Österreich: “Instabilität ist die neue Normalität”

Lage und Perspektiven der Alpenrepublik

Wie in vielen Teilen der Welt ist Instabilität das Hauptmerkmal der österreichischen Regierung in diesen Tagen. Aufgrund der hohen Geschwindigkeit der Ereignisse müsste dieser Artikel wahrscheinlich schon bald aktualisiert werden. Dies steht in Gegensatz dazu, dass Österreich in der Vergangenheit (und insbesondere in den 1970er Jahren) als “Insel der Seligen” galt und globale Entwicklungen (wie die 68er-Bewegung) erst Jahre später nachvollzogen wurden. 

Von Laura Rafetseder, Sozialistische Offensive (CWI in Österreich)

Die Energiekrise führt dazu, dass die Menschen befürchten, dass sie ihre Häuser und Wohnungen im Winter nicht mehr heizen können. Die Lebensmittelpreise steigen. Es gibt Berichte über Doppelselbstmorde von Rentner*innen, weil sie sich die Pflege nicht mehr leisten können. Gleichzeitig beginnt sich aber auch Gegenwehr zu entwickeln.


Die Probleme häufen sich – erst die Pandemie, jetzt die Energie- und Teuerungskrise, dazu die Klimakrise und eine Wirtschaft, die in hohem Maße von russischem Gas, Tourismus, der deutschen Autoindustrie und Italien abhängig ist. Die beiden größten Handelspartner, Deutschland und Italien, befinden sich in der Krise (drohende Rezession bzw. Staatsschuldenkrise). Es gibt Schätzungen, dass ein Drittel der österreichischen Unternehmen nicht mehr produzieren könnte, wenn Russland das Gas abstellt. Gleichzeitig hat Österreich 2022 vor allem in der ersten Jahreshälfte ein relativ starkes Wachstum verzeichnet (vor allem auch aufgrund des Tourismus), was gemeinsam mit der Inflation dazu führt, dass die Gewerkschaften stärker unter Druck stehen, einen Teuerungsausgleich zu erkämpfen. 


Instabile Regierung


Die derzeitige Koalitionsregierung aus ÖVP und Grünen ist keine Ausnahme von dieser Instabilität. Sie ist seit ihrem Amtsantritt im Jahr 2019 instabil. Gewählt wurde sie im Zuge des “Ibiza-Skandals” im Jahr 2019, bei dem FPÖ-Chef Strache im Gegenzug für Spenden an die Nichte eines mutmaßlichen russischen Oligarchen Regierungsmaßnahmen versprach. Sebastian Kurz, der 2017 nach der Geflüchteten“welle“ auf Basis rechtspopulistischer Positionen gewählt worden war, war zu diesem Zeitpunkt noch Regierungschef. Er wurde schließlich 2021 aus dem Amt gedrängt, als weitere Skandale bekannt wurden, in die seine engsten Mitstreiter verwickelt waren. Es wurden detaillierte Chats bekannt, in denen offensichtlich wurde, dass sie ihren Aufstieg zur Macht geplant und die Medien sowie Steuergelder für dieses Vorhaben genutzt hatten. Diese Chats sind nun im Oktober wieder Gegenstand der öffentlichen Diskussion – da es nun mit Thomas Schmid einen Kronzeugen gibt, der Sebastian Kurz belastet, der aber auch selbst im Zentrum der korrupten Machenschaften stand. 

Im Lichte des Ukraine-Krieges und der Konflikte zwischen dem Westen und Russland wird nun deutlicher, dass ein Teil der herrschenden Klasse unglücklich darüber war, wie Kurz und die Rechtspopulist*innen versucht hatten, Österreich auf einen russlandfreundlichen Kurs zu lenken, was zu einer Situation führte, in der Österreich zu achtzig Prozent von russischem Gas abhängig war.

Die jüngste parlamentarische Untersuchungsausschuss, der in den letzten Wochen mit der Untersuchung der Skandale betraut wurde, war im September vor allem damit beschäftigt, die Entscheidungen der türkisen ÖVP (damit ist der Teil der ÖVP gemeint, die Sebastian Kurz unterstützt) in Bezug auf das Führungspersonal des ehemals staatlichen und jetzt nur noch zu 31,5  Prozent in öffentlichem Besitz befindlichen Ölkonzerns OMV und damit auch die strategischen Entscheidungen des Ölkonzerns zu beleuchten.

