum Beispiel in Gesundheit, Bildung, usw. – zu schaffen. Das könnte man finanzieren, wenn man den Reichtum der Millionär*innen und Milliardär*innen sowie Unternehmensprofite viel stärker besteuert.

Und selbst das ist nicht alles. Solange der Kapitalismus existiert, geht es nicht um die Menschen, sondern um deren Verwertbarkeit. Selbst, wenn wir in diesem System kleine Verbesserungen erkämpfen, werden diese immer gefährdet bleiben. Also geht es um genau diese Frage: Der Kapitalismus muss verschwinden und durch ein System ersetzt werden, in dem wir alle demokratisch über die Verwendung des Reichtums entscheiden, den wir alle erwirtschaften. Wir brauchen eine sozialistische Demokratie.

*Angabe dient nur zur Kenntlichmachung der Person