Ukraine-Krieg: Vor der Frühjahrsoffensive

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Gewalt, Elend und Tod nehmen weiter zu – Aufbau einer unabhängigen Arbeiter*innenbewegung nötig

Der blutige Krieg in der Ukraine geht weiter, und Berichten zufolge gibt es auf beiden Seiten Hunderttausende von Toten und Verletzten. Zu Beginn des Frühjahrs scheinen die ukrainischen Streitkräfte mit westlicher militärischer Unterstützung und Ausbildung eine neue Großoffensive vorzubereiten. Eine neue, noch blutigere Phase des Krieges ist in naher Zukunft wahrscheinlich. In dem Konflikt werden High-Tech-Waffen eingesetzt, finden aber auch Grabenkämpfe und Artillerieangriffe statt, die an den Ersten Weltkrieg und andere frühere Konflikte erinnern.

Von Niall Mulholland, Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale (Artikel erschien im englischen Original am 6. April 2023 auf socialistworld.net)

Derzeit konzentriert sich der Hauptkriegsschauplatz auf die Stadt Bachmut im Osten. Sie wird von den russischen Streitkräften als wichtiger Stützpunkt angesehen. Ihre Einnahme wäre ein großer Propagandacoup und würde ihnen helfen, ihre Gebietsgewinne in den Regionen Donezk und Lugansk zu konsolidieren. Obwohl einige ukrainische Militärstrateg*innen und westliche Berater*innen Selenskyj davor gewarnt haben, so viele Soldat*innen und militärische Ressourcen in die Verteidigung der Stadt zu stecken, die ihrer Meinung nach für die allgemeinen Kriegsanstrengungen nicht wesentlich ist, besteht Selenskyj darauf, dass die Stadt um jeden Preis verteidigt werden muss. Allein der brutale Konflikt um Bachmut hat schätzungsweise zehntausende Menschenleben auf beiden Seiten gekostet.

Sozialist*innen und die internationale Arbeiter*innenbewegung müssen die blutige Invasion der Ukraine durch Putins Streitkräfte verurteilen. Es gibt keine Rechtfertigung für die Entfesselung des Terrors gegen die ukrainische Bevölkerung und die enormen Zerstörungen, die damit einhergehen. Wir fordern den sofortigen Rückzug der russischen Streitkräfte und ein Ende des Krieges.

Die Hauptaufgabe der arbeitenden Bevölkerungen der Ukraine und Russlands besteht darin, ihre eigenen unabhängigen Organisationen gegen Invasion und Krieg zu organisieren und sich den reaktionären Oligarch*innen und ihren politischen Verbündeten in beiden Ländern entgegenzustellen. Dazu gehört der dringende Aufbau wirklich unabhängiger Gewerkschaften und Massenparteien der Arbeiter*innenklasse mit einem mutigen sozialistischen Programm für die Beendigung von Krieg, Armut und Ausbeutung und für eine demokratische sozialistische Gesellschaft ohne Zwang oder Unterdrückung einer Nationalität oder Minderheit.

Der Einmarsch in die Ukraine war eine durch und durch reaktionäre und verzweifelte Maßnahme Putins, der sein Regime darauf stützt, den großrussischen Chauvinismus zu bedienen. Gegen den Krieg in Russland wird von den Behörden rücksichtslos vorgegangen. Das Putin-Regime hat neue Reisebeschränkungen eingeführt, die sich gegen die höheren Schichten des Staatsapparats richten. Das ist Ausdruck der Ängste des Regimes vor einer wachsenden Opposition gegen den Krieg auf allen Ebenen der Gesellschaft.

Opposition gegen das Putin-Regime bedeutet keineswegs Unterstützung für die Selenskyj-Regierung oder für dessen Unterstützer*innen auf Seiten des westlichen Imperialismus. Es war bezeichnend, dass zum Beispiel in Großbritannien vor kurzem dem ersten Jahrestag von Putins Angriff auf die Ukraine viel mehr Medienaufmerksamkeit zuteil wurde als dem 20. Jahrestag des von der USA und von Großbritannien angeführten Irak-Kriegs. Dieser kaltblütig vorbereitete Krieg, der mit Lügen über “Massenvernichtungswaffen” gerechtfertigt wurde, hat Hunderttausende von Toten gefordert. Dies zeigte einmal mehr die Scheinheiligkeit der westlichen Politiker*innen und Medien. Ebenso wie Russland unter Putin haben auch die Nato-Mitgliedsstaaten in der Vergangenheit Länder überfallen, so z. B. bei der oben erwähnten US-geführten Invasion im Irak, beim Einmarsch des türkischen Militärs in Zypern im Jahr 1974 und in Syrien während des Bürgerkriegs der letzten Jahre.

