Resolution des Internationalen Vorstands des Komitees für eine Arbeiter*innen*inneninternationale (CWI) vom Januar 2023
Die sich schnell verändernden Weltereignisse und wiederholten schweren Erschütterungen haben den Entwicklungen in Europa eine neue Wendung gegeben. Vor dem Hintergrund sich verschärfender internationaler Beziehungen, der Covid-Pandemie, des Krieges in der Ukraine und der daraus resultierenden Geflüchtetenwelle sowie einer sich entwickelnden Wirtschaftskrise wird die Ordnung in Europa erschüttert und auch seine Stellung in der Welt verkompliziert sich weiter.
Die Stimmung in der Bevölkerung in Europa ist von Unsicherheit und Ängsten geprägt, die zumindest in einigen Ländern mit einer wachsenden Stimmung von “Wir nehmen das nicht mehr hin” einhergehen, was zu einem deutlichen Anstieg von Protesten und Kämpfen der Gewerkschaften geführt hat. Die Gründe dafür liegen in der Verschärfung der wirtschaftlichen und sozialen Lage sowie, insbesondere in Mittel- und Osteuropa, in der Befürchtung, dass sich der Krieg in der Ukraine auf die eine oder andere Weise ausweiten könnte. Die jüngsten klimatischen Entwicklungen wie extreme Temperaturen, Dürren und Überschwemmungen haben die Umweltprobleme, welche die Lebensmittelproduktion und die künftige Bewohnbarkeit einiger europäischer Gebiete beeinträchtigen, noch verstärkt.
All dies hat die bereits bestehenden Tendenzen zu politischer Instabilität, politischer und sozialer Polarisierung und Unzufriedenheit mit Regierungen und Institutionen noch verstärkt. Eine Umfrage zu Beginn dieses Jahres ergab, dass 58 Prozent der Deutschen der Meinung sind, dass es im Land “eher ungerecht” zugeht – der höchste Wert seit 2010. Ein weit verbreitetes Symptom ist seit einiger Zeit die Schwächung oder sogar das Verschwinden der traditionellen Regierungsparteien, das Wachstum “neuer” Parteien verschiedener Art und das wachsende Misstrauen gegenüber den offiziellen Institutionen.
Es gibt Anzeichen dafür, dass sich Nationalitätenonflikte wieder auftun, manchmal in Bezug auf nationale Minderheiten oder Grenzen wie auf dem Balkan, in Mittel- und Osteuropa. Das Scheitern der Nordirland-Versammlung (des die Macht zwischen den konfessionellen Blöcken teilenden Regionalparlaments in Nordirland, A.d.Ü.) wegen des Brexit-“Protokolls” und die wachsenden Spannungen um die Frage einer möglichen Abstimmung über eine irische Wiedervereinigung sind wichtige Faktoren, die das “Karfreitagsabkommen” von 1998 untergraben und die Position des CWI bestätigen, dass die kapitalistische Herrschaft die grundlegenden Probleme ethnischer und religiöser Spaltung und der ungelösten nationalen Frage nicht überwinden kann. Ebenso hat die Weigerung der britischen Regierung, ein zweites Unabhängigkeitsreferendum für Schottland zu erlauben, die Unabhängigkeitsdebatte angeheizt und die Unterstützung für eine Abspaltung verstärkt.
Es gibt kaum ein europäisches Land, das wirklich stabil ist. Ein herausragendes Beispiel ist Großbritannien, wo der Niedergang des britischen Imperialismus, der ehemaligen Weltmacht Nummer Eins in den Turbulenzen des letzten Jahres, anschaulich gezeigt wurde, mit unter anderem drei Regierungschefs in weniger als sechs Monaten. Dies war jedoch nicht nur eine Frage von Persönlichkeiten, sondern spiegelte tiefe Spaltungen in der Gesellschaft und den Kontrollverlust der herrschenden Klasse über die Konservative Partei wider, ähnlich wie dies bei der Republikanischen Partei in den USA der Fall ist. Der Niedergang des britischen Imperialismus wird zunehmend spürbar und führt zu einem wachsenden Gefühl, dass sich das Land in die “falsche Richtung” entwickelt, was vor dem Hintergrund des sinkenden Lebensstandards ein wichtiger Faktor für die Schlussfolgerung unter den Arbeiter*innen*innen und Teilen der Mittelschicht ist, dass Maßnahmen gegen den sinkenden Lebensstandard notwendig sind.
Die Streiks in Großbritannien, die breite Unterstützung in der Bevölkerung finden, sind derzeit die auffälligsten Aktionen seitens der Arbeiter*innen*innenklasse in Europa. Aber sie sind nicht die einzigen. In vielen Ländern steigt der Druck, die Löhne an die Inflation anzupassen, was zu höheren Lohnforderungen führt, die stellenweise über zehn Prozent liegen. In vielen Ländern, darunter Italien und den Niederlanden, haben die Lohnabhängigen große, wenn auch nicht massenhafte Proteste organisiert. In Griechenland gab es den größten 24-stündigen Generalstreik seit langem, während sich in Österreich und Belgien Gewerkschaftsführer*innen zu radikal klingenden Reden genötigt sahen und zu Protesten aufgerufen haben. Kurz vor Weihnachten demonstrieren eine halbe Million Menschen in Madrid gegen die Zustände im Gesundheitssystem. All dies sind Symptome für den Stimmungswandel. In Frankreich ist die Lage brisant, da Emmanuel Macrons neue Rentenreform eine Protestbewegung ausgelöst hat, die auf die seit Herbst stattfindenden Streiks trifft. Bei einigen dieser Streiks konnten Lohnerhöhungen von bis zu 200 Euro pro Monat durchgesetzt werden, während die meisten kleinere Erhöhungen und/oder eine Prämie erreichten. Die Wut über die Situation ist so groß, dass am 19. Januar, dem ersten nationalen Streiktag gegen die Rentenänderungen, zwei Millionen Menschen demonstrierten und streikten – die größten Proteste seit 2010. Dies birgt ein enormes Potenzial, auch wenn derzeit unklar ist, wie sich der Kampf entwickeln wird.
Diese instabile und zunehmend aufgeheizte Lage war der Hintergrund für die Versuche innerhalb der Europäischen Union, eine einheitliche Antwort auf die aufeinanderfolgenden Krisen zu finden, welche durch den Versuch verschiedener EU-Mitgliedstaaten, ihre eigenen nationalen Interessen zu verteidigen, erschwert wurden. So gab es einzelne Initiativen, wie Emanuel Macrons Versuch, diplomatisch in den Ukraine-Krieg einzugreifen, Ungarns unabhängige Außenpolitik und die Ankündigung der Scholz-Regierung, ein eigenes 200-Milliarden-Euro-Wirtschaftshilfeprogramm aufzulegen. Diese Aktionen haben bei anderen EU-Mitgliedern Reaktionen hervorgerufen, die von Irritation über Misstrauen bis hin zu Wut reichen.
Dies spiegelt die Tatsache wider, dass Europa selbst ein Kontinent von Nationalstaaten ist, innerhalb dessen es einen Block, die Europäische Union, gibt, der selbst kein Bundesstaat ist und gleichzeitig aus einer Ansammlung von einzelnen Nationalstaaten besteht, von denen jeder seine eigenen Interessen, Bündnisse und internen Probleme hat.
Der relative Niedergang Europas
Für den Großteil des 20. Jahrhunderts sahen sich die europäischen Mächte mit einem relativen, manchmal sogar mit einem absoluten internationalen Niedergang konfrontiert. Obwohl sich der Lebensstandard vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg stetig verbessert hatte und im Allgemeinen immer noch zu den höchsten in der Welt gehört, ist die internationale wirtschaftliche und politische Stellung Europas nicht mehr das, was sie einmal war. Die Zeiten, in denen große und kleine europäische Mächte die Welt unter sich aufteilten und globale Imperien besaßen, sind längst vorbei.
