Erdbeben in der Türkei und Syrien: Die Toten und die Not sind keine Naturkatastrophe

Das Erdbeben von 2011 forderte 17.000 Todesopfer (Foto: CC)

Schlecht gebaute Gebäude, Korruption, Profitgier, fehlende staatliche Hilfskoordination und Ressourcen sind die Ursache des menschlichen Leids

In den frühen Morgenstunden des 6. Februar wurde der Südosten der Türkei und der Norden Syriens von einem verheerenden Erdbeben der Stärke 7,7 in relativ geringer Tiefe erschüttert, bei dem bisher mehr als 11.000 Menschen ums Leben kamen und Tausende verletzt wurden. Auf dieses Erdbeben folgten mehr als 648 Nachbeben, darunter ein Beben, das fast so stark war wie das erste Beben. Das Epizentrum des Bebens liegt in Kahramanmaras, einer Stadt in der Nähe von Syrien.

Von Berkay Kartav, Devrimci Spsyalist Sol (Türkische Unterstützer*innen des Komitees für eine Arbeiter*inneninternationale)

Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass 23 Millionen Menschen in einer der ärmsten Regionen der Türkei und im kriegsgebeutelten Norden Syriens von diesem Erdbeben betroffen sind und dass die Zahl der Todesopfer wahrscheinlich bei über 20.000 liegen wird.

Es handelt sich um das größte und zerstörerischste Erdbeben in der Türkei seit dem Erdbeben von Izmit 1999 in der Nähe von Istanbul, bei dem mehr als 17.000 Menschen ums Leben kamen.

Dieses jüngste Erdbeben zeigt, dass sich in 24 Jahren nichts grundlegend geändert hat. Wieder einmal sind Tausende von Gebäuden, die nicht den Bauvorschriften entsprechen, eingestürzt, und der Staat hat es versäumt, die Menschen zu retten und die Überlebenden mit dem Nötigsten zu versorgen.

Nach Angaben der staatlichen Hilfsorganisation sind mehr als 11.000 Gebäude eingestürzt, von denen bisher nur etwa 6000 bestätigt wurden. Sogar Krankenhäuser sind eingestürzt, und Flughäfen und Autobahnen konnten in den ersten Tagen nicht benutzt werden, weil sie schwer beschädigt waren.

Schockierenderweise berichten Einheimische vom Einsturz von neu errichteten Gebäuden. Trotz der verspäteten Einführung neuer Baunormen nach 1999 mangelte es an der Durchsetzung, da die korrupten Regierungen bei Verstößen ein Auge zudrückten. Profitorientierte Bauträger und Baufirmen nutzten Abkürzungen und billige Materialien, um Kosten zu sparen, anstatt erdbebensichere Gebäude zu bauen. Darüber hinaus verbreiteten sich in den sozialen Medien bereits am ersten Tag Videoaufnahmen von Patient*innen, die in der eisigen Kälte warten, ohne dass ihnen von staatlicher oder lokaler Seite geholfen wird.

Aber sie sind nicht die Einzigen. Schätzungen zufolge sind in der Türkei 13,5 Millionen Menschen in zehn Städten von diesem Erdbeben betroffen. In diesen von den Erdbeben zerstörten Städten und Dörfern sind Berichten zufolge noch immer mehr als 150.000 Menschen unter den Trümmern eingeschlossen. Das Versäumnis der Regierung, angemessene Rettungsteams zu entsenden, ist kriminell. Viele Menschen, die unter den Trümmern eingeschlossen sind, sterben, während sie auf Hilfe warten. Einheimische und Freiwillige versuchen, ihren Familien zu helfen, in den meisten Fällen mit bloßen Händen, da die Behörden keine Werkzeuge oder Ausrüstung zur Verfügung stellen.

Hatay, eine multikulturelle Stadt an der Grenze zu Syrien, ist eine der am schlimmsten betroffenen Städte, in der noch immer Tausende unter den Trümmern eingestürzter Gebäude liegen und auf die Ankunft von Rettungsteams warten. Im Fernsehen appellierte Gokhan Zan, ein bekannter Fußballtrainer in Hatay, an die Behörden, die ungenutzten Bagger in der Stadt einzusetzen. Wir fügen hinzu, dass alle Gabelstapler und andere Fahrzeuge und Geräte, die von Nutzen sein könnten, von den Bauunternehmen enteignet werden sollten.

