Atomausstieg – Ergebnis von Massenbewegung und militantem Widerstand

Atomare Bedrohung bleibt

Der 15. 4. 2023 war ein historischer Tag. Mit den AKWs Neckarwestheim 2, Isar 2 und Emsland gingen nach sechzig Jahren die letzten Kernkraftwerke in Deutschland vom Netz. Nirgendwo gingen die Lichter aus. Nur noch etwas mehr als vier Prozent der Stromerzeugung stammten zuletzt noch aus den AKWs. Initiativen aus der Anti-AKW-Bewegung luden am 15.4. zum Abschaltfest nach Neckarwestheim. Um die 500 Menschen kamen.

Von Ursel Beck

Von den 70er Jahren bis heute ist die Anti-AKW-Bewegung in Deutschland eine der bedeutendsten Bewegungen. Tausende haben sich durch sie politisiert und radikalisiert. Die Großdemonstration von 100.000 in Brokdorf 1981 und die regionalen Demonstrationen mit 250.000 Menschen nach dem Reaktorunfall in Fukukshima 2011 sind Höhepunkte dieser Bewegung. Ab den 70er Jahren fanden unzählige lokale, regionale und überregionale Großdemonstrationen, Blockaden, Platzbesetzungen und andere Aktionen des zivilen Ungehorsams mit Massenbeteiligung statt. Während die AKW-Gegner*innen über ihren Abschalterfolg zumindest Genugtuung empfanden, nutzten ihre Gegner*innen bereits im Vorfeld des Abschalttermins die Energiekrise für das erneute Schönreden der Kernenergie. Das führte dazu, dass bei Meinungsumfragen inzwischen 65 Prozent der Bevölkerung dafür sind, die Meiler weiterlaufen zu lassen. Die verheerenden Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima sind nicht mehr im Bewusstsein und wurden in den Medien um den Abschalttag auch nicht ins Bewusstsein gebracht.

Lügen gehen weiter

Im Jahr 2022 hat die EU-Kommission Atomenergie als umweltverträglich und nachhaltig eingestuft. In der Propaganda für Atomenergie wird inzwischen in den Vordergrund gestellt, dass es eine CO2-freie und damit klimafreundliche Energieerzeugung sei. Das ist eine weitere Lüge der Atomlobby. Bereits beim Abbau, Transport und Aufbereitung von Uran gibt es CO2-Emissionen. Auch der lange und aufwändige Bau, die tausenden Tonnen verbauten Betons und Stahl, der Transport und die Einlagerung von Atommüll und schließlich der Rückbau emittiert enorm viel CO2. Laut Öko-Institut Darmstadt wird dadurch bei Atomstrom mehr CO2 emittiert als bei einem Blockheizkraftwerk. Außen vor bleibt auch die Tatsache, dass aufgrund der Klimakatastrophe die Flüsse immer öfters so niedrige Wasserstände haben, dass für AKWs nicht genug Kühlwasser entnommen werden kann. Das hat zum Beispiel in Frankreich dazu geführt, dass im Sommer 2022 zwanzig Prozent des Stroms aus deutschen Kohlekraftwerken importiert wurde. Ignoriert wird auch die Kostenfrage. Fakt ist, dass Atomstrom 34 Cent pro Kilowattstunde kostet und Strom aus erneuerbarer Energie nur sechs bis elf Cent.

Die herrschende Klasse gönnt der Anti-AKW-Bewegung ihren mit Massendemonstrationen, Blockaden und zivilem Ungehorsam erreichten Sieg nicht. Deshalb wird sie mit Häme überzogen und werden Argumente für Atomkraft aufgefahren. Umso wichtiger ist es, sich bewusst zu machen, dass die Anti-AKW-Bewegung sich bewusst ist, wie dieser Erfolg möglich war.