Heute ist der europäische Kapitalismus nicht nur mit einer instabilen Weltwirtschaft konfrontiert, sondern wird auch von seinen amerikanischen und chinesischen Konkurrenten unter Druck gesetzt. Einige Regierungen ergreifen Maßnahmen, um eine Abkehr von einer zu engen Beziehung zu China zu erzwingen, was jedoch seine eigenen Schwierigkeiten mit sich bringt. Vier große deutsche Unternehmen – Mercedes, BMW, Volkswagen und BASF – sind besonders stark im chinesischen Markt engagiert und könnten mit großen Problemen sowohl bei der Produktion als auch beim Absatz konfrontiert werden. Auf sie entfiel ein Drittel aller europäischen Direktinvestitionen in China zwischen 2018 und 2021, und China ist für sie zum profitabelsten Markt geworden. In Mittel- und Osteuropa hofft man, dass im Zuge dieser Neugewichtung die Produktion dorthin verlagert werden wird, sowohl wegen der Abkehr von China als auch wegen der Versuche, die Lieferwege zu verkürzen. Dies wird jedoch kein leichtes Unterfangen für die Bosse sein und kann auf den Widerstand der Belegschaften stoßen, die ihren Arbeitsplatz verlieren, sowohl in China als auch in Westeuropa.
Als Ausdruck konkurrierender Interessen mit der EU versucht das Orban-Regime in Ungarn, zwischen den größeren Mächten zu balancieren, und sucht bei Auseinandersetzungen mit der EU-Mehrheit jeweils Unterstützung von außen. Um sich den Rückhalt daheim zu sichern, vertritt Orban eine rechtspopulistische, nationalistische Position mit Verweisen auf das “Großungarn” von vor 1919 und nutzt historische und aktuelle Missstände, einschließlich der Situation der kleinen ungarischen Minderheit in der Ukraine, um in der Frage des Ukraine-Krieges eine unabhängigere Politik zu rechtfertigen. Weiter südlich stellen die anhaltenden Spannungen auf dem Balkan, z. B. wegen des Kosovo, eine ständige Gefahr dar, die auch auf die EU-Mitgliedstaaten übergreifen könnte.
Europa zwischen den USA und China
Die europäischen Kapitalist*innen fürchten zunehmend, sowohl indirekt als auch direkt in die Handelskriege verwickelt zu werden, die die USA zu führen beginnen. Überwiegend bestand die Reaktion der europäischen Regierungen auf Bidens 369 Milliarden Dollar schweres “Inflationsbekämpfungsgesetz”, das als ein kaum verhohlener Schritt zur Subventionierung und zum Schutz von industriellen, technologischen und “Zukunfts”-Wirtschaftszweigen in den USA angesehen wird. Die EU bereitet ihre eigene Antwort vor, und als ersten Schritt wird die Europäische Kommission bald die Regeln für staatliche Beihilfen lockern. Wie so oft in Krisen intervenieren kapitalistische Staaten durchaus, um bestimmte Sektoren oder sogar einzelne Unternehmen zu schützen oder zu stärken, wie etwa die privatisierte Eisenbahn in Großbritannien. Darüber hinaus gab es Verstaatlichungen oder Wiederverstaatlichungen wie bei Uniper in Deutschland und EDF in Frankreich, um die kapitalistische Wirtschaft insgesamt zu schützen.
Die Möglichkeiten der Europäischen Union sind jedoch begrenzt. Das liegt zum Teil an ihrer Größe im Vergleich zu den USA und China, vor allem aber an der Tatsache, dass sie kein einheitlicher Staat ist. Aus diesem Grund versuchen externe Mächte zunehmend, günstige bilaterale Beziehungen zu einzelnen EU-Staaten aufzubauen, während diese Staaten selbst versuchen, solche Vereinbarungen zu nutzen, um sowohl ihre Stellung innerhalb der EU zu stärken, oder wenigstens ein Druckmittel zu haben. Der Brexit und andere Faktoren haben das interne Gleichgewicht der EU verändert und insbesondere die Position des deutschen Imperialismus gestärkt, aber auch die zunehmende Bildung verschiedener kurzfristiger Bündnisse zu verschiedenen Fragen innerhalb der EU begünstigt.
Diese Meinungsverschiedenheiten wurden im Hinblick auf den Ukraine-Krieg deutlich, und zwar sowohl in Bezug auf die allgemeine Politik als auch auf die Frage, welche Kriegsziele die Westmächte verfolgen sollten. Der Ausbruch dieses Krieges führte jedoch auch dazu, dass die finnische und die schwedische Regierung dazu übergegangen sind, den Nato-Beitritt ihrer Länder zu forcieren. Ein Zeichen dafür, wie die Westmächte von den negativen Auswirkungen von Putins Invasion auf das Bewusstsein in einigen europäischen Ländern, insbesondere in den an Russland angrenzenden Ländern, profitieren.
Bisher sind die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der EU noch nicht außer Kontrolle geraten, aber die Konflikte über die Asylpolitik, die Migration und den Schengen-Raum sind für zukünftige Entwicklungen von Bedeutung. Der Beitritt Kroatiens zur Eurozone und zum Schengen-Raum erweckt den Anschein eines stetigen Wachstums der EU. Die gleichzeitige Verweigerung des Beitritts Bulgariens und Rumäniens zum Schengen-Raum in letzter Minute, nachdem Österreich dagegen Einspruch erhoben hatte, zeigte jedoch die zugrunde liegenden Spannungen innerhalb der EU und ihrer Mitgliedstaaten.
Die offene Diskussion über die Möglichkeit einer Finanzkrise in der Weltwirtschaft hat erneut die Frage nach der Stabilität innerhalb der EU aufgeworfen. Während die Eurozone selbst derzeit stabil erscheint, gibt es anhaltende Befürchtungen über die Stärke der europäischen Banken, Risiken bei anderen (“bankfremden”) Finanzinstituten und die Möglichkeit einer Krise in Mitgliedsländern der Eurozone, wie Italien, was den Fortbestand des Euro in seiner jetzigen Form in Frage stellen könnte.
Trotz der offensichtlichen Krise, mit der Großbritannien aktuell konfrontiert ist und die in einigen Ländern die Unterstützung für einen Austritt aus der EU verringert zu haben scheint, bietet der Brexit doch ein Beispiel, das sich später in einigen Ländern während einer schweren EU-Krise als populär erweisen könnte, insbesondere wenn deren Regierungen glauben, auf Unterstützung von außerhalb der EU hoffen zu können.
Auswirkungen des Ukraine-Krieges
Nach dem Brexit ist innerhalb der EU ein neues Gleichgewicht entstanden. Deutschland strebt danach, sich als dominante Kraft zu etablieren, und stellt Frankreichs Position als wichtigste Militärmacht der EU nach dem Austritt Großbritanniens in Frage. Als Reaktion darauf könnten andere EU-Länder versuchen, sich zusammenzuschließen, möglicherweise im Bündnis mit Nicht-EU-Mächten wie den USA und sogar Großbritannien, um ihre Interessen zu verteidigen.
Die Zeitenwende-Rede von Bundeskanzler Scholz im Februar 2022 mit dem 100 Milliarden Euro schweren “Sonderfonds” zur Modernisierung und zum Ausbau des deutschen Militärs markierte ein neues Kapitel. Was dies für Europa bedeutete, machte Scholz im September 2022 deutlich: “Und zugleich machen wir glaubhaft klar: Deutschland ist bereit, an führender Stelle Verantwortung zu übernehmen für die Sicherheit unseres Kontinents.
Als bevölkerungsreichste Nation mit der größten Wirtschaftskraft und Land in der Mitte des Kontinents muss unsere Armee zum Grundpfeiler der konventionellen Verteidigung in Europa werden, zur am besten ausgestatteten Streitkraft in Europa.”