Sebastian Kurz wurde 2021 durch den ehemaligen Innenminister Karl Nehammer ersetzt, der die Regierungskoalition mit den Grünen fortsetzte. Die ÖVP ist von bis zu 37,5 Prozent bei den Wahlen 2019 auf zwanzig Prozent in den letzten Umfragen gefallen. Die Regierung ist höchst instabil und zutiefst unpopulär. Nehammer ist laut einer internationalen Umfrage von morning consult 2022 mit einem Minus von 42 Punkten das “unbeliebteste Staatsoberhaupt”.  

Angst von ÖVP und Grünen vor Neuwahlen

Die Regierung wurschtelt weiter, weil es an Alternativen fehlt und weil beide Regierungsparteien befürchten, bei Neuwahlen stark dezimiert zu werden. Außerdem stehen mehrere für die ÖVP wichtige Regional- und Kommunalwahlen an (insgesamt fünf in den Jahren 2022 und 2023). Die erste davon, die Landtagswahl in Tirol, ist bereits geschlagen, und die ÖVP hat von mehr als 44 Prozent beinahe zehn Prozentpunkte auf 34,7 Prozent verloren. Das bedeutet, dass sie nicht mehr unangefochtene Nummer eins in diesem alpinen, vom Tourismus geprägten Bundesland ist. Davor waren in Umfragen so hohe Verluste für die ÖVP kolportiert worden, dass die ÖVP über das Minus von zehn Prozentpunkten erleichtert war und dieses tatsächlich als Erfolg verkaufte. Auch in Niederösterreich kann im Jänner 2023 eine demütigende Niederlagen für die ÖVP drohen. Jede einzelne dieser Wahlen könnte eine akute Krise und Führungsdebatte in der ÖVP und einen Sturz der Regierung auslösen. Dies dürfte bei der Tirol Wahl noch ausgeblieben sein, aber die Spannungen zwischen den Koalitionspartnern und innerhalb der Parteien werden zunehmen. Bis zu einem gewissen Grad sind Teile der herrschenden Klasse besorgt über eine gewisse “Italianisierung” der österreichischen Politik, die die Möglichkeit des Verlustes ihrer traditionellen Partei und einer Fragmentierung der politischen Landschaft bedeuten würde. Es gibt in der herrschenden Klasse aber auch eine Diskussion darüber, ob es Neuwahlen geben sollte. Ein Teil argumentiert, dass Wahlen für reinen Tisch und für mehr finanzielle Stabilität sorgen würden, da die aktuelle Regierung ständig mit der Angst vor Neuwahlen lebt und daher “Geld verteile”. 

So besteht z.B. die Möglichkeit, dass die verbliebenen Kurz-Getreuen eine eigene Partei gründen. Im September trat die Kurz-Vertraute Laura Sachslehner als Generalsekretärin zurück – sie hatte die FPÖ-Forderung aufgegriffen, dass Asylwerber*innen keinen “Klimabonus” bekommen sollten, eine der Leistungen, die die Gaspreiserhöhung für die Bevölkerung abmildern sollten. Da sie dies zur Koalitionsbedingung gemacht und den Grünen ein Ultimatum gestellt hatte, wurde sie von Kanzler Nehammer, der um die Stabilität seiner Regierung besorgt war, zum Rückzug aufgefordert. Sie ging zurück zur ÖVP Wien, wo sie nun als Gemeinderätin tätig ist. Die ÖVP Wien gilt als letzter Zufluchtsort der türkisen ÖVP, die teilweise im Konflikt mit der Bundespartei steht.  

Die Grünen haben die in sie gesetzten Hoffnungen zur Linderung der Klimakrise nicht erfüllen können – im Gegenteil, sie stimmten der Umstellung eines Kraftwerks in Kärnten von Gas auf Kohle zu. Hinzu kommt, dass Österreich, das aufgrund des hohen Anteils an Wasserkraftwerken traditionell einen hohen Anteil an sauberem Strom hatte, nun Probleme hat, weil der trockene Sommer dazu führt, dass weniger Strom aus den Wasserkraftwerken kommt. Die grüne “Klima- und Energie”-Ministerin Leonore Gewessler hat nun Mühe, die Energiekrise zu bewältigen. Das Hauptargument, mit dem sich die Grünen in der Regierung zu legitimieren versuchen, ist, dass mit grüner Justizministerin gesichert ist, dass die Justiz die Skandale um Sebastian Kurz in Ruhe aufarbeiten kann, ohne von der ÖVP gestoppt zu werden. 