In den betroffenen Regionen herrscht ein gravierender Mangel an Treibstoff, Lebensmitteln, Wasser, Toiletten, Medikamenten, Zelten, Strom und vielen anderen lebensnotwendigen Dingen. Die meisten Menschen schlafen immer noch in ihren Autos oder halten sich in der eisigen Kälte im Freien auf. Leer stehende Häuser und Hotelzimmer müssen übernommen werden, um die vielen Obdachlosen unterzubringen.

In seiner Fernsehansprache am dritten Tag räumte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ein, dass die Regierung in den ersten beiden Tagen nicht wirksam reagieren konnte. Doch gerade an diesen beiden Tagen waren eine gute Planung, Koordination und Rettungsmaßnahmen erforderlich, um Menschen aus den Trümmern zu retten. Es dauerte sechzig Stunden, bis speziell ausgebildete, erfahrene Bergleute aus Zonguldak (einer Bergbaustadt im Norden der Türkei) in die betroffene Region transportiert werden konnten.

Erst drei Tage nach dem Erdbeben trafen weitere Rettungsteams ein, als internationale Hilfsteams die Türkei erreichten. Noch immer warten viele Familien auf die Ankunft von Rettungsteams. Es werden unweigerlich viele Fragen zu den Gebäuden und der Reaktion der Regierung auf diese Krise gestellt werden. Gewerkschaften und lokale Gemeinschaften sollten eine unabhängige Untersuchung durchführen, um die Bauträger und Regierungsbeamten zu ermitteln, die für diese Katastrophe verantwortlich sind.

Die Türkei und Syrien sind erdbebengefährdete Länder. Aber es sind nicht unbedingt die Erdbeben, die töten: Es sind die schwach konstruierten Gebäude, die Profitgier und der Mangel an Planung, Koordination und Ressourcen, die töten. Mit anderen Worten: Es ist der Kapitalismus, der tötet.

Die schrecklichen Szenen, die wir erleben, sind eine weitere Anklage gegen das Versagen des verrotteten kapitalistischen Systems, das den Profit an die erste Stelle setzt und nicht die Sicherheit der Menschen.


Wo ist der Staat?


„Wo ist der Staat?” wird von den Menschen in der Türkei immer wieder gefragt. Die mangelnde Durchsetzung der Bauvorschriften und die miserable Reaktion des Staates sowie die schlechte Planung und Koordinierung dürften den wachsenden Unmut gegen Erdogan noch verstärken. Erdogans Popularität war aufgrund der hohen Inflation, die im Januar 2023 voraussichtlich 121 Prozent betragen wird, bereits auf einem historischen Tiefstand.

Gewerkschaften, linke Organisationen, Gemeindegruppen und Tausende von Freiwilligen versuchen, Verschüttete aus den Trümmern zu retten und die Überlebenden mit dem Nötigsten zu versorgen. Diese Initiativen sind sehr vielversprechend und können ein Sprungbrett für die Bildung demokratischer lokaler Nachbarschaftsteams sein, die sich aus Arbeiter*innen und lokalen Gemeinschaften zusammensetzen, um die Rettungsmaßnahmen und die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern in nächster Zeit besser zu koordinieren.

In der gesamten Türkei und auch in anderen Teilen der Welt gibt es eine unglaubliche Mobilisierung der Bürger*innen, um die betroffenen Gebiete mit lebensnotwendigen Gütern zu versorgen. Die Bürger*innen spenden an Nichtregierungsorganisationen, die keine Verbindungen zur Regierung haben. Obwohl Erdogans Partei in den Umfragen immer noch knapp in Führung liegt, spiegelt sich darin das geringe Vertrauen in die Regierung nach dem Erdbeben wider.

Obwohl die Türkei eines der reichsten Länder der Welt ist und über enorme Ressourcen und Fähigkeiten verfügt, hat sie bei der Bewältigung dieser Katastrophe kläglich versagt. Anstatt in die Gemeinden zu investieren und dafür zu sorgen, dass alle Gebäude erdbebensicher sind, steckten die reichen Profiteure das Geld ein. Es gab keinen Plan und keine Vorbereitung auf ein solches Ereignis, da die Regierung und die großen Unternehmen nur an ihre kurzfristigen Interessen denken.