Platzbesetzung im badischen Wyhl

Keine Widerstandsbewegung nimmt einen geradlinigen Verlauf. Als Reaktion auf den geplanten Bau von zwei Reaktorblöcken in Wyhl Mitte der 70er Jahre wurde der Bau zunächst durch Blockaden der Baumaschinen zum Stillstand gebracht und dann der Bauplatz besetzt. Nachdem die Polizei den Platz brutal geräumt hatte, gab es eine große Demoralisierung im Widerstand. Viele hielten es für ausgeschlossen, dass das Projekt noch gestoppt werden könnte. Es kam zu einer Diskussion, in der ein Teil der Aktivist*innen auf eine erneute Besetzung orientierten und ein anderer auf die Wirkung legaler Proteste und gerichtlicher Klagen. Die radikaleren Teile setzten sich durch. Die Bürger*inneninitiativen beschlossen die Zurückeroberung des Bauplatzes und setzten es in die Tat um. Eine zweite Platzräumung wurde vom Staatsapparat generalstabsmäßig vorbereitet, aber nicht umgesetzt. Kein*e Politiker*in war bereit, die Verantwortung für eine weitere gewaltsame Räumung zu übernehmen. Der Polizeihauptkommissar, der den Einsatz leiten sollte, verweigerte den Einsatzbefehl. Ministerpräsident Filbinger zog aus der Platzbesetzung die Schlussfolgerung: „Wenn dieses Beispiel Schule macht, ist dieses Land nicht mehr regierbar“. Ohne erneute Platzbesetzung wäre Wyhl gebaut worden. Und nach Wyhl war geplant, den Rhein entlang wie an einer Perlenschnur ein AKW nach dem anderen zu bauen. Insgesamt waren damals in Deutschland über hundert AKWs geplant. Nur ein Bruchteil von ihnen wurde gebaut. Insofern war der erfolgreiche Widerstand in Wyhl der Anfang vom Ende der AKWs in Deutschland. Darüber waren sich später alle Akteur*innen des Widerstands einig. Die Wyhler*innen waren ein kleines gallisches Dorf. Sie hatten keine Mehrheit im Land hinter sich. Bis zum Reaktorunglück in Tschernobyl 1986 gab es bei allen Meinungsumfragen eine Mehrheit für Atomenergie. Diese Mehrheit glaubte Filbingers Aussage: „Wenn Wyhl nicht gebaut wird, werden Ende des Jahrzehnts in Baden Württemberg die ersten Lichter ausgehen.“ Dennoch wurde das AKW in Wyhl und damit viele weitere verhindert.

Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf verhindert

Die Arbeitsplatzvernichtung im Stahlwerk Maxhütte hatte in den 80er Jahren dazu geführt, dass die Arbeitslosigkeit in der Oberpfalz auf zwanzig Prozent anstieg. Der weit rechts stehende bayrische CSU-Ministerpräsident Franz Josef Strauß glaubte damals mit dem Argument der Schaffung von Arbeitsplätzen eine atomare Wideraufbereitungsanlage (WAA) in Wackersdorf bauen zu können. Die deutsche Atommafia wollte eine eigene zentrale Wiederaufbereitungsanlage und sich damit auch Zugang zu atomwaffenfähigem Plutonium verschaffen. 1986 wurde eine riesige Schneise in den Taxöldener Forst geschlagen und unzählige Bäume dem Erdboden für den Bau der WAA gleichgemacht. Die Bevölkerung sah nicht ein, dass sie Tausende von sinnvollen Arbeitsplätzen in der Stahlindustrie verlieren sollte, um einige wenige gefährliche Arbeitsplätze zu erhalten. Die Wut über den Verlust der Arbeitsplätze der Stahlwerker nährte den Widerstand gegen die WAA. Von 1985 bis 1989 gab es bürgerkriegsähnliche Zustande in Wackersdorf. Für den Widerstand wurde ein Hüttendorf gebaut, das Mitte Dezember von 3700 Polizist*innen brutal geräumt wurde. Ein zweites Hüttendorf wurde ebenfalls geräumt. Im März 1987 wurde der Bau begonnen und ein 15 Millionen DM teurer unüberwindbaren Mehrfach-Zaun um das Gelände gezogen. Das war ein herber Rückschlag für den Widerstand. Er ging trotzdem weiter. Immer wieder gab es die Konfrontation zwischen hunderten und tausenden Demonstrant*innen mit der Polizei, die den Bauzaun schützte. Immer wieder gab es auch Demonstrationen von Zehntausenden in Wackersdorf und München. Mehrere WAAhnsinnsfestivals wurden organisiert. Das größte davon fand im Juli 1986 mit 100.000 Teilnehmenden statt. BAP, Udo Lindenberg und Herbert Gröenmeyer gehörten zu den auftretenden Musiker*innen. Durch den GAU in Tschernobyl bekam der Widerstand gegen die WAA und AKWs mächtig Aufwind. Nach einem Boykottaufruf gegen Siemens stieg Siemens aus der Betreibergesellschaft der WAA aus. Zudem waren dem Staat der finanzielle und politische Preis für den Bürgerkrieg zu hoch. Zwei Jahre nach Baubeginn wurde der Bau 1989 eingestellt.