Schon zuvor hatte die inzwischen zurückgetretene deutsche Verteidigungsministerin Lambrecht gesagt, Deutschlands “Größe, unsere geographische Lage, unsere Wirtschaftskraft, kurzum unser Gewicht … machen uns zu einer Führungsmacht, ob wir wollen oder nicht – auch im militärischen Sinne.”
Der Ukraine-Krieg hat vielen westlichen herrschenden Klassen die Gelegenheit geboten, Putin die ganze Schuld an der Wirtschaftskrise zuzuschieben und zu versuchen, das Image der Westmächte und der Nato nach dem völligen Scheitern des US-Imperialismus in Afghanistan aufzupolieren. Es gibt einen neuen Versuch, die Geschichte der Nato zu beschönigen und sie als führende Kämpferin für Demokratie darzustellen. Von Anfang an waren sozialdemokratische Führer*innen, insbesondere die britische Labour-Partei, maßgeblich daran beteiligt, diese “demokratische” Linie voranzutreiben, wobei es ihnen beispielsweise egal war, dass zu den Gründungsmitgliedern der Nato die portugiesische Diktatur gehörte, die bis 1974 existierte. Diese Tradition fortsetzend thematisiert die Nato auch nicht die De-facto-Kontrolle des Nato-Mitglieds Türkei über Nordzypern, die seit ihrer Invasion der Insel im Jahr 1974 andauert.
Die Haltung der Westmächte zur Ukraine fand jedoch nicht überall Zustimmung. Während in den baltischen Staaten und in Polen eine breite Unterstützung für das Eingreifen der Nato zu verzeichnen war, gab es in einigen anderen ehemals stalinistischen Staaten Anzeichen von Misstrauen gegenüber den Motiven der Westmächte und Kritik an der Osterweiterung der Nato. In Ostdeutschland trug das Andauern dessen, was auch nach über 30 Jahren noch als die negativen Seiten der Wiedervereinigung angesehen wird – niedrigere Löhne und Renten, höhere Arbeitslosigkeit, Entvölkerung und die Dominanz von Westdeutschen in verantwortlichen Positionen – dazu bei, das Geschehen in Frage zu stellen. In einigen anderen ehemals stalinistischen Ländern hat sich dies auch auf andere Themen ausgeweitet. Im vergangenen Jahr wurde zum ersten Mal festgestellt, dass nur eine Minderheit der Slowaken die “Samtene Revolution” von 1989, die den Stalinismus in der damaligen Tschechoslowakei stürzte, als positiv ansah.
Sinkender Lebensstandard
Wie in weiten Teilen der übrigen Welt sind auch die europäischen Arbeiter*innen und Mittelschichten mit einem sinkenden Lebensstandard konfrontiert, da die Inflation anhält und die herrschenden Klassen sich gegen die Anpassung der Reallöhne und -einkommen wehren. In vielen europäischen Ländern wird die Frage der Wohnkosten zu einem Schlüsselthema neben der Gesundheitsversorgung, insbesondere der Situation in Krankenhäusern in Ländern wie Spanien, Großbritannien oder Deutschland.
Zwar scheint Europa in diesem Winter die Auswirkungen der Unterbrechung von Gaslieferungen aus Russland überstehen zu können, doch wird befürchtet, dass die Situation im nächsten Winter schlimmer werden könnte.
Zunächst wurde der sprunghafte Anstieg der Inflation im Jahr 2022 auf den Ukraine-Krieg zurückgeführt, der zwar weitreichende wirtschaftliche Auswirkungen hatte, aber eindeutig nicht der einzige Faktor war. Die Inflation hatte sich bereits vorher beschleunigt, was zum Teil auf die Politik der Regierungen nach 2008, die Kosten der Covid-Lockdowns und durch diese verursachten Störungen der Lieferketten zurückzuführen war. Steigende Brennstoffpreise führten dazu, dass bereits in den dreizehn Monaten vor Putins Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 ganze 31 britische Strom- und Gasversorgungsunternehmen Konkurs anmelden mussten.
Wie überall auf der Welt hatte der plötzliche, beschleunigte Anstieg der Inflation dramatische Auswirkungen auf den Lebensstandard. Laut einer französischen Umfrage vom November letzten Jahres bezeichnete jede*r vierte Europäer*in ihre/seine Situation als “prekär”. Die Gruppen, die am stärksten von Armut bedroht sind, sind in Europa sehr unterschiedlich: In Deutschland sind es 61 Prozent der Rentner*innen, in Italien 57 Prozent der jungen Menschen und in Großbritannien 55 Prozent der britischen Alleinerziehenden.
Gleichzeitig machten einige Branchen während der Pandemie große Gewinne, die Superreichen wurden reicher und es kam auch zu einer Reihe von Skandalen. Wie Oxfam kürzlich feststellte, haben sich die “reichsten ein Prozent weltweit fast zwei Drittel des gesamten seit 2020 neu geschaffenen Reichtums im Wert von 42 Billionen Dollar angeeignet”.
Die Zunahme der Klassenkämpfe
Vor diesem Hintergrund führen die Auswirkungen der Inflation, die den Lebensstandard senkt, manchmal vor dem Hintergrund stagnierender Reallöhne, zu einer Reaktion, die von Ängsten und Wut geprägt wird. In einer solchen Situation sind spontane Proteste und sogar Massenbewegungen nicht auszuschließen. Die Meinungsumfragen in vielen Ländern zeugen von hoher Instabilität, wobei sehr häufig der Rückhalt der Regierungsparteien sinkt und neuere oder Protestparteien an Unterstützung gewinnen.
Der Druck auf die Gewerkschaftsführer*innen wächst, zu handeln, radikal klingende Reden zu halten und zu Protesten aufzurufen. In vielen Ländern ist die gewerkschaftliche Organisation jedoch schwach, mit Ausnahme derjenigen Länder, in denen die Gewerkschaften eine Rolle bei der Verteilung bestimmter Arten von Sozialleistungen spielen.
In Deutschland erreichte die Zahl der Erwerbstätigen im Jahr 2022 mit 45,6 Millionen den höchsten Stand aller Zeiten, aber die Mitgliederzahl des DGB lag 2021 bei 5,7 Millionen, während andere Gewerkschaften und gewerkschaftsähnliche Organisationen weniger als zwei Millionen Mitglieder hatten. Dies bedeutet, dass im Jahr 2021 etwa sechzehn Prozent der deutschen Lohnabhängigen gewerkschaftlich organisiert waren. Allerdings werden die Löhne und Arbeitsbedingungen von vierzig Prozent der Beschäftigten in der deutschen Privatwirtschaft und den meisten Beschäftigten im öffentlichen Dienst durch regionale oder nationale Tarifverträge abgedeckt, während weitere acht Prozent der Beschäftigten in der Privatwirtschaft auf der Grundlage von Haustarifverträgen bezahlt werden. Während es bei Amazon und auch in einigen Krankenhäusern seit langem konzertierte Organisierungsversuche gibt, sind dies in der Regel keine allgemeinen Kampagnen. Selbst dort, wo die Gewerkschaften proaktiv Mitglieder werben oder Gewerkschaftskandidat*innen bei Betriebsratswahlen erfolgreich sind, wollen viele Gewerkschaftsführer*innen keine wirklich aktive Basis, weshalb die Zahl der betrieblichen Strukturen zurück gegangen ist. Die Gewerkschaftsführer*innen sind zwar für den Zustand der Gewerkschaften verantwortlich, aber eine wirkliche Wiederbelebung dieser Organisationen beruht auf dem Wiederaufbau von der Basis her, was auch die Grundlage für eine kämpferische Führung ist.
