Hunderttausende Lehrer*innen, Schüler*innen und Studierende auf der Straße
Am Sonntag den 23. Oktober – der Jahrestag des Beginn der Revolution gegen den Stalinismus 1956 – riefen die Studierendenbewegung ADOM und die Gewerkschaften der Lehrer*innen und Pädagog*innen in Budapest zur Demonstration gegen das marode Bildungssystem auf. Hunderttausend folgten dem Aufruf. Der Protest war Ausdruck der Wut auf die allgemeine politische und wirtschaftliche Situation Ungarns, sowie des Widerstand gegen Orbáns autokratisches Regime.
von Jens Jaschik, Mitglied der Sol in Dortmund und Teilnehmer der Demonstration am 23. Oktober
Seit über einem Jahr ignoriert die rechte Orbán-Regierung die Forderungen der Lehrer:innen, Pädagog*innen und Angestellten der Kindergärten, Schulen, Universitäten und Ausbildungsstätten, die Schluss machen wollen mit dem maroden Bildungssystem und der Einmischung der Regierung in die Unterrichtsinhalte. Das gemeinsame Streikkomitee der PSZ (Lehrer*innengewerkschaft) und der PDSZ (Demokratische Lehrer*innengewerkschaft) hat immer wieder zu Streiks und Protesten aufgerufen. Die Regierung reagierte mit Entlassungen von Lehrer*innen und der Aufkündigung des Streikrecht. Die Gewerkschaften antworten, dass sie keine Angst haben und weiter machen. Über 600 Lehrer*innen haben angekündigt bei nur einer weiteren Entlassung den Dienst zu quittieren. Trotz des Verbot treten die Lehrer*innen unter Führung der Gewerkschaften regelmäßig in den Streik.
Protest am Nationalfeiertag
Der Protest am Nationalfeiertag – dem Jahrestag des Beginn der Revolution gegen den Stalinismus 1956 – hatte besondere Bedeutung. Zum ersten Mal hat die Orbán-Regierung seit dem Regierungsantritt 2010 keine Demonstrationen oder Feierlichkeiten in Budapest organisiert. Vergangenes Jahr organisierte die rechte Fidesz-Partei und die ihr nDahe-stehenden Organisationen große Demonstrationen und Paraden. Victor Orbáns Rede fand mitten in Budapest statt. Dieses Jahr sprach er in einer kleinen 50.000 Seelen-Stadt. Angeblich weil es der Geburtsort eines Bischoff ist, der nur eine geringe Rolle in der Revolution 1956 spielte. In Budapest verbreitete sich schnell das Gerücht, dass Orbán Angst hatte, dass die offiziellen Feierlichkeiten der Regierung kleiner sein werden, als der Protest der Schüler*innen, Studierenden und Lehrer*innen. Auf der Abschlussbühne der Demonstration war eine riesige Nationalfahne Ungarn mit einem Loch in der Mitte. Ein Zeichen des Volksaufstand 1956, als die Arbeiter*innen und Studierenden das Logo der Sowjetunion – das sie mit dem diktatorischen Regime der Bürokraten verbanden – aus der Fahne Ungarns entfernten. Der Protest erklärte sich selbst in der Tradition von 1956 und zum wahren Gedenken an die Helden von 1956.
Die Demonstration, an der sich über hunderttausend Menschen beteiligten, war besonders von der Jugend geprägt. Neben der Lehrer*innengewerkschaften nahmen eDbenso Industriegewerkschaften teil, auch wenn sie das Bild des Protest nicht prägten. Auf den Plakaten und während der Reden zeigte sich, dass es der Mehrheit um weit mehr als Bildung ging. Der Protest war Ausdruck des Kampfes um Demokratie und gegen das Orbán-Regime im Allgemeinen. Die sich verschlechternde ökonomische Situation hat mehr Menschen als in den vergangenen Jahren animiert Stellung zu beziehen. Auf der Demonstrationen konnten man einige EU-Fahnen erblicken – auch wenn diese nicht die Mehrheit der Demonstration ausmachten, waren sie allgemein akzeptiert und erwünscht. Teile der Bevölkerung hoffen, dass die EU auf Grund ihrer Erklärungen und Maßnahmen ein Partner im Kampf für Demokratie sei.
Polarisierung und Opposition
Als einziges Land in der EU bezieht Ungarn in großen Mengen Öl und Gas aus Russland und handelt mit russischen Energielieferanten neue Verträge aus. Schließlich ist Ungarn zu 80 Prozent auf Erdgas aus Russland angewiesen. Zwar verurteilt Orbán den Krieg in der Ukraine, doch am stärksten spricht er sich gegen die Sanktionen der EU aus, die der finanziellen Stabilität Ungarns schaden würden. Damit versucht er auch von den Problemen im eigenen Land abzulenken. Die Orbán-Regierung befindet in einer Krise. Die Einschränkung der demokratischen Rechte und einer Inflation von über 20 Prozent haben zu einer zunehmenden Wut geführt. Aber auch einer Polarisierung zwischen den Gegner*innen und Unterstützer*innen Orbáns. In den Zeitungen der Opposition wird Orbán als Marionette Putins dargestellt, dessen Politik das Ende Ungarns bedeutet. Orbán antwortet ebenso scharf.