In der Ukraine steht Selenskyj einem rechtsgerichteten Regime vor, das den Interessen der ukrainischen Oligarch*innen Vorrang vor denen der breiten Masse der Bevölkerung einräumt. Selenskyjs Regierung hat linke Parteien, die es wagen, ihre Politik zu kritisieren, verboten und unter dem Deckmantel des Krieges drakonische gewerkschafts- und arbeiter*innenfeindliche Gesetze erlassen. Angesichts der Spaltung der orthodoxen Kirche im Osten des Landes und der Tatsache, dass die Gläubigen auf beiden Seiten des Krieges in der Ukraine kämpfen, hat das Selenskyj-Regime repressive Maßnahmen gegen orthodoxe Einrichtungen ergriffen, die Russland unterstützen, und gegen diejenigen, von denen man annimmt, dass sie die ukrainischen Kriegsanstrengungen nicht voll unterstützen.

Die Menschen in der Ukraine müssen täglich mit zunehmender Armut und einem militärischen Konflikt leben. Seit Beginn der russischen Invasion sind rund acht Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen, als das Land noch rund vierzig Millionen Einwohner hatte. Etwa sieben Millionen leben in Gebieten unter russischer Kontrolle.

Der Krieg ist für die ukrainische Wirtschaft katastrophal. Im letzten Jahr sank das BIP um dreißig Prozent. Am 21. März kündigte der IWF an, dass die Ukraine das siebtgrößte Hilfsprogramm in der Geschichte des Fonds erhalten würde (15,6 Milliarden US-Dollar über die nächsten vier Jahre im Rahmen eines Notfallprogramms). Das Selenskyj-Regime schätzt jedoch, dass es 39,5 Milliarden US-Dollar mehr benötigt, als es durch Steuern und Beihilfen zu erhalten erwartet, was einem Defizit von neun Prozent des BIP (Bruttoinlandsprodukt)entspricht.

Insgesamt könnte die Ukraine 7,5 bis acht Prozent Zinsen für das IWF-Darlehen zahlen müssen. “Der Albtraum wäre es, das Land mit Schulden zu belasten, während es sich noch im Krieg befindet oder gerade beginnt, sich zu erholen”, kommentierte der Economist (Ausgabe vom 1. bis 7. April).

USA vs. China

Die Ukraine ist de facto zur Frontlinie des Konflikts zwischen den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten auf der einen Seite und Russland und seinen breiteren Bündnissen, insbesondere mit China, dem wichtigsten wirtschaftlichen Rivalen der USA, auf der anderen Seite geworden. Das Regime in Peking hat sich zwar nicht gegen Moskau gestellt, war aber vorsichtig und hat die russische Invasion weder gebilligt noch offen unterstützt.

Chinas Präsident Xi Jinping besuchte kürzlich Moskau und brachte einen “12-Punkte-Friedensplan” für die Ukraine mit, der nur für Russland schmackhaft war. Peking hat Russland unterstützt, indem es große Mengen russischen Öls und Gases zu reduzierten Preisen gekauft hat. Westliche Militärgeheimdienste räumen zwar ein, dass es keine Beweise dafür gibt, dass China Russland in nennenswertem Umfang Waffen zur Verfügung gestellt hat, aber es ist eine offene Frage, ob sich dies ändern könnte, wenn die Ukraine auf dem Schlachtfeld die Oberhand gewinnt.

Der Krieg in der Ukraine hat die Spannungen in Bezug auf Taiwan erheblich verschärft. Dexter Roberts vom Atlantic Council, einer Denkfabrik in Washington, kommentierte: “Xi Jinping und andere führende Politiker empfinden aufrichtig Sympathie für Russland. Sie glauben, dass Putin durch die Nato-Expansion mit dem Rücken an die Wand gedrückt wird. Sie sehen durchaus eine Parallele zur US-Präsenz im indopazifischen Raum”.