In Großbritannien führten die Auswirkungen der Inflationskrise nach fast fünfzehn Jahren sinkenden oder stagnierenden Lebensstandards zu dem verbreiteten Gefühl, dass etwas getan werden muss und dass Maßnahmen zur Veränderung erforderlich sind. Das Beharren der Regierung darauf, dass die Beschäftigten des öffentlichen Sektors eine drastische reale Kürzung ihres Lebensstandards hinnehmen müssen, hat eine Welle von Streiks dieser Beschäftigten ausgelöst, die breite öffentliche Unterstützung erfahren. Bisher waren diese Streiks auf ein, zwei oder drei Tage beschränkt, und es wächst das Bewusstsein dafür, dass entschlossenere Maßnahmen erforderlich sind, insbesondere koordinierte Maßnahmen der verschiedenen Sektoren. Dies wurde durch die Eile der Regierung bei der Verabschiedung neuer Gesetze verstärkt, die es der Regierung ermöglichen, eine Grundversorgung festzulegen, die während der Streiks aufrechterhalten werden müssen, das heißt Gesetze zu erlassen, mit denen Beschäftigten unter Androhung von Entlassungen zum Streikabbruch gezwungen werden sollen.
Das Problem für die britische Regierung besteht darin, dass die Streiks derzeit eine überwältigende
öffentliche Unterstützung genießen, während die Regierung in Meinungsumfragen nur 25 Prozent der Stimmen erhält. Die Idee eines Generalstreiks liegt in der Luft, aber die meisten Gewerkschaftsführer*innen sind nicht bereit, die Streiks zu verallgemeinern, obwohl die Unterstützung für ein gemeinsames Vorgehen wächst. Die Forderung nach einem 24-stündigen Generalstreik als nächstem Schritt und nach einer ernsthaften Mobilisierung auf nationaler und lokaler Ebene, um Unterstützung für ein gemeinsames Vorgehen zu gewinnen, sind in dieser Situation von zentraler Bedeutung.
In dieser Zeit der allgemeinen Krisen steht der Generalstreik in einer Reihe von Ländern bereits auf der Tagesordnung, und das wird sich noch ausweiten. Dies bedeutet, dass die internationalen Erfahrungen und Lehren des Generalstreiks, sowohl die Arten des Generalstreiks als auch die Fragen, die sich insbesondere bei unbefristeten Generalstreiks stellen, innerhalb der Arbeiter*innenbewegung untersucht werden müssen. Es muss unterschieden werden zwischen Generalstreiks, die Teil einer Kampfstrategie sind, und solchen, die von den Führern als symbolische Gesten oder “Sicherheitsventil” ausgerufen werden.
Ein Generalstreik in Großbritannien, dem Geburtsland der modernen Gewerkschaftsbewegung, wäre von enormer Bedeutung. Richtig organisiert wäre ein 24-stündiger Generalstreik eine gewaltige Machtdemonstration, die sowohl die Stärke als auch die Bedeutung der Arbeiter*innenklasse demonstrieren würde. Aber eine 24-stündige Arbeitsniederlegung sollte nicht das Ende der Aktionen sein, sie muss ein Schritt in einer fortlaufenden großangelegten Kampagne sein. Längere Generalstreiks, insbesondere unbefristete, werfen jedoch die Machtfrage auf: Wenn die Arbeiter*innenklasse die Gesellschaft aufhalten kann, warum kann sie dann nicht die Gesellschaft führen? Aus diesem Grund geben Marxist*innen die Losung erst nach sorgfältiger Abwägung des Kampfstadiums aus, obwohl, wie Frankreich 1968 gezeigt hat, ein unbefristeter Generalstreik sich spontan entwickeln und diese Fragen scharf aufwerfen kann. Aber abgesehen von den wenigen bewusst revolutionären Gewerkschafter*innen ist dies eine Frage, der sich die meisten Gewerkschaftsfunktionär*innen nicht stellen wollen.
Gewerkschaftsführer*innen können aus einem militanten Umfeld kommen oder von ihren Mitgliedern nach links gedrängt werden, aber das bedeutet nicht, dass sie automatisch bereit sind, den Kapitalismus in Frage zu stellen. Die Erfahrung in Großbritannien in den 1920er Jahren, als ein Teil der linken Gewerkschaftsführer*innen mit der Russischen Revolution sympathisierte und der TUC 1925 formell Beziehungen zu den sowjetischen Gewerkschaften aufnahm, sollte nicht vergessen werden. Trotz ihrer Kampfbereitschaft waren diese linken Gewerkschaftsführer*innen nicht bereit oder in der Lage, die revolutionären Schlussfolgerungen aus den damals in Großbritannien stattfindenden Klassenkämpfen zu ziehen. Dies ermöglichte es den rechten Gewerkschaftsführer*innen, den Generalstreik von 1926 abzubrechen, als seine Unterstützung zunahm und weder die Unternehmer*innen noch die Regierung Zugeständnisse angeboten hatten. Der Druck der UdSSR, die Verbindung der sowjetischen Gewerkschaften mit dem TUC nicht zu beschädigen, veranlasste die Kommunistische Partei, ihre Kritik an der Weigerung der linken Gewerkschaftsführer*innen, die rechten Gewerkschaftsführer*innen herauszufordern, zu dämpfen, was bedeutete, dass die Kommunistische Partei eine Gelegenheit verpasste, erheblich zu wachsen.
In Großbritannien ist angesichts der Schwäche der derzeitigen Regierung und der Aussicht auf Wahlen Anfang 2025 nicht auszuschließen, dass die Regierung einige begrenzte Zugeständnisse machen wird, die zumindest einige der Gewerkschaftsführer*innen nutzen werden, um zu versuchen, die Aktionen abzubrechen. Angesichts der Konterrevolution in der Labour-Partei fürchten wichtige Teile der britischen herrschenden Klasse eine “linke” Labour-Regierung nicht mehr und haben erkannt, dass eine Labour-Regierung die Situation eine Zeit lang kontrollieren könnte. Organisationen wie “Enough is Enough” (Genug ist genug) wurden ins Leben gerufen, um sowohl die aufkommende Wut als auch die Forderungen nach Maßnahmen aufzugreifen und diese Stimmung zur Unterstützung von Labour zu lenken. Obwohl die Abkehr der Starmer-Führung von einem Großteil der populären Politik der Corbyn-Ära und die offene Unterstützung des Kapitalismus zahlreiche Wähler*innen und Aktivist*innen entfremdet hat, ist es wahrscheinlich, dass Labour an der nächsten Regierung beteiligt sein wird. Die unvermeidliche Enttäuschung über diese Regierung wird den Weg für eine weitere Polarisierung ebnen, sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite.
Die herrschenden Klassen bereiten Angriff vor
Auf der anderen Seite wird Druck auf die Regierungen ausgeübt, die Schulden zu reduzieren, die durch die Hilfsmaßnahmen- und Zuschüsse während der Lockdowns in der ersten Wellen der Coronapandemie entstanden sind. Die Sorge über die Höhe der Staatsverschuldung wächst, insbesondere als Ergebnis der lockeren Geldpolitik der letzten fünfzehn Jahre.
Einige Regierungen haben den Zorn der Bevölkerung riskiert, indem sie versucht haben, den Krieg in der Ukraine als politischen Deckmantel zu nutzen, um bereits geplante Angriffe durchzusetzen. Emmanuel Macron war durch sein schlechtes Wahlergebnis von weniger als 28 Prozent (bei einer Wahlbeteiligung von 74 Prozent) in der ersten Runde der letztjährigen Präsidentschaftswahlen geschwächt worden, zumal seine Partei kurze Zeit später ihre absolute Parlamentsmehrheit verloren hat. Dennoch hat Macron das Arbeitslosengeld gekürzt und weitere Angriffe durchgesetzt, wobei er im vergangenen Jahr nicht weniger als zehnmal von den bonapartistischen Befugnissen der gaullistischen Verfassung Gebrauch machte, um das Parlament zu überstimmen.