Die Regierung ignorierte nicht nur die Baufirmen, die gegen die Bauvorschriften verstießen, sondern Erdogans Regierung erließ 2018 eine Amnestie für die Bauherren illegal errichteter Gebäude, ohne sicherzustellen, dass diese sicher bewohnbar werden. Die Regierung nahm drei Milliarden Dollar an Einnahmen von Antragstellern ein, die ihre illegalen Gebäude registrieren ließen.


Ausnahmezustand


Präsident Erdogan verhängte den Ausnahmezustand über die vom Erdbeben betroffenen Städte. Der Ausnahmezustand gilt für zehn Städte und wird drei Monate andauern, bis kurz vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, die am 14. Mai stattfinden sollen.

Die Regierung will jede Opposition zum Schweigen bringen und die Verbreitung von Informationen verhindern, die ihre Unfähigkeit aufdecken. Sie gibt der Polizei weitreichende Befugnisse zur Durchführung von Kontrollen und Durchsuchungen in dem Gebiet und verbietet jegliche Proteste, sowie die Herstellung und Verteilung von nicht genehmigten Zeitungen und Flugblättern.

Erdogan und die Regierungspartei werden das Erdbeben zum Anlass nehmen, ihre Befugnisse zu erweitern und die demokratischen Rechte mit Füßen zu treten. Angesichts der entsetzlichen Reaktion der Regierung ist es nicht auszuschließen, dass die Wahlen im Mai abgesagt oder verschoben werden.

Das Scheitern eines zerfallenden kapitalistischen Systems wird durch dieses Erdbeben, das die Türkei und Syrien heimgesucht hat, anschaulich illustriert. Die Behörden in beiden Ländern haben es versäumt, den von solchen Katastrophen betroffenen Menschen Unterkünfte, Sicherheit und grundlegende Ressourcen zur Verfügung zu stellen.

Im vom Krieg zerrissenen Syrien war die Infrastruktur aufgrund des Bürgerkriegs bereits sehr schwach. Und sowohl die von der Regierung als auch die von den Rebell*innen kontrollierten Gebiete im Norden Syriens haben nicht auf die Krise reagiert. Tausende von Menschen sind bisher gestorben, und die Überlebenden schlafen im Freien in der Kälte. Es wird berichtet, dass es keinen Zugang zu sauberem Wasser gibt.

Die westlichen Regierungen und Massenmedien haben die Notlage der vom Erdbeben betroffenen Menschen in Syrien weitgehend ignoriert oder als zweitrangig behandelt. Doch die militärischen Interventionen der westlichen Mächte in dem seit langem andauernden Bürgerkrieg haben dazu beigetragen, Syrien in die Knie zu zwingen. Die Regierung Biden hält ihre Sanktionen gegen das Regime von Präsident Assad aufrecht, die ein Hindernis für die Hilfe in den Erdbebengebieten darstellen.

In der Türkei wurde das Ausmaß der Katastrophe durch die Inkompetenz des Erdogan-Regimes noch verschlimmert, das die Bauvorschriften ignorierte und keinen Plan zur Rettung der Menschen hatte. Darüber hinaus wurden den Bürger*innen und Organisationen, die helfen wollten, bürokratische Hindernisse in den Weg gelegt.

Sozialistische Politik, wie zum Beispiel ein massives, erdbebensicheres, erschwingliches Wohnungsbauprogramm und ein voll finanzierter nationaler Gesundheitsdienst mit inflationsgeschützten Lohnerhöhungen für die Beschäftigten im Gesundheitswesen, ist erforderlich, um diese Tragödie zu lösen. Neben diesen Sofortmaßnahmen ist die Verstaatlichung der Wohnungs-, Lebensmittel- und Wasserversorgungsindustrien unter demokratischer Arbeiter’innenkontrolle notwendig, um die Profitgier der Großunternehmen zu stoppen.

Zweifellos wird dieses Erdbeben die Krise des Erdogan-Regimes und des türkischen Kapitalismus verschärfen. Es ist noch zu früh, um die Stimmung in der türkischen Gesellschaft einzuschätzen, aber die Wut gegen das Regime ist bereits deutlich sichtbar.

Nur in einer sozialistischen Planwirtschaft, in der Produktion und Verteilung unter der Kontrolle der Arbeiter*innenklasse stehen, können wir eine Welt schaffen, in der die Bedürfnisse der Gesellschaft befriedigt werden und nicht die der Milliardäre, um solche Tragödien von vornherein zu vermeiden.