Ein Leitartikel im Economist (1.-7. April 2023) warnt sowohl die USA als auch China davor, dass “das Streben nach militärischer Vorherrschaft in der Nähe von Krisenherden, vor allem Taiwan, Zwischenfälle oder Zusammenstöße auslösen könnte, die außer Kontrolle geraten”.

Die USA, das Vereinigte Königreich und Australien haben vor einigen Wochen auf einem Gipfeltreffen den “AUKUS-Pakt” wiederbelebt und vereinbart, dass Atom-U-Boote in Australien stationiert werden können.

Die Spannungen im Handel zwischen den USA und China nehmen zu, und der IWF schätzt, dass die “Entkopplung” die Weltwirtschaft zwischen 0,2 Prozent und sieben Prozent des weltweiten BIP kosten kann. Washington hat Embargos auf Halbleiter und andere Waren verhängt, damit die westlichen kapitalistischen Mächte ihre technologische Vorherrschaft vorerst aufrechterhalten können. “Das Einzige, worüber sich beide Seiten einig sind, ist, dass der beste Fall eine jahrzehntelange Entfremdung ist – und dass der schlimmste Fall, ein Krieg, immer wahrscheinlicher wird” (Economist).

Ungeachtet der derzeit erschreckenden Opferzahlen auf dem Schlachtfeld in der Ukraine wird der Konflikt weiter eskalieren. Der erbitterte Kampf um Bachmut scheint sich derzeit zugunsten Russland zu bewegen, doch gibt es für beide Seiten keine Garantie für den Ausgang. Aus mehreren Nato-Ländern werden beträchtliche militärische Ressourcen, darunter auch Kampfpanzer, in die Ukraine entsandt, während sich Kiew auf eine vielerseits erwartete Frühjahrsoffensive gegen die russischen Streitkräfte vorbereitet.

Und der Bereich der Grenzspannungen zwischen westlichen Mächten und Russland wächst. Unter massivem Druck aus Washington hat die Türkei dem Nato-Beitritt Finnlands zugestimmt, und Schweden wird wahrscheinlich folgen. Während Putin seine Rhetorik in Bezug auf den Einsatz von Atomwaffen abgemildert hat, erklärte sein Verbündeter, Präsident Alexander Lukaschenko, dass Belarus möglicherweise russische Atomwaffen beherbergen wird, wodurch die Waffen näher an die Grenzen der NATO-Staaten heranrücken.

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban erklärte letzte Woche, die EU stehe “kurz davor, in irgendeiner Form Friedenstruppen in die Ukraine zu schicken”. Ein solcher Schritt wäre ein rotes Tuch für Moskau. Der ehemalige russische Präsident Dimitri Medwedew reagierte darauf mit der Aussage: “Es ist klar, dass die so genannten NATO-Friedenstruppen einfach auf der Seite unserer Feinde in den Konflikt eintreten werden…” und dies würde “die Situation an den Punkt bringen, an dem es kein Zurück mehr gibt”.

Unabhängig davon, ob es sich bei diesen Erklärungen um einen Bluff handelt oder nicht, sind sie ein Zeichen für die brisante Situation und die Verschärfung der Spannungen in einer ohnehin schon brisanten militärischen Lage in Osteuropa.

Sollte Putins Regime mit noch größeren Verlusten und einer Niederlage konfrontiert sein, könnte es aus Verzweiflung auf den begrenzten Einsatz einer “taktischen Atomwaffe” oder anderer Massenvernichtungswaffen zurückgreifen. Putin hat diese Frage auf den Tisch gebracht. Seine jüngste Drohung, solche Waffen nach Belarus zu bringen, unterstreicht diese mögliche Gefahr, wenn das Moskauer Regime in einem bestimmten Stadium eine existenzielle Bedrohung erfährt. Dies würde international enorme Auswirkungen haben und massive Antikriegsbewegungen auslösen.

Die Arbeiter*innenklasse in der Ukraine und in Russland sowie international ist die Hauptverliererin von Krieg und Militarisierung. Keine der beiden Seiten in diesem katastrophalen Krieg ist bereit, Verhandlungen und einen Waffenstillstand auch nur in Erwägung zu ziehen, solange sie glauben, dass sie auf Kosten des Lebens zahlloser russischer und ukrainischer Soldat*innen noch gewinnen oder zumindest die besten Ergebnisse für sich herausholen können.