Jetzt ist Macron dabei, das Rentenalter von 62 auf 64 Jahre anzuheben, wobei er sich auf seine autoritären Befugnisse verlässt und hofft, dass die Gewerkschaftsverbände sich weigern bzw. keine Strategie haben, die Arbeiter*innen auf breiter Front zu einem gemeinsamen Kampf zu mobilisieren. Noch bevor die Maßnahmen offiziell angekündigt wurden, sprachen sich alle großen Gewerkschaften gegen die Pläne aus, eine Position, die nach Meinungsumfragen von siebzig Prozent der Bevölkerung geteilt wird. Für den 19. Januar wurde sofort ein Streiktag ausgerufen, und der Wiederhall war gewaltig: Im öffentlichen Sektor streikte jede*r vierte Beschäftigte, in der Privatwirtschaft war die Mobilisierung eher zaghaft, aber die Proteste in mehreren Städten hatten ein Ausmaß wie seit 2010 oder sogar 1995 nicht mehr. Die Frage ist jedoch, ob dies der Ausgangspunkt für einen konzertierten Kampf und nicht nur für Proteste sein wird. Ein weiterer Streiktag wurde für den 31. Januar ausgerufen. Es besteht jedoch weder Einigkeit über Forderung zum Beispiel nach einem maximalen Renteneintrittsalter von sechzig Jahren, noch haben die Gewerkschaftsverbände vor, die Forderungen auf Löhne, Arbeitsbedingungen, öffentliche Dienstleistungen usw. auszuweiten. Dies ist für den Kampf von entscheidender Bedeutung, da viele – gerade auch junge Arbeiter*innen – nicht allein wegen der Rentenfrage in Streik treten werden. Dennoch ist es möglich, dass sich starke Streiks in Industriesektoren wie zum Beispiel der Öl- oder Energiewirtschaft entwickeln, die die Stimmung katalysieren und die Militanz steigern könnten. Macron geht ein Wagnis ein. Bezeichnenderweise hat er die Vorschläge der konservativen Les Républicains, der Partei der Gaullisten, übernommen, das Renteneintrittsalter schrittweise zu erhöhen und sowohl neuen als auch bestehenden Rentner*innen einen neuen Mindestbetrag von 1200 Euro pro Monat zu gewähren, statt bisher 950 Euro. Aber nur sehr wenige Rentner werden davon profitieren, da sie dafür ununterbrochene Beitragszahlungen vorweisen müssten. Macron versucht lediglich, seine Wähler*innen und die der Rechten zufrieden zu stellen, da er keine Basis bei den Lohnabhängigen und der Jugend hat, was, wie wir bereits betont haben, zu einer sehr instabilen und explosiven Lage führt.
In einigen Ländern wurden nach dem Ende der Covid-Lockdowns aus Angst vor der Wut über den sinkenden Lebensstandard neue, begrenzte Zugeständnisse gemacht, wie das (vorübergehende) 9-Euro-Ticket in Deutschland. In anderen Ländern wie Spanien und Österreich wurden für begrenzte Zeit die öffentlichen Verkehrsmittel verbilligt oder sogar kostenlos gemacht. In Spanien gibt es derzeit, im Vorfeld der Parlamentswahlen, die Ende diesen Jahres stattfinden werden, eine auf sechs Monate befristete Senkung der Mehrwertsteuer auf einige Lebensmittel. In vielen europäischen Ländern wurden Preiskontrollen oder Subventionen für Heiz- oder Stromkosten sowohl für Haushalte als auch für die Industrie eingeführt.
In Deutschland hat die sozialdemokratisch geführte Koalition unter Druck das Arbeitslosengeld II (Hartz IV), in “Bürgergeld” umbenannt und für alleinstehende Erwachsene von der Armutsgrenze von 449 Euro auf 502 Euro erhöht, was eine Erhöhung von 11,8 Prozent entspricht; da allein die Lebensmittelpreise im vergangenen Jahr aber um 20 Prozent gestiegen ist diese “Verbesserung” jedoch immer noch erbärmlich, vor allem wenn man bedenkt, dass Deutschland eines der reichsten Länder Europas ist. Die Sozialverbände in Deutschland haben erklärt, dass die monatliche Zahlung 725 Euro zuzüglich der Stromkosten betragen müsste, wenn die Regierung ihre eigenen Kriterien für Sozialleistungen vollständig anwenden würde.
Während die EU insgesamt und die meisten herrschenden Klassen sich während der Pandemie zu Zugeständnissen gezwungen sahen und sich jetzt angesichts der weit verbreiteten Forderungen nach Lohn- und Sozialleistungserhöhungen zum Ausgleich der Inflation mit Angriffen zurückhalten, wird dies nicht von Dauer sein. Macrons Angriff auf das Arbeitslosengeld und sein Versuch, das Renteneintrittsalter anzuheben, ist insofern von Bedeutung, als es sich um den ersten großen Versuch nach der Pandemie handelt, die Errungenschaften der Arbeiter*innenklasse direkt anzugreifen. Der Klassenkampf wird über das Ergebnis entscheiden, und in diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass einige Regierungen bereits dabei sind ihre Befugnisse und Repressionsapparate auf verschiedene Weise zu stärken. Unter anderem werden Proteste und Aktionen von Umweltschützer*innen als Rechtfertigung für neue Polizeibefugnisse verwendet.
All diese Entwicklungen haben zu einer aufgeheizten Lage geführt. Besonders junge Menschen, die von den Lockdowns besonders betroffen waren, stellen zunehmend die Art und Weise, wie die gegenwärtige Gesellschaft funktioniert in Frage, sind wütend über die offenbar zunehmende Ungleichheit und hegen erhebliche Zweifel und Ängste über ihre eigene Zukunft, die ihrer Familien und der Allgemeinheit. Viele stellen den Kapitalismus selbst in Frage.
Obwohl es ein großes Potenzial für Protestbewegungen gibt, die den Kapitalismus in Frage stellen, gibt es im Allgemeinen noch kein nennenswertes Wachstum offen sozialistischer Bewegungen und Organisationen. Dies ist zum Teil das immer noch nachwirkende Ergebnis des politischen Zusammenbruchs eines Großteils der “Linken” und des ideologischen Rechtsrucks, der durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und der anderen Staaten, die formal den Anspruch hatten, “sozialistisch” zu sein, verursacht wurde.
Bilanz der neuen linken Kräfte
Allgemein gab es in den letzten Jahren in verschiedenen Ländern zwar Entwicklungen, die Ausgangspunkt für substanzielle neue linke Formationen hätten sein können, aber diese haben sich entweder nicht entwickelt oder wurden nicht konsolidiert, was manchmal zu einem schnellen Zusammenbruch führte. In jüngster Zeit war dies beim Zusammenbruch des Corbyn-“Projekts” und dem brutalen Rechtsruck in der britischen Labour-Partei zu beobachten, der hätte vermieden werden können, wenn Corbyn seine Unterstützung für eine echte Umgestaltung der Labour-Partei mobilisiert hätte.
Aber es ging nicht nur darum, dass Corbyn und seine Anhänger*innen nicht bereit waren, Blairisten und Kapitalismusbefürworter*innen aus ihren Parteiämtern zu entfernen. Politisch gesehen hat Corbyn, obwohl er sich auf Nachfrage als Sozialist bezeichnete, nicht für ein sozialistisches Programm plädiert, sondern zunehmend politische Kompromisse mit den offen pro-kapitalistischen Elementen in der Labour Party geschlossen.