Castorblockaden und Massenproteste nach Fukushima

Von 1995 bis 2011 rollten 13 Castor-Transporte von der Wiederaufbereitungsanlage im französischen La Hague bis Gorleben. Die Anti-AKW-Bewegung lehnte diese Transporte ab, solange weiter neuer Atommüll produziert wird. Zur Organisierung sehr effizienter Behinderungsaktionen gegen die Castortransporte entstand 1996 das bundesweite Netzwerk „x-tausendmal quer“. Es wurden neue Widerstandsformen entwickelt, wie die Fünf-Finger-Taktik zur Durchbrechung von Polizeiketten oder das Schottern (Entfernen von Schotter aus dem Gleisbett). Die Massenblockaden von „x-tausendmal quer“ zwangen die damalige Bundesumweltministerin Angela Merkel 1997 einen Stopp der Transporte ins Wendland bis zum Jahr 2000 zu verhängen. Auch nachdem die Merkel-Regierung 2011 den Atomausstiegsbeschluss revidierte und die Laufzeit verkürzte, hörten Castor-Blockaden nicht auf. Der letzte Castortransport im Jahr 2011 dauerte 125 Stunden und war begleitet von massiven Protesten und Aktionen des zivilen Ungehorsams. Für diese Castortransporte waren jedes Mal um die 20.000 Polizisten im Einsatz. Der ehemalige Linke-Bundestagsabgeordnete Tobias Pflüger wies beim Abschaltfest in Neckarwestheim darauf hin, dass die Castor-Blockaden ein wesentlicher Faktor waren, der in Kombination mit dem Anstieg der Anti-Atomproteste nach Fukushima die Regierung Merkel zur Revision ihrer Atompolitik zwang. Tatsächlich war es die schwarz-gelbe Merkel-Regierung und nicht eine Koalition mit den Grünen, die 2011 die sofortige Abschaltung der sieben ältesten Reaktoren beschloss und die Laufzeit aller anderen bis Ende 2022 begrenzte.

Die Grünen

Die Partei Die Grünen sind Ergebnis der Anti-AKW-Bewegung und versprachen den Ausstieg aus der Atomenergie. Als sie mit der SPD die Regierung bildeten, war es erklärtes Ziel der Regierungskoalition die Energiewende vom fossil-nuklearen Zeitalter in das solare Zeitalter einzuleiten. Stattdessen gab es eine Kapitulation vor den Atomkonzernen durch den „Atomkonsens“ von 2000, in dem den AKWs eine Laufzeit von 32 Jahren seit Inbetriebnahme zugesichert wurde. Als grüner Umweltminister in der Regierung Schröder, gab sich Jürgen Trittin dafür her, zusammen mit rot-grünen Landesregierungen die Castor-Transporte mit Polizeigewalt durchzusetzen. Die Grünen haben die Seiten gewechselt. Das zeigte sich nochmal deutlich, als sie – obwohl in der Opposition – 2011 dem schwarz-gelben „Atomausstieg“ mittrug anstatt die Anti-AKW-Bewegung in ihrer Forderung nach sofortigem Abschalten aller AKWs zu unterstützen. Interessanterweise war von den Grünen beim Abschaltfest nahezu nichts zu sehen. Der Grüne Robert Habeck hat noch nicht mal was dagegen, dass in Kriegsgebieten AKWs betrieben werden. Nach einem Treffen mit dem ukrainischen Energieminister, erklärte er Anfang April 2023: „Die Ukraine wird an der Atomkraft festhalten. Das ist völlig klar – und das ist auch in Ordnung, solange die Dinger sicher laufen. Sie sind ja gebaut.“

