„Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“
Der Krieg in der Ukraine dauert schon bald ein Dreivierteljahr. Frieden ist nicht in Sicht, stattdessen gab es eine weitere Eskalation: auf ukrainische Geländegewinne im September reagierte das Putin-Regime mit der Einberufung von Reservist*innen und verstärkte Zerstörung von Infrastruktur.
von Wolfram Klein, Plochingen bei Stuttgart
Der weitere Kriegsverlauf lässt sich nicht sicher voraussagen, nicht zuletzt, weil nach einer alten Redewendung das erste Opfer im Krieg die Wahrheit ist.
Aber für die Position, die Marxist*innen zu Kriegen einnehmen, ist das auch nicht zentral. Im Gegenteil warnte der russische Revolutionär Trotzki 1938, die eigene Position vom mutmaßlichen Kriegsverlauf abhängig zu machen. „Mit solchen Mutmaßungen wird jeder unvermeidlich die Variante wählen, die seinen eigenen Wünschen, seinen eigenen nationalen Sympathien und Antipathien am besten entspricht.“
Statt dessen beginnen Marxist*innen mit dem bekannten Satz des Militärtheoretikers des 19. Jahrhunderts, Clausewitz, dass der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist. Also muss man schauen, welche Politik die Staaten (für Marxist*innen heißt das: die herrschenden Klassen in diesen Staaten) vor dem Krieg betrieben haben.
Russland – die Ukraine – der Westen
Russland unter Putin betreibt seit Jahrzehnten eine reaktionäre, repressive Innenpolitik, arbeitet mit rechtspopulistischen und faschistischen Kräften im eigenen Land und im Ausland zusammen. Wenn Putin behauptet, in der Ukraine den Faschismus zu bekämpfen, ist das grotesk. In Tschetschenien und Syrien hat Russland brutale Kriege geführt. Wenige Tage vor Kriegsbeginn hat Putin Lenin und der Oktoberrevolution 1917 vorgeworfen, dass sie das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine anerkannten. Russlands Krieg in der Ukraine ist so reaktionär wie die Politik, aus der er hervorging.
Aber das heißt nicht, dass die ukrainische kapitalistische Regierung unterstützenswert wäre. Seit dem „Euro-Maidan“ 2013-14 gab es eine Diskriminierung der russischsprachigen Minderheit und acht Jahre Krieg auf niedriger Stufenleiter mit den abgespaltenen „Volksrepubliken“ im Osten mit über zehntausend Toten auf beiden Seiten. Linke Organisationen und Symbole wurden verboten, Gewerkschaftsrechte angegriffen. Selenskyj erzielte einen Erdrutschsieg mit dem Versprechen, die ukrainischen Oligarchen zu bekämpfen und eine Entspannung mit Russland anzustreben … und machte dann das genaue Gegenteil.
Und die westlichen Staaten, die die Ukraine unterstützen – die USA, Deutschland & Co. – betreiben die Ausplünderung der „Dritten Welt“. In der Innenpolitik sichern die Regierungen die Profite der kapitalistischen Konzerne auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung. Sie haben selbst Angriffskriege geführt, ob gegen Jugoslawien 1999, Afghanistan 2001 oder den Irak 2003. Kein Öl aus Russland zu importieren, weil es in der Ukraine Krieg führt, aber Öl aus Saudi-Arabien, das im Jemen ebenso brutal Krieg führt, ist offensichtlich Heuchelei. Bei ihrer Unterstützung der Ukraine geht es nicht um ein angegriffenen kleines Land, sondern um die Schwächung des konkurrierenden russischen Imperialismus, ohne Rücksicht auf die arbeitenden Menschen in der Ukraine, in Russland und auch im Westen.
Selbstbestimmungsrecht
Linke dürfen in diesem Krieg keine der beteiligten Regierungen unterstützen, sondern in allen beteiligten Ländern den Widerstand von unten. Organisationen, die meinen, die „angegriffene Ukraine“ unterstützen zu müssen, unterstützen faktisch die ukrainische Regierung und ihre imperialistischen Verbündeten. Wenn sie Erfolg haben, besteht die Gefahr, dass die ukrainische Armee in der Ostukraine oder auf der Krim ähnliche Verbrechen begeht, wie sie die russische Armee in den letzten Monaten beging.
Marxist*innen treten für das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine, aber auch das Selbstbestimmungsrecht von Minderheiten in der Ukraine ein. Putins Volksabstimmungen in den besetzten Gebieten waren eine Farce, aber Volksabstimmungen nach einer demokratischen Diskussion (nach Rückkehr der Geflüchteten und Abzug aller auswärtigen Truppen) wären eine Grundlage, den Status der Ostukraine zu entscheiden.
Der französische Sozialist Jaurès sagte einst: „Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen“. Wir müssen daher den Kampf gegen den Krieg mit dem gegen den Kapitalismus verbinden.