Immer wieder sind neue Bewegungen oder Kräfte entstanden, wie SYRIZA in Griechenland oder
Podemos in Spanien, die breite Unterstützung fanden, aber politisch nicht für einen Bruch mit dem Kapitalismus standen und im Allgemeinen keine bewussten Versuche waren, neue Arbeiter*innenparteien aufzubauen. All diese Kräfte lehnten es ab, für die Wiederherstellung der Idee des Sozialismus als Alternative zum Kapitalismus zu kämpfen, sie gaben bestenfalls an, antikapitalistisch zu sein. Oft stützten sich die Führer dieser neuen Formationen auf die Skepsis der Bevölkerung gegenüber der Idee einer “Partei” (in Wahrheit eine Reaktion auf das politische Versagen der alten Parteien) und argumentierten gegen die Gründung echter Parteien. Dies führte dazu, dass diese neuen linken Konstrukte über Strukturen verfügten, die der Führung beträchtliche Freiheiten erlaubten, die Politik dieser Organisationen selber zu bestimmen und sich jeglicher Kontrolle zu entziehen.
Dies ist ein Symptom der politischen Schwäche dieser Formationen. Einige haben offizielle Strukturen und sind “Parteien”, die begrenzte Wahlerfolge erringen konnten und teils eine relativ große Mitgliederzahl haben. Im Allgemeinen wurden sie jedoch durch die eigenen politischen Schwächen untergraben, vor allem jene auf programmatischer Ebene. Diese politischen Schwächen führten zu dem Versuch, innerhalb des Kapitalismus zu arbeiten, oft unter dem Vorwand, rechte Kräfte zu stoppen oder deren Aufstieg zu verhindern..
Dies geschah in den 1990er Jahren mit dem Aufstieg und Fall der PRC (Partei der kommunistischen Neugründung). 1997, sechs Jahre nach ihrer Gründung, wurde die PRC zur fünftgrößten Partei in Italien und erhielt über 3,2 Millionen Stimmen, begann dann aber schnell, die völlig pro-kapitalistische Prodi-Regierung zu unterstützen, ein Schritt, der den Niedergang und das faktische Verschwinden der PRC als politischen Faktor einleitete; bei den Wahlen im letzten Jahr trat die PRC als Teil der “Unione Popolare” (UP, Volksunion) an, die nur knapp 403.000 Stimmen (1,43 Prozent) und keine Abgeordneten erhielt. In Spanien hat Podemos, die jetzt das Bündnis Unidas Podemos anführt, begonnen, sich in dieselbe Richtung zu entwickeln, und die in diesem Jahr in Spanien anstehenden Wahlen können für sie einen wichtigen Wendepunkt darstellen.
Es gibt gewisse Ähnlichkeiten in den Entwicklungen innerhalb der Partei DIE LINKE in Deutschland, insbesondere ihre Beteiligung an Regierungskoalitionen mit pro-kapitalistischen Kräften auf lokaler und Landesebene. Dies und der Charakter eines Großteils der täglichen Aktivitäten der Partei DIE LINKE haben diese geschwächt, und nun sieht sie sich mit einer Kombination aus sinkenden Wahlergebnissen, rückläufiger Mitgliederzahl und vor allem dem enormen politischen Druck konfrontiert, die allgemeine Haltung des deutschen Kapitalismus gegenüber dem Ukraine-Krieg zu akzeptieren. In dieser Situation wird ihre Zukunft offen in Frage gestellt, ebenso wie die Wahrscheinlichkeit einer Abspaltung unter der Führung von Sahra Wagenknecht, einer ihrer populärsten Vertreterinnen, die Linkspopulismus, eine radikal klingende Sprache und einen Hauch von Nationalismus in eine Bewegung einbringen würde, die eindeutig innerhalb des Kapitalismus denken und handeln würde.
Die Partei Syriza in Griechenland scheint die Ausnahme zu sein, da sie nicht zusammengebrochen ist, faktisch hat sie sich aber zu einer zweiten PASOK entwickelt. Obwohl sie derzeit in den Meinungsumfragen mit rund 28 Prozent Unterstützung die zweitgrößte Partei ist, wird sie nicht mehr als die kämpferische Kraft angesehen, die sie einst zu sein schien. Im Vorfeld der griechischen Wahlen im Juli 2023 wird sie als das “kleinere Übel” angesehen. Als die weltweite Finanzkrise nach 2007 zu einer vorrevolutionären Situation in Griechenland führte, stieg die Unterstützung für Syriza sprunghaft an, ihre Wahlergebnisse stiegen von 4,6 Prozent im Jahr 2009 auf über 16 Prozent im Mai 2012, 27 Prozent einen Monat später im Juni 2012 und erreichten 36,3 Prozent im Januar 2015. Damals wurde Syriza als eine Kraft gesehen, die den von der EU und dem IWF auferlegten Sparplan bekämpfte, und es bestand die Hoffnung, dass der damalige Lebensstandard verteidigt werden könnte. Aber die Syriza-Führung war nicht bereit, den Kapitalismus in Frage zu stellen und eine sozialistische Politik umzusetzen. So ignorierte sie sofort die 61%ige Ablehnung des EU/IWF-“Bailouts” im Referendum vom Juli 2015, das sie selbst organisiert hatte, und akzeptierte rasch die Austeritätspolitik. Das bedeutet, dass Syriza selbst angezählt ist und ihre Führer*innen, selbst wenn die Partei überlebt, niemals mit dem Kapitalismus brechen werden.
Nicht jede neue linke Partei ist so schnell zusammengebrochen wie die Prc, andere kleinere Kräfte hatten anfängliche Erfolge, gingen dann aber unter. Natürlich werden sich sozialistische Kräfte nicht einfach geradlinig entwickeln und wachsen, es wird Auf- und Abschwünge geben, aber aus den internationalen Erfahrungen müssen die richtigen politischen Schlüsse gezogen werden.
In letzter Zeit gab es in einigen Ländern Wahlerfolge für linke Kräfte, wie in Belgien und Norwegen, die zwar das Potential für neue Kräfte aufzeigen, deren eigene Zukunft jedoch fraglich ist. Dies ist nicht nur eine Frage der objektiven Situation, sondern auch, weil diese neuen Kräfte im Allgemeinen kein konsequentes Übergangsprogramm vorlegen, das die heutigen Kämpfe mit der Notwendigkeit des Bruchs mit dem Kapitalismus verbindet. So ist zum Beispiek der Stimmenanteil der “Roten Partei” in Norwegen im letzten Jahr von 2,4 Prozent auf 4,7 Prozent gestiegen, und sie hat jetzt acht Abgeordnete, aber in ihrem 12-Punkte-Programm zur Bewältigung der Krise ist von Verstaatlichung keine Rede, geschweige denn von der Notwendigkeit des Sozialismus.
Die Partei der Arbeit (Pvda/PTB) in Belgien hat einen viel stärkeren Aufschwung erlebt, sie erhält derzeit achtzehn Prozent in den Meinungsumfragen, nachdem sie bei den Wahlen 2019 12 Prozent erreicht hatte, aber ihre Propaganda stützt sich auf sehr begrenzte Forderungen. Darüber hinaus versucht die ehemals maoistische Pvda/PTB nicht, eine aktive Massenbasis aufzubauen. Obwohl sie Mitglieder rekrutiert, hat sie eine stufenartige Mitgliedschaft, in der Entscheidungen meistens von Oben getroffen werden, und in der sich nur eine kleine Anzahl von “Kadern” voll beteiligen kann, was zusammen mit ihrer Politik früher oder später zu einer internen Krise führen wird. Dies ist in jüngster Zeit mit dem Ausschluss von Linken und Spaltungen in der ebenfalls ehemals maoistischen Sozialistischen Partei in den Niederlanden vor dem Hintergrund eines erheblichen Rückgangs ihrer Stimmenanteile von über 1,6 Millionen Stimmen im Jahr 2006 auf 623.000 im Jahr 2021 geschehen.