Vakuum auf der Linken bei den Präsidentschaftswahlen

Bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober, die Alexander Van der Bellen im Amt bestätigt haben, waren vier der sieben Kandidaten rechtspopulistische Kandidaten (und ein fünfter hatte zumindest solche Elemente in seiner Politik). Der Präsident hat hauptsächlich repräsentative Aufgaben, ist aber auch Chef der Armee und kann eine Regierung einberufen und potentiell absetzen. Ein Teil der Kandidaten kommt aus oder stützt sich auf die Impf-Gegner*innen-Bewegung. Sie alle waren jedoch gezwungen, die Frage der Teuerung aufzugreifen bzw. sich für Neutralität auszusprechen, d. h. gegen einen Nato-Beitritt und gegen die Sanktionen. Im Unterschied zur letzten Präsidentschaftswahl 2016 dominiert im Moment nicht Rassismus die Diskussion. Das kann sich aber ändern, und das Asylthema beginnt, angesichts überfüllter Aufnahmeeinrichtungen wieder an die Oberfläche zu drängen. 


Der ernsthafteste Konkurrent der FPÖ auf den Einzug in die zweite Runde war jedoch der als Marco Pogo bekannte Dominik Wlanzy von der sogenannten “Bierpartei”, der auf 8,3 Prozent kam und nun eine gute Ausgangslage für eventuelle Nationalratswahlen besitzt. Bei der Bierpartei handelt es sich im Grunde um ein Satire-Projekt. In Ermangelung einer echten Alternative in Form einer Arbeiter*innenpartei, zieht sie durchaus Unterstützung an – in Wien kam sie auf den zweiten Platz, vor der FPÖ. Obwohl Dominik Wlanzy beteuert, weder links noch rechts zu sein, sehen ihn einige als links an, da er einen anarchistischen Hintergrund hat. 

Obwohl er auf seinen Wahlplakaten eine soziale Rhetorik anschlug, unterscheidet er sich in entscheidenden Fragen nicht wirklich von den etablierten Parteien. In einer Wahldebatte machte er deutlich, dass er die EU unterstützt, die Sanktionen befürwortet und hat sich für eine Reform der Armee ausgesprochen (wobei er sich nicht klar darüber äußert, in welche Richtung), während er die “Neutralität” unterstützt. Die Unterstützung für die Bierpartei kann flüchtig sein, da er keine klare Alternative für die Arbeiter*innenklasse bietet und faktisch den Kapitalismus unterstützt. Das gute Ergebnis der Bierpartei zeigt ein Potenzial links der etablierten Parteien. Hätten die KPÖ und LINKS eine*n gemeinsamen Kandidat*in aufgestellt, hätte diese*r ebenso einen Achtungserfolg erzielen können und hätte das ein Sprungbrett für eine Kampagne für eine neue linke Arbeiter*innenpartei und eine gemeinsame linke Kandidatur bei den nächsten Nationalratswahlen sein können.

Spannungen in den Parteien

Während die rechtsextreme Freiheitliche Partei (FPÖ) und die prokapitalistische sozialdemokratische SPÖ in Umfragen relativ gut abschneiden, sind beide auch nicht vor Krisen, Spaltungen und Debatten gefeit.

Seit Hans-Christian Strache im Ibiza-Skandal als FPÖ-Chef zurücktreten musste, hatte Herbert Kickl mehr und mehr die Kontrolle über die Partei übernommen und seinen Konkurrenten Norbert Hofer an den Rand gedrängt. Der Flügel um Hofer, versucht für die herrschende Klasse verlässlicher und “verantwortungsvoller” zu erscheinen, um als regierungsfähig zu gelten. Kickl versucht unterdessen, auf die Anti-Impf-Bewegung aufzuspringen, die auch ein Anti-Establishment-Image hat. Dieser Konflikt zeigte sich erneut in einem Konflikt zwischen der FPÖ Wien und Kickl über Versuche des letzteren, die Wiener Partei zu boykottieren.

SPÖ verwaltet den Kapitalismus


Die Sozialdemokraten kamen durch die Krise von “Wien Energie”, das sich zu hundert Prozent im Besitz der SPÖ-regierten Stadt Wien befindet, unter Druck. Um das Unternehmen zu retten, hat Wiens Bürgermeister Michael Ludwig Sicherheiten durch öffentliche Gelder gewährt, aber niemandem davon erzählt. Damit hat sich die SPÖ jedoch lediglich brav an die kapitalistischen Gesetze gehalten – als Bürgermeister einer Stadt hat Ludwig diese Macht und aufgrund der liberalisierten Märkte entsprach das Verhalten von Wien Energie genau der Rechtslage und der gängigen Praxis der Energieunternehmen. Die SPÖ hat Wien Energie einfach nach kapitalistischen Gesichtspunkten geführt und die Vorteile der liberalisierten Energiemärkte voll ausgenutzt. Die Liberalisierung wurde in den 1990er Jahren von ÖVP und SPÖ vorbereitet und war eine Voraussetzung für den EU-Beitritt 1994. Das Gesetz zur Liberalisierung wurde dann 2001 von ÖVP und FPÖ verabschiedet. Die krisengeschüttelte ÖVP hatte versucht, mit einem vermeintlichen “Skandal” der “Spekulation” von ihrer eigenen Korruption abzulenken, dabei aber verschwiegen, dass sie für die Liberalisierung der Energiemärkte mitverantwortlich war und die unter ihrem Einfluss stehenden Energieunternehmen dieselben Marktinstrumente nutzen.