Um die Macht der Regierung zu konsolidieren greift Orbán einerseits auf eine immer weitere Zuspitzung der öffentlichen Debatte zurück – zum Beispiel bezeichnete er die streikenden Lehrer*innen als „homosexuelle Kommunist*innen“ oder die Politiker*innen der EU-Institutionen aus Brüssel als „Scharfschützen, die auf Ungarn schießen, die schon bekommen werden, was sie verdienen“ – andererseits greift er vermehrt auf direkte bonapartistische Mittel zurück. Orbáns großer Wahlerfolg zu Beginn des Jahres kann neben der staatlichen Propaganda un´d eingeschränkten demokratischen Rechte auch durch seinen öffentlich finanzierten Wahlgeschenken erklärt werden, wie die Verbilligung von Benzin und anderen „Entlastungsmaßnahmen“. Aktuell soll mit der „Nationalen Konsultation“, einer Volksbefragung, die öffentliche Meinung zum Kurs der Regierung ermittelt werden. Die Frage lautet: „Der Preisanstieg bei Erdgas wird auch landwirtschaftlich Produkte stark verteuern (…) Der Preisanstieg für Nahrungsmittel in Entwicklungsländern erhöht das Risiko für Hungersnöte. Das wird zu noch größeren Wellen der Migration führen als bisher schon. Und so den Druck auf Europas Außengrenzen erhöhen. Sind Sie für die Sanktionen, die die Lebensmittelpreise erhöhen?“ Ganz Ungarn ist voll mit Regierungsplakaten, die erklären, dass die Sanktionen aus Brüssel den Untergang Ungarns bedeuten. Es ist klar, dass mit dieser Fragestellung und der massiven staatlichen Kampagne keine freie, demokratische Diskussion und Meinungsäußerung möglich ist. In dieser Woche ist gleichzeitig eine Auseinandersetzung im Parlament über eine vorgeschlagene Gesetzesänderung der Orbán-Regierung ausgebrochen, die eine umfassende Rücknahme staatlicher Sozialleistungen bedeuten könnte.
Sozialistische Alternative nötig
In der aktuellen Situation ist es möglich, das die Opposition erstarkt. Doch die sozialdemokratischen, liberalen und bürgerlichen Parteien bieten keine reale Alternative. Sie beschränken sich darauf Orbán zu einer Marionette Putins zu deklarieren. Ihr Hauptfokus ist der Kampf für Reformen, die ein paar undemokratische Züge des Regimes rückgängig machen würden, umso auch wieder von der EU als „Demokratie“ anerkannt zu werden, sowie die Umsetzung der Sanktionen gegen Russland. Dadurch hätte Ungarn wieder Anspruch auf europäische Fördergelder. Zwar ist es notwendig für demokratische Rechte zu kämpfen, aber ist eine Illusion zu glauben, dass die EU hierbei ein verlässlicher Partner ist oder sich durch EU-Gelder allein die finanzielle Situation der Mehrheit der Ungar*innen verbessern würde. Vielleicht fallen ein paar Brotkrumen ab, aber am Ende stopft sich eine reiche Elite die Taschen voll. Und es war die EU, die in der Vergangenheit neoliberale Maßnahmen von Ungarn forderte und durchsetzte. Die Umsetzung der Sanktionen gegen Russland würde eine Kostenexplosion mitten im Winter bedeuten, die für die gewaltige Mehrheit der Ungar*innen nicht zahlbar ist.
Es braucht eine Opposition, die sich sowohl gegen Orbán stellt, als auch Illusionen in die pro-kapitalistische EU entgegentritt und einen unabhängigen Klassenstandpunkt einnimmt. Es ist nötig den Kampf für demokratische Rechte mit dem Kampf für soziale Veränderungen verbinden – für zum Beispiel eine automatische Anpassung der Löhne und Sozialleistungen an die Inflation, für Preiskontrollen und -obergrenzen und Verstaatlichungen großer Banken und Konzerne unter demokratischer Kontrolle und Verwaltung. Das könnte die Grundlage für eine sozialistische Demokratie sein, in der die Arbeiter*innenklasse und Jugend über Politik und Wirtschaft bestimmt. Der Kampf für demokratische Rechte und weitergehende Forderungen kann nicht über NGOs und eine rein parlamentarischen Fixierung stattfinden. Es braucht koordinierte Proteste und Streiks aller Schichten der Arbeiter*innenklasse und der Jugend. Dass die Gewerkschaften langsam in Bewegung geraten, kann der Beginn neuer Streiks und Bewegungen sein. Die aufbegehrende Jugend und die Gewerkschaften, wenn diese ihre Verbindungen zur ehemaligen stalinistischen, jetzt sozialdemokratischen MSZP kappen, können der Ausgangspunkt für die Entstehung eine unabhängigen Arbeiter*innenpartei sein.