Die Frühjahrsgegenoffensive

Die erwartete Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte wird voraussichtlich im Süden stattfinden. “Ein Vorstoß von etwa fünfzig Meilen über die Steppe von den derzeitigen Frontlinien bis zur russisch besetzten Stadt Melitopol würde das von Russland gehaltene Gebiet in zwei Zonen aufteilen, die Nachschublinien unterbrechen und die ukrainische Artillerie in Reichweite der russischen Stützpunkte auf der Halbinsel Krim bringen”, so die New York Times (03.04.23).

In der Zeitung wird die entscheidende Rolle des Westens bei den Vorbereitungen hervorgehoben: “Zehntausende neuer Rekruten wurden in Europa und in der Ukraine ausgebildet, auch in den neu gebildeten Einheiten einer “Offensivgarde”. Etwa 35.000 Ukrainer*innen haben sich für die Angriffseinheiten gemeldet”.

Der Erfolg ist für Kiew jedoch nicht sicher. Im Süden haben russische Einheiten Verteidigungspositionen aufgebaut, seit sie im November letzten Jahres aus der Region Cherson vertrieben wurden. Westlichen Militärquellen zufolge werden hochentwickelte westliche Panzer bei der Zerschlagung dieser Stellungen von entscheidender Bedeutung sein. Doch was Moskau an modernster militärischer Ausrüstung fehlen mag, wird es mit einem potenziell enormen Pool an Humanressourcen auszugleichen versuchen, die es gegen die Ukraine einsetzen kann.

Die Offensive in der Ukraine kann eher zu einer weiteren blutigen Pattsituation als zu einem schnellen Durchbruch führen. “In den Augen der Washingtoner Eliten ist der entscheidende Punkt, dass die Ukraine bei der kommenden Offensive einen bedeutenden Landgewinn verzeichnen muss”, so Cliff Kupchan, Vorsitzender der Eurasia Group in Washington.

Einige Regierungsvertreter*innen in Nato-Mitgliedsländern wie Frankreich und Deutschland haben bereits Möglichkeit geäußert, dass die Ukraine Gebietsverluste im Osten hinnehmen und eventuell die Krim nicht zurückerobern könne, sollte der Konflikt weitergehen. Sie haben die Notwendigkeit für Kiew, Verhandlungen mit Russland aufzunehmen, als die “bestmögliche” Option bezeichnet.

Da sich der Krieg mit schrecklichen menschlichen Verlusten hinzieht, wird die Stimmung auf allen Seiten unweigerlich beeinträchtigt. “Die Moral, ein Bereich, in dem die ukrainischen Kämpfer*innen über weite Strecken des Krieges einen Vorsprung hatten, wird immer mehr zu einer Herausforderung. In etwa einem Dutzend Interviews, die in letzter Zeit geführt wurden, äußerten Soldat*innen, die sich in der Nähe von Bachmut aufhielten oder für kurze Pausen aus dem Schmelztiegel der Straßenkämpfe kamen, ihre Bestürzung über das Ausmaß von Gewalt und Tod.” (NYT)

Im vergangenen Jahr sind nach westlichen Angaben etwa 100.000 ukrainische Soldat*innen getötet oder verwundet worden, was wahrscheinlich eine Unterschätzung ist. Der Westen gibt sogar noch höhere Zahlen für russische Opfer an, die nicht nachprüfbar sind, aber wahrscheinlich erscheinen. Unabhängig vom tatsächlichen Ausmaß der Todesopfer und Verletzten ist klar, dass beide Seiten enorm leiden, da in den letzten Monaten kaum Gebietsgewinne erzielt wurden und ein Ende des Krieges nicht in Sicht ist.

Doch irgendwann wird der Widerstand gegen das endlose Gemetzel in Russland und der Ukraine wachsen. Sozialist*innen und die internationale Arbeiter*innenbewegung müssen alles in ihrer Macht Stehende tun, um diejenigen zu unterstützen, die sich dem Konflikt und der Herrschaft der Oligarch*innen auf beiden Seiten widersetzen, und sich für den Aufbau starker Antikriegs- und antikapitalistischer Bewegungen in ihren eigenen Ländern einsetzen.

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