Während der “Skandal” der relativen Popularität der SPÖ kaum geschadet zu haben scheint, offenbart er dennoch die Art und Weise wie die SPÖ sich den Märkten und der Verwaltung des Kapitalismus verschrieben hat – und was sie tun würde, wenn sie an der Macht wäre. Die SPÖ-Vorsitzende Pamela Rendi Wagner forderte zum Beispiel zwar die Verstaatlichung der OMV – aber die SPÖ mobilisiert nicht dafür. Und die SPÖ stellt nicht in Frage, wie die Wien Energie von der SPÖ in Wien als “normales” kapitalistisches Unternehmen geführt wird. Gleichzeitig bereitet sich die SPÖ auf eine Regierungsbeteiligung, in welcher Form auch immer, vor – indem sie auch der Industrie signalisiert, dass die SPÖ ein verlässlicher Partner ist. 

Ampel oder große Koalition

Die SPÖ wird sehr wahrscheinlich an der nächsten Regierung beteiligt sein, aber es ist nicht klar, wie genau das aussehen wird. Es könnte eine “Ampel” mit Grünen und Liberalen geben wie in Deutschland, aber die SPÖ hat Konfliktpunkte mit beiden. Die SPÖ Wien war früher in einer Koalition mit den Grünen und ist jetzt in einer Koalition mit den liberalen NEOS, wobei sie in beiden Situationen die dominierende Partnerin war. Mit den Grünen ist die SPÖ Wien unterschiedlicher Auffassung über den Bau einer Autobahn im Nordosten von Wien-Aspern, die durch ein Naturschutzgebiet gehen soll. Der bevorzugte Koalitionspartner auf Bundesebene wäre in den Augen von Wiens Bürgermeister Michael Ludwig die ÖVP. Darin ist er auf einer Linie mit der sozialdemokratisch dominierten Gewerkschaftsführung. In Tirol deutet zum Beispiel einiges auf eine “große Koalition” zwischen SPÖ und ÖVP hin. Eine große Koalition bedeutet, dass die Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und der Gewerkschaftsführung quasi institutionalisiert wird. Als solche wäre sie auch eine Fessel für mögliche Klassenkämpfe. Die Frage ist, ob SPÖ und ÖVP gemeinsam noch eine Mehrheit hätten und ob sie es schaffen, die Konflikte der Vergangenheit hinter sich zu lassen (Sebastian Kurz hatte bekanntlich mit der Tradition der großen Koalitionen in Österreich gebrochen). Ein weiterer Grund dafür, warum sich die SPÖ nicht auf eine Ampel festlegen möchte, ist, weil sie spekuliert, ehemalige ÖVP Wähler/innen auf diese Art und Weise gewinnen zu können.

Der ehemalige SPÖ-Kanzler Christian Kern stand Gerüchten zufolge im Zentrum einer möglichen Abspaltung der SPÖ – doch diese wäre in eine liberale Richtung gegangen und hätte auf städtische Mittelschichten abgezielt. Letztlich dürfte dieses Gerücht lediglich Druckmittel sein, um die SPÖ in eine Koalition mit den Grünen und Liberalen zu drängen. Aber selbst wenn es der SPÖ gelingen sollte, eine solche Regierung zu bilden, wird sie mit der Eindämmung und Bewältigung der Krise zu kämpfen haben – und Deutschland zeigt, welche Art von Politik eine solche Koalition umsetzen würde.  

Ein Faktor, der ein wenig unberechenbar ist, ist der SPÖ-Landeshauptmann des Burgenlandes, Ernst Doskozil. Er orientiert sich an Sahra Wagenknecht und stellt soziale Forderungen auf, während er gleichzeitig gegenüber nationalistischen und migrant*innenfeindlichen Positionen nachgibt. So kritisierte er die Forderung der Gewerkschaften nach 2000 Euro Mindestlohn brutto als zu niedrig, schloss sich aber gleichzeitig der FPÖ-Forderung an, dass Asylwerber*innen keinen Klimabonus bekommen sollen. Wie Wagenknecht kann er ein verkomplizierender Faktor auf dem Weg zu einer neuen linken Partei sein.