AKWs sind aus – Radioaktivität und atomare Bedrohung bleibt

Die Freude über die Abschaltung der AKWs in Deutschland wurde getrübt durch die vielen Hinweise der Redner*innen über die weitere Bedrohung durch AKWs international. So wurde darauf hingewiesen, dass die Anlage zur Urananreicherung in Gronau und die Brennelementefabrik in Lingen weiter laufen und stillgelegt werden müssen. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass die staatliche Atomaufsicht beim Rückbau der AKWs genauso wenig ihrer Aufsichtspflicht nachkommt wie beim Betrieb der AKWs. Deshalb sei es Aufgabe der Anti-AKW-Bewegung diesen Rückbau genau zu beobachten und in Neckarwestheim werde man das auch tun. In 33 Staaten sind 439 Kernreaktoren in Betrieb und um die sechzig werden derzeit neu gebaut. Katastrophen wie in Tschernobyl und Fukushima können sich hier jederzeit wiederholen. Die zivile und militärische Seite der Atomkraft sind nicht zu trennen. Zivile Atomprogramme dienen der Tarnung von Atomwaffenprogrammen. Der Ukraine-Krieg mit der Bombardierung des Atomkraftwerks in Saporischja zeigt, dass auch ohne Einsatz von Atomwaffen eine atomare Katastrophe entstehen kann. Aufgrund des Zerfalls von staatlichen Strukturen und der unsicheren Lagerung von Atommüll, erhöht sich zudem weltweit die Gefahr, dass Atommüll in die Hände terroristischer Banden, Privatarmeen oder nicht kontrollierte Militärs kommt.

Endlagersuche in Deutschland

Die Atomkonzerne konnten sich im Jahr 2017 mit einer Einmalzahlung von rund 24 Milliarden von ihre Verantwortung für die Lagerung des radioaktiven Mülls freikaufen. Die Kosten der AKWs werden weiter sozialisiert, nachdem die Gewinne privatisiert wurden. Nach drei Jahrzehnten harter Auseinandersetzungen wurde im September 2020 der Salzstock in Gorleben endlich als Endlager für hochradioaktiven Atommüll für ungeeignet erklärt. Bis 2031 soll ein neuer Standort gefunden werden. Da es kein sicheres Endlager geben kann und jeder Atomtransport gefährlich ist, sind weitere Auseinandersetzungen vorprogrammiert. Außer in Gorleben gibt es in Jülich und Brunsbüttel Zwischenlager, die aufgrund von Sicherheitsdefiziten keine Genehmigung haben, mangels Alternativen dort aber trotzdem geduldet werden. Eintausend Castorbehälter mit hochradioaktiven Abfällen stehen in den Zwischenlagern der einst 16 AKWs. Hinzu kommen Tausende abgebrannte Brennelemente in den Abklingbecken, sowie der Atommüll, der in den Plutoniumfabriken La Hague und Sellafield auf den Rücktransport wartet. Beim Abschaltfest in Neckarwestheim wurde erklärt, dass die Zwischenlager zu Langzeitlagern werden, weil kein Endlager in Sicht ist. Das birgt weitere Strahlengefahren, weil die Zwischenlager umso unsichere werden, je länger die Lagerung hier dauert. Nach Einschätzung von Experten wird es bis zu hundert Jahre dauern bis in Deutschland die Endlagerung beginnt. Es ist eine gewisse Beruhigung, dass die Belegschaften, die die AKWs am Laufen hielten, den Rückbau organisieren. Genauso wenig wie bei Stromproduktion haben sie jedoch dabei das Sagen. Deshalb bleibt die Forderung nach Überführung der abgeschalteten AKWs und der Energiekonzerne in öffentliches Eigentum und die demokratische Verwaltung und Kontrolle durch gewählte Vertreter*innen aus Belegschaft, Gewerkschaften und für den Rückbau und die Lagerung des Atommülls die Einbeziehung von Vertreter*innen der Anwohner*innen und der Atomexperten der Bürger*inneninitiativen eine zentrale Forderung von Sol.

Print Friendly, PDF & Email