In Irland hat das Fehlen einer sozialistischen Massenalternative der Arbeiter*innen*innen der radikal-nationalistischen Sinn Féin Raum gegeben, um durch systematische Kampagnen für linkspopulistische Forderungen, insbesondere im Wohnungsbau, Unterstützung zu gewinnen. Sie wird heute von vielen als eine radikale linke Kraft angesehen. Es scheint wahrscheinlich, dass Sinn Féin nach den nächsten Wahlen in der Republik Irland an der Regierung beteiligt sein wird. Wenn Sinn Féin im Süden an die Macht kommt, wird das auch die konfessionellen Spaltungen im Norden Irlands weiter verkomplizieren. Sinn Féin wird ihre Position in der Regierung im Süden nutzen, um zu versuchen, die eine Abstimmung über die Wiedervereinigung voranzutreiben, vor allem wenn sie mit einer wachsenden Enttäuschung der Arbeiter*innenklasse über ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik konfrontiert ist. Da Sinn Féin innerhalb des kapitalistischen Systems arbeitet, würde die Erfahrung einer solchen Dubliner Regierung früher oder später bedeuten, dass sie in eine Krise gerät, und in dieser Situation würden zahlreiche Menschen sozialistische Schlussfolgerungen aus der Erfahrung ziehen, und dies könnte die Grundlage für das Entstehen einer Massen-Arbeiter*innenpartei bilden.
Eine der wichtigsten neuen Entwicklungen ist der Aufstieg von La France Insoumise und die Wahlkoalition NUPES, die sie mit der geschrumpften Sozialistischen Partei, der Kommunistischen Partei, den Grünen und anderen für die Parlamentswahlen im letzten Jahr gebildet hat. NUPES erhielt 6,5 Millionen Stimmen, fast doppelt so viele wie Le Pens rechtsextreme RN. Eine wirkliche Präsenz hat das Wahlbündnis NUPES jedoch nur im Umfeld der Abgeordneten von France Insoumise. France Insoumise (FI) selbst befindet sich in einer Führungskrise, nachdem Mélenchon sich zurückgezogen hat. Außerdem stellt die objektive Situation France Insoumise auf die Probe. Die Weigerung der FI-Führung, eine funktionsfähige Partei zu gründen, schwächt die Bewegung selbst, zumal Mélenchon sich öffentlich weniger engagiert. Das Fehlen von Diskussionen und die Unmöglichkeit, an Abstimmungen teilzunehmen, um Entscheidungen zu treffen, schränken die Rolle der Mitglieder von FI ein. Darüber hinaus geht das begrenzte Programm, das sich auf zwei oder drei Forderungen zu Löhnen, Renten und einer Steuer auf Übergewinne konzentriert, nicht weiter darauf ein, wie diese Forderungen durchgesetzt werden können, oder auf die Notwendigkeit, zu kämpfen und Streiks zu organisieren und nicht nur die Abgeordneten der FI zu unterstützen. Dies schränkt die Fähigkeit von FI ein, eine ernstzunehmende Rolle im Widerstand gegen Macrons Politik und in den kommenden Auseinandersetzungen zu spielen. Es ist nicht einfach eine Frage der Strukturen, sondern der Notwendigkeit, dass La France Insoumise eine kämpferische, massenhafte, demokratische politische Kraft wird, wenn sie Macron und den Kapitalismus ernsthaft bekämpfen will.
Durch das Zögern, La France Insoumise als sozialistische Kraft aufzubauen, spiegelt der ehemalige Trotzkist Mélenchon den ideologischen Rückzugs vieler Führer der “Linken” wieder, ähnlich wie zum Beispiel auch die Ex-Kommunist*innen an der Spitze von Syriza in Griechenland es taten. Diese Elemente haben sich bewusst davon entfernt, auch nur vom Sozialismus zu reden, geschweige denn irgendetwas zu befürworten, was als sozialistische Politik angesehen werden könnte. Sahra Wagenknecht in Deutschland ist ein weiteres Beispiel, denn sie ist die ehemalige Vorsitzende der “Kommunistischen Plattform” in der deutschen PDS und dann in der Partei DIE LINKE, die jetzt die “Marktwirtschaft” befürwortet und sich selbst als “linkskonservativ” bezeichnet, was darauf hinausläuft, dass sie linkspopulistische Reden hält, in die sich manchmal ein Element von Klassenpolitik mischt.
Dies alles waren erste Schritte der Entwicklung neuer Parteien, die sich jedoch aus den von uns erläuterten Gründen nicht weiterentwickelt haben oder in einigen Fällen schließlich zusammengebrochen sind oder sich zurückgebildet haben. Sie waren keine Massenparteien der Arbeiter*innen. Dieser Prozess des Wiederaufbaus der politischen Vertretung der Arbeiter*innenklasse hat sich äußerst langwierig gestaltet. Kurzfristig wird er wahrscheinlich auch weiterhin ein komplizierter oder langwieriger Prozess sein, obwohl wir darauf vorbereitet sein sollten, dass sich die Situation in einigen Ländern ändern wird, und dann die notwendigen taktischen Schlussfolgerungen ziehen sollten. Auf dem Weg dorthin ist es zwar nicht sicher, aber nicht ausgeschlossen, dass neue breite radikale Bewegungen oder Parteien entstehen, bevor sich neue Arbeiter*innenparteien entwickeln. Die Forderung nach Arbeiter*innenmassenparteien ist jedoch ein wichtiges Element in unserem Programm neben dem Eintreten für eine sozialistische Politik; aber wir machen die Annahme eines sozialistischen Programms nicht zur Vorbedingung für unsere Tätigkeit in solchen Formationen. Gleichzeitig können revolutionäre sozialistische Parteien und das CWI auch vor der Bildung neuer Arbeiter*innenmassenparteien entstehen und wachsen.
Nicht nur in Frankreich bieten sich neue Möglichkeiten. In Österreich gewann die Kommunistische Partei (KPÖ) 2021 das Oberbürgermeisteramt von Graz, der zweitgrößten Stadt des Landes, während in Wien im Jahr davor das Linksbündnis LINKS 23 Gemeinderäte in vierzehn Wiener Bezirken gewann. Keine der beiden Kräfte hat ein sozialistisches Programm vorgelegt. Die KPÖ in Graz gilt weithin als nicht korrupt, was in Österreich ungewöhnlich ist, und hat eine starke Bilanz in der Wohnungsfrage zu kämpfen. Die KPÖ in Graz ist bereits mit einer Schulden- und Haushaltskrise konfrontiert (von der immer mehr Gemeinden und Stadtverwaltungen betroffen sind), und obwohl sie die Mieten im öffentlichen Wohnungsbau nicht erhöht hat, hat sie unter dem Druck ihrer pro-kapitalistischen Koalitionspartner bereits damit begonnen, bestimmte Kürzungen vorzunehmen und das kapitalistische System vollends zu akzeptieren. So werden zum Beispiel zahlreiche Stellen, die durch die Pensionierung von Arbeiter*innen frei geworden sind, nicht mehr besetzt. Während die Grazer KPÖ derzeit noch Rückhalt hat und noch nicht erheblich geschädigt wurde, sind diese Schritte ein Hinweis darauf, in welche Richtung sie gehen dürfte, da sie nicht bereit ist, die Arbeiter*innenklasse und die von den Kürzungen betroffenen zu mobilisieren, um Druck auf die Bundesregierung für mehr Finanzen auszuüben. LINKS ist eine linke Koalition, die bisher vor allem in der Mittelschicht verankert ist und in der Identitäts-Politik eine Rolle spielt. Während das CWI versteht, warum sich eine anfängliche Unterstützung für die Identitäts-Politik entwickelt, birgt sie die Gefahr in sich, als Bremse für den Aufbau gemeinsamer Kämpfe zu wirken, die für eine Veränderung der Gesellschaft notwendig sind. Dennoch beginnt LINKS unter dem Einfluss des zunehmenden Klassenkampfes in Österreich, sich ein wenig mehr den Gewerkschaften zuzuwenden. Andere sehr kleine linke Formationen wie Wandel, die mehrmals bei nationalen Wahlen antraten und 2019 20.000 Stimmen erhielten, nahmen ebenfalls an der gewerkschaftlichen Protestdemo gegen die Preiserhöhungen teil und hatten Plakate mit, die für Streiks plädierten. Das sind Schritte in die richtige Richtung, aber die Frage ist, ob sich hieraus ein einheitliches Programm und eine einheitliche Arbeitsweise entwickeln kann. In einer Situation, in der die traditionellen Parteien das Vertrauen verloren haben, muss eine linke Alternative auf nationaler Ebene aufgestellt werden, aber weder die KPÖ noch LINKS tun dies. Ein Ergebnis ist, dass sich ein Teil der Unzufriedenheit im Wiedererstarken der rechtsextremen Freiheitlichen Partei (FPÖ) widerspiegelt, die sich schnell von dem Korruptionsskandal um ihren früheren Vorsitzenden Strache erholt hat und nun in einigen Meinungsumfragen mit rund 27 Prozent Unterstützung die stärkste Partei ist.