Heißer Herbst und Streikdrohungen in den Lohnrunden

All das ist der Hintergrund vor dem jetzt aber der Druck von unten auf die Gewerkschaften wächst. Im November fanden Streiks bei den Freizeitbetreuer/innen an den Schulen statt. Weitere Branchen könnten folgen, die Bahn hat eine Streikfreigabe, der Handel, die Brauereien, die Ordensspitäler und der Sozialbereich halten Betriebsversammlungen ab. Die Radbot/innen von Mjam haben zwei Demonstrationen für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne abgehalten. Die für 7.11. angekündigten Warnstreiks in der Metallindustrie wurden aber in letzter Sekunde abgesagt – mit einem Abschluss der durch die Bank unter der aktuellen Inflation gelegen ist (Mindestlöhne stiegen um sieben Prozent, die Löhne darüber um einen Sockelbetrag von 75,- Euro plus 5,4 Prozent). Bei den Austrian Airlines hingegen konnte mit einer Streikdrohung ein Abschluss von 10,4 Prozent erzielt werden. Dort gab es allerdings gleichzeitig ein Sparpaket, das nun “abgemildert wurde”. Wenn es bei der AUA zu Streiks gekommen wäre und diese mit den Streiks bei den Metaller*innen und der Bahn koordiniert worden wären, hätte das Sparpaket möglicherweise komplett gestoppt werden können. Es ist zu erwarten, dass in den anderen Branchen ähnliches wie im Metallsektor folgen könnte. Wobei es im Sozialbereich eine gewisse Organisierung von unten gibt, mit ein Grund warum die Forderung dort mit 15 Prozent höher war, als bei den Metaller*innen mit 10,4 Prozent. 

Im Vorfeld der Lohnrunden hatte es durchaus Druck in Richtung Streiks gegeben. ÖGB-Chef Katzian musste sich gegen Versuche der EU-Kommission, das Streikrecht anzugreifen, aussprechen, ein Zeichen für den wachsenden Druck von unten. Auf Ö1, einem der öffentlich-rechtlichen Radiosender, der nun selbst von einem Sparpaket betroffen ist, gab es ein Feature zum Thema Streiks. 

2018 hatte es bereits einen Build-up in den Lohnrunden gegeben, mit Warnstreiks bei der Bahn und im Metallbereich. Auch 2021 gab es Warnstreiks im Metallsektor. Im Frühjahr hatte es Warnstreiks bei Chemie und Elektro gegeben. Diesmal könnten weitere, traditionell schwächer organisierte Branchen dazu kommen. Durch den Personalmangel nach der Pandemie und Pensionierungswellen in mehreren Sektoren, sowie das Bewusstsein in den “Systemerhalterbranchen” über ihre Bedeutung für die Gesellschaft steigt das Selbstbewusstsein. Bei den Kindergärtner*innen hatte es in den letzten Jahren mehrere von unten organisierte Demonstrationen gegeben. In Kärnten gab es dazu nun einen Gesetzesvorschlag, der eine Anhebung der Einstiegslöhne um 43 Prozent sowie einen besseren Betreuungsschlüssel (Gruppengröße von 20 statt 25) und Verbesserungen der Arbeitsbedingungen vorsieht. Wenn mehrere dieser Kämpfe Erfolge erzielen, könnte das das Selbstbewusstsein weiter steigern. Was aber in den meisten Branchen noch fehlt ist eine Vernetzung in den Gewerkschaften von Aktivist*innen von unten. 

Den Lohnrunden zuvor ging am 17.9.2022 eine Demonstration des ÖGB (Österreichischer Gewerkschaftsbund) zur Teuerung, an der 30.000 Menschen teilnahmen. Es ist gut, dass es diese Demonstration gab, vor allem um das Thema Inflation nicht den Rechten zu überlassen. Die Demonstration blieb aber weit hinter den Möglichkeiten des ÖGB zurück – 2018 hatte der ÖGB 100.000 Menschen gegen den 12-Stunden-Tag mobilisiert, 2003 200.000 gegen die Pensionskürzungsreform. Die Gewerkschaftsführung hatte es verabsäumt in den Betrieben zu mobilisieren, indem sie sich nur auf die Forderung “Preise runter” konzentrierte (dies war das offizielle Motto der Demonstration) und die Frage der Löhne und Einkommen nicht aufgriff. 

Angesichts des steigenden Drucks in den Lohnrunden hätte diese Demonstration ein machtvoller Startpunkt für eine gewerkschaftliche Bewegung rund um die Lohnrunden und für die Vereinigung der Kämpfe in den verschiedenen Branchen werden können. Branche um Branche holt sich nun eine Streikfreigabe. Mit einer Demonstration die die Forderung “Kein Abschluss unter der aktuellen Teuerung” aufstellt, könnten mindestens 100.000 mobilisiert werden und die Voraussetzung für gemeinsame und koordinierte Streiks gelegt werden. 

Obwohl sich die ÖGB-Führung auf die durchschnittliche Inflation des letzten Jahres als eine Grundlage der Lohnforderung stützt (zu Beginn der Herbstlohnrunde im September war dies 6,3 Prozent), war sie gezwungen bei den Lohnforderungen durchwegs Forderungen über der aktuellen Inflation (die im September 10,5 Prozent betrug) aufzustellen. Der ÖGB hat auch angekündigt, dass er für einen branchenübergreifenden Mindestlohn von 2000 Euro brutto kämpfen will (vor allem in Niedriglohnbranchen wie bei den Friseurinnen), was bedeutet, dass er zumindest eine Art von koordinierter Aktion braucht, um dies durchzusetzen. Auch das ist Ausdruck des steigenden Drucks von unten. 

Die ÖGB-Spitze beruft sich traditionell auf die so genannte “Benya-Formel”, benannt nach dem Gewerkschaftsführer Anton Benya, der diese “Formel” in den 1960er Jahren prägte: Die Lohnforderung umfasse sowohl die durchschnittliche Inflation des vergangenen Jahres als auch eine Produktivitätssteigerung. Nach der neoliberalen Offensive in den 90er Jahren wurde diese Formel teilweise zugunsten von Lohnerhöhungen knapp über der Inflation aufgegeben. Der springende Punkt ist, dass die ÖGB-Führung darauf besteht, dass die Inflationsrate, die die Grundlage für die Verhandlungen bilden soll, die durchschnittliche Inflationsrate des vergangenen Jahres sein muss. Das bedeutet, dass sie alles, was über 6,3 Prozent liegt (was derzeit die durchschnittliche Inflationsrate ist), als Reallohnerhöhung verkaufen können, während es in Wirklichkeit ein Reallohnverlust ist. In Zeiten sinkender Inflation kann eine solche durchschnittliche Inflationsrate des vergangenen Jahres für die Arbeiter*innen von Vorteil sein, aber jetzt bedeutet das, dass der ÖGB lediglich versucht, über die Vergangenheit zu verhandeln.  Es gab eine Studie, die besagt, dass die Reallöhne in Österreich im Jahr 2022 um 4,2 Prozent sinken werden, während der EU-Durchschnitt bei 2,9 Prozent liegt – was wahrscheinlich darauf zurückzuführen ist, dass die Löhne im vergangen Jahr nicht mit der Inflation mithalten konnten. 

Die Gewerkschaftsführung hat im Moment noch etwas mehr Spielraum, um Proteste zu organisieren – bis zu einem gewissen Grad.  Die Gewerkschaftsführung ist immer noch eng mit der SPÖ verbunden – und in Österreich ist diese im Moment in der Opposition. Das wird sich aber definitiv ändern, sobald die SPÖ wieder Teil einer Bundesregierung ist. Insofern ist eine SPÖ in der Regierung eine Drohung, weil sie Widerstand erschwert. Die Tatsache, dass die SPÖ zur Zeit in der Opposition ist, bedeutet aber, dass die Gewerkschaften mehr Spielraum hatten: für die Demos am 17. September, für Säbelrasseln in den Lohnrunden und für die Betriebsrät*innenkonferenz zum Thema Inflation im vergangenen Frühjahr. Aber auch das Säbelrasseln könnte sich schon wieder einem Ende zu neigen – denn in den letzten Tagen hat die SPÖ medial immer stärker betont, dass sie eine gute Basis mit der Industrie sucht und sich auch als deren Vertreterin sieht. Dadurch hatte die extreme Rechte weniger Raum sich zu profilieren. Im Gegensatz zu dem, was die Medien zu suggerieren versuchten, finden im Gegensatz zur Pandemiezeit derzeit keine großen Demos der extremen Rechten statt. Es gab zwei kleinere Demos zu den Themen Inflation und Energie, die beide von der Linken organisiert wurden. Versuche der extremen Rechten teilzunehmen wurden abgewendet. Dazwischen gab es kleinere Demonstrationen aus dem Coronaleugner*innen-Lager, aber keine hatte wirklich medialen Impact. Dennoch ist die rechte Gefahr aufgrund der Polarisierung und dem Vakuum auf der Linken nicht abgewendet – vor allem wenn die Lohnabschlüsse hinter der aktuellen Inflation zurück bleiben, wie der Metallabschluss mit durchschnittlich 7,4 Prozent. 