Erneutes Wachstum der extremen Rechten
Das erneute Erstarken der FPÖ und des RN in Frankreich spiegelt die Polarisierung der Gesellschaft, den Zerfall vieler alter Parteien und insbesondere in Österreich, das Fehlen einer nennenswerten sozialistischen Alternative wider. Die FPÖ profitiert derzeit besonders von der Schwäche der konservativen ÖVP. Die Entfremdung von den alten Strukturen zeigte sich in der niedrigen Wahlbeteiligung von unter 64 Prozent bei den letztjährigen Wahlen in Italien, bei denen auch die rechtsextremen “Brüder Italiens” (FdI) einen Sprung von 1,4 Millionen Stimmen im Jahr 2018 auf 7,1 Millionen verzeichnen konnten. Dies war im Wesentlichen eine Ablehnung der meisten bestehenden Parteien, insbesondere der Lega, der anderen rechtsextremen Partei, deren Stimmenanteil sich nach ihrer kurzen Regierungszeit von fast 5,7 Millionen auf unter 2,5 Millionen Stimmen mehr als halbiert hat. Das Ergebnis war die Bildung einer Regierung der extremen Rechten und rechter Parteien, die bislang noch zurückhaltend agiert. Die FdI, welche jetzt die italienische Regierung anführen, und die Beteiligung der rechtsextremen Schwedendemokraten an der neuen schwedischen Regierung sind jedoch eine Warnung für die Arbeiter*innenbewegung. Sogenannte nationale Einheitsregierungen, an denen die meisten Parteien außer der extremen Rechten beteiligt sind und die den Lebensstandard senken oder nicht verbessern, sind ein Rezept, um der extremen Rechten Raum zu geben, wie die Wahlen in Italien im vergangenen Jahr gezeigt haben.
Ein Faktor für das Wachstum der extremen Rechten ist die Frage der Migration und der ethnischen Spannungen. Diese haben sich durch die Folgen der Nato-Niederlage in Afghanistan gefolgt von Geflüchteten aus der Ukraine noch verschärft. Während im Jahr 2015 circa 1,2 Millionen Flüchtlinge aus dem Nahen Osten in Europa ankamen, sind bis November 2022 4,4 Millionen ukrainische Geflüchtete angekommen, zusätzlich zu den über 365.000 erstmaligen Asylbewerber*innen in Europa. Davon kamen 1,1 Millionen nach Deutschland, mehr als 2015. Die Unfähigkeit des Kapitalismus, die Geflüchteten zu versorgen, kann in Verbindung mit dem bereits bestehenden Druck und Mangel an Wohnraum, Bildung, dem Pflegenotstand usw. einen fruchtbaren Boden für Nationalist*innen und die extreme Rechte bilden wenn die Arbeiter*innenbewegung diese Themen nicht aufgreift und gemeinsame Kämpfe zu diesen Schlüsselthemen organisiert, wie dies bei der Kampagne der extremen Rechten gegen ukrainische Geflüchtete in Irland zu beobachten war.
Schon zuvor gab es eine stetige Zunahme von Hindernissen für Geflüchtete und Asylsuchende, einschließlich der so genannten “Push-Back”-Taktik an den EU-Grenzen. In Dänemark führt die sozialdemokratisch geführte Regierung weiterhin migrationsfeindliche Maßnahmen ein, um zu verhindern, dass Asylanträge im Lande gestellt werden.
Der Kapitalismus ist nicht in der Lage, diese Situation schnell zu bewältigen, was die Gefahr schwerwiegender Auswirkungen birgt, da der rasche Bevölkerungszustrom enormen Druck in den Bereichen Wohnen, Arbeit, Bildung und Soziales erzeugt. Sicherlich kann es “schnelle Lösungen” geben, aber sie werden instabil und unbefriedigend sein. Wie in anderen Ländern auch, liegt der Schlüssel in einem sozialistischen Plan, der die Mittel bereitstellt und eine demokratische Kontrolle über die Pläne ermöglicht. Ohne das ist die Gefahr weiterer Spaltungen und ethnischer Spannungen groß.
Europa an einem Wendepunkt
Europa steht vor einem Wendepunkt, in einer sich rasch verändernden internationalen Situation. Die Schlüsselfrage ist der Wiederaufbau der Arbeiter*innenbewegung und die Gewinnung der Arbeiter*innen für die Ideen des Marxismus. Gerade in den letzten Jahren hat es sowohl wichtige Kämpfe als auch Chancen gegeben. Viele der politischen Chancen wurden jedoch aufgrund des fehlenden sozialistischen Bewusstseins und der kontraproduktiven Vorgehensweise der Führungen der verschiedenen neuen Kräfte, Bewegungen und Parteien, die entstanden sind, nicht wahrgenommen.
Die Erfahrung hat erneut gezeigt, daß der Schlüssel zum Wiederaufbau der sozialistischen Bewegung in der aktiven Beteiligung der Arbeiter*innenklasse liegt. Aber das ist nicht die einzige Schlüsselfrage. Für eine kurze Zeit hatte die Prc einen großen Einfluss in der FIOM, der italienischen Metallarbeiter*innengewerkschaft, aber die Politik der Prc-Führung, insbesondere der Beitritt zur Regierung Prodi, hat die Partei massiv beschädigt. Das Programm, die Politik und die Methoden der neuen Kräfte sind entscheidend. Zwar entwickeln sich Organisationen nicht unbedingt geradlinig, aber der Hauptgrund für die Schwäche und das Scheitern der meisten neuen linken Kräfte, die in den letzten Jahrzehnten entstanden sind, ist ihre Politik.
Es wird neue Versuche geben, die notwendigen sozialistischen Organisationen aufzubauen, vor allem dann, wenn große Teile der Arbeiter*innenklasse und der Jugend beginnen, aus ihren Erfahrungen mit den politischen Ereignissen und insbesondere dem Klassenkampf Konsequenzen zu ziehen. Die Zeitspanne, in der es dazu kommen wird, ist jedoch nicht klar, und in der Zeit vor solchen Entwicklungen wird sich die Gelegenheit bieten, die Unterstützung für den Marxismus direkt bei denjenigen aufzubauen, die sich bereits zu revolutionären Ideen hingezogen fühlen.
Deshalb müssen der Aufbau der Kräfte des Marxismus und der Wiederaufbau der Arbeiter*innenbewegung zur Vorbereitung auf die kommenden noch stürmischeren Zeiten, die vor uns liegen, miteinander verknüpft werden.