KPÖ-Graz

Auch die KPÖ-Graz ein Faktor im politischen Mix. Die Tatsache, dass die KPÖ in Graz mit Elke Kahr nun die Bürgermeisterin stellt, hatte die ÖVP in Panik versetzt und zu antikommunistischer Rethorik verleitet. Nach einem Jahr KP-geführte Stadtregierung ist diese aber bereits in Bedrängnis. Die KP hatte zwar angekündigt, die Mieten und Gebühren nicht zu erhöhen – was in scharfem Gegensatz zu dem steht, was die SPÖ in Wien tut. Die Ankündigung, die Gebühren nicht zu erhöhen, musste sie aber bereits zurücknehmen. Es war klar, dass eine “kommunistisch” geführte Stadtregierung mit Angriffen durch die herrschende Klasse zu rechnen haben würde. Einer dieser Angriffe war ein geleakter Bericht des Grazer Stadtrechnungshofes im November über eine “Grazer Finanzkrise”, in dem der Rechnungshofdirektor aufgrund der unsicheren Finanzsituation die Einsetzung eines Regierungskommissars und Neuwahlen empfahl – eindeutig politisch motiviert. Die Kommunen sind generell im Moment aufgrund der Teuerung und der steigenden Zinsen in finanzieller Bedrängnis. Graz ist dabei keine Ausnahme. Zusätzlich hatte die neue Stadtregierung Schulden der alten ÖVP/FPÖ-Stadtregierung geerbt. Das Problem ist, dass die KP-Graz bereit ist, nach kapitalistischen Spielregeln zu spielen. Ihre Reaktion auf den Angriff war, zu beschwichtigen, sich darauf zu berufen, dass man die Unterstützung des ÖVP-Landeshauptmanns in der Steiermark habe und Maßnahmen zur Konsolidierung vorzulegen. Kahr betonte zwar, man wolle kein Personal abbauen und werde die Lohnerhöhungen des Bundes bei den Bediensteten der Stadt nachziehen. Allerdings werden Posten nicht nachbesetzt, was ebenfalls eine Form des “softeren” Personalabbaus ist, der letztlich die Arbeit verdichtet. Und weiters werden eben die Gebühren doch erhöht. Durch solche “Konsolidierungsmaßnahmen” besteht die Gefahr, dass die KP Graz den Bonus, den sie in der Bevölkerung genießt, schnell wieder verspielt. Wer weiß, welche “Konsolidierungsmaßnahmen” noch folgen. Die Regierungspartner der KP sind die Grünen und die SPÖ, die am Kapitalismus festhalten. Die Grünen betonten in der Debatte, dass sie bereits im Frühjahr auf Sparmaßnahmen gepocht hatten. 

Stattdessen sollte die KP-Graz die arbeitende Bevölkerung mobilisieren und andere Kommunen ebenfalls zu Protesten aufrufen, um Druck für mehr Budget durch die Bundesregierung an die Kommunen aufzubauen. Die KP tut das zwar im begrenzten Rahmen, aber nicht zu der entscheidenden Frage des Budgets. Im Oktober hatte es eine Demonstration gegen die Teuerung gegeben, im November gibt es eine Demonstration des Pflegepersonals, die sich aber an das Land Steiermark richtet, das in diesem Fall für die Pflege zuständig ist. Die gegenwärtige Krise wäre eine Möglichkeit, aufzuzeigen, dass der Kapitalismus die Probleme die er schafft nicht mehr lösen kann (wie der ehemalige KP-Stadtrat Ernst Kaltenegger im Rahmen einer 100 Jahrfeier der KP-Knittelfeld selbst sagte). Das sollte die KP offensiv nach außen transportieren und für eine sozialistische Alternative über Graz hinaus argumentieren, die mit dem Kapitalismus bricht. 

Ob die Stadt Graz unter einer KP-Bürgermeisterin ein Modell für andere sein kann, wird nämlich davon abhängen, ob die KPÖ-Graz bereit ist, mit den kapitalistischen Spielregeln zu brechen, um Kürzungen zu vermeiden und den Lebensstandard zu verteidigen. Wenn sie den “Konsolidierungskurs” weiterführt, dann könnte das die Linke wieder zurückwerfen. 


Noch hat die KP Graz das Potential, auf Bundesebene Schritte in Richtung einer neuen Arbeiter*innenpartei zu setzen, möglicherweise gemeinsam mit dem Linksbündnis LINKS, das zusammen mit der KPÖ mehrere Bezirksräte in Wien stellt. Es besteht aber die Gefahr, dass LINKS immer mehr in Richtung einer grünen Partei 2.0 geht. LINKS fokussiert sich inhaltlich sehr weitgehend auf das Thema Klimawandel und hat einen identitätspolitischen Zugang zu Fragen von Unterdrückung und Diskriminierung, ohne auf breitere Teile der Arbeiter*innenklasse zuzugehen und zu versuchen kaum, einen Zugang zu den Gewerkschaften zu entwickeln, um in diesen für kämpferische und demokratische Positionen zu kämpfen. Das kann sich aber natürlich unter dem Eindruck von Klassenkämpfen ändern. Zuletzt hatte auch LINKS die Teuerung aufgegriffen und Initiativen für (kleine) Demonstrationen bzw. für ein Bündnis zur Frage der Teuerung gesetzt, das eventuell ein Ansatzpunkt für weitergehende Entwicklungen sein kann. 

Neue Parteien in der Luft

Es besteht die Gefahr, dass die derzeitige Krise der extremen Rechten zugute kommt – wenn es uns nicht gelingt, die aktuellen Kämpfe zu nutzen und eine echte Partei der Arbeiter*innenklasse aufzubauen. Italien ist eine deutliche Warnung in diese Richtung. 

Es gibt ständig Gerüchte über neue Parteien und Projekte – neue Parteien liegen irgendwie in der Luft, was ein Ausdruck der Unzufriedenheit mit den bestehenden Parteien ist. Da Inflation und Energie die beherrschenden Themen sind, könnte dies zum ersten Mal bedeuten, dass diese Themen in der öffentlichen Meinung in den Vordergrund rücken, was zusammen mit potenziellen Klassenkämpfen ein günstigeres Terrain für das Entstehen einer neuen Arbeiter*innenpartei ist, als das in der Vergangenheit der Fall war. Neue Parteien können aber auch bedeuten, dass das Parteiensystem auf den Kopf gestellt wird. Eine Umfrage im November, die die Bierpartei in einer bundesweiten Umfrage berücksichtigte, gab an, dass die Bierpartei sechs Prozent erhalten würde – und dabei von der SPÖ Stimmen gewinnen würde, die in dieser Umfrage bei 24 Prozent liegt und drei Prozent an die Bierpartei verliert. Die FPÖ würde in diesem Szenario mit 25 Prozent die SPÖ überholen, da sie drei Prozent von der auf 19 Prozent abgestürzten ÖVP “erbt”. Das spiegelt aber letztlich das Zerbröseln der traditionellen Mehrheitsverhältnisse wieder, denn die FPÖ hat diesen “ersten Platz” nicht “erobert” weil so viel Unterstützung für ihre Politik bestünde, und die FPÖ ist immer noch von ihren eigenen Skandalen gebeutelt. Dennoch ist dies ein erster Vorgeschmack auf die instabile Periode in der wir uns befinden, mit sich schnell verändernden Stimmungen. 

Die Stimmung beginnt sich zu radikalisieren – in den letzten drei Jahren wurde alles, was wir kannten, auf den Kopf gestellt. Bei unseren Aktionen der “Sozialistische Offensive”, bei denen wir für eine Alternative zu diesem verrotteten System des Kapitalismus werben, treffen wir zunehmend auf junge Menschen, die sich für marxistische Ideen interessieren. Die Verstaatlichung der Energie wird in der öffentlichen Meinung bereits als einziger Ausweg aus der Krise akzeptiert – doch noch gibt es keine Partei, die das umsetzen will, auch wenn man nicht ausschließen kann, dass es durch den Druck der Ereignisse zu Verstaatlichungen kommt. Die ÖVP hat es nicht einmal geschafft, die Liquiditätskrise von Wien Energie zu nutzen, um eine Privatisierung zu fordern, denn genau die privaten Märkte waren der Kern des Problems. In immer mehr Schichten wachsen die Zweifel an dem System, in dem wir leben, und sie suchen nach Antworten auf die Frage “aber was ist die Alternative”. Eine geplante Wirtschaft wird immer noch mit den bürokratischen Verzerrungen der Sowjetunion in Verbindung gebracht. Aber der Kapitalismus wird zunehmend in Frage gestellt und die Idee, mit dem Kapitalismus zu brechen und ihn durch eine sozialistische Gesellschaft zu ersetzen, die demokratisch nach den Bedürfnissen der Arbeiter*innenklasse und nicht nach den Profiten geplant wird, wird diskutiert werden müssen – auch auf der ehemaligen “Insel der Seligen”, Österreich.

Dieser Artikel erschien zuerst in dem Magazin “sozialismus heute” im Dezember 2022.

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