Zum Terroranschlag in Russland

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Zunahme von Instabilität und Spannungen

Die schrecklichen Terroranschläge in den Außenbezirken Moskaus am 22. März haben die russische Bevölkerung und die Menschen in aller Welt schockiert und abgestoßen. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts beträgt die offizielle Zahl der Todesopfer 139, Tendenz steigend. Über 180 Menschen wurden wegen ihrer Verletzungen bei dem schlimmsten Terroranschlag in Russland seit 20 Jahren in Krankenhäusern behandelt. Es wird erwartet, dass weitere Leichen in den Trümmern der abgebrannten Crocus City Hall gefunden werden. Das CWI verurteilt diese wahllosen Angriffe auf Zivilist*innen, unabhängig davon, wer die Tat begannen hat.

Von Niall Mulholland, CWI

Der Angriff begann, als Bewaffnete das Feuer eröffneten, bevor ein Rockkonzert stattfinden sollte. Die Angreifenden setzten das Gebäude in Brand und brachten einen Teil des Daches zum Einsturz. Wenige Stunden später bekannte sich ein Ableger des sogenannten Islamischer Staates zu dem Anschlag. Das Gemetzel ist der schlimmste Anschlag dieser Art in Europa und Russland seit dem Angriff auf eine Schule in der südrussischen Stadt Beslan im Jahr 2004.

Stunden nach dem Anschlag behauptete der russische Sicherheitsdienst FSB, er habe mehrere der Attentäter*innen festgenommen, als sie versuchten, aus Russland in die Ukraine zu fliehen. Vier mutmaßliche Attentäter*innnen wurden am 25. März in die Zentrale des Geheimdienstes in Moskau gebracht und wiesen Anzeichen von Schlägen und Folter auf. In den sozialen Medien kursieren Videos von den Ereignissen.

Bereits wenige Stunden nach der Gräueltat begannen Russland, die Ukraine und der Westen, sich gegenseitig über die wahre Identität und die Motive der Attentät*innen zu beschuldigen. Die Gruppe „Islamischer Staat“ bekannte sich zu der Tat, aber der Kreml brachte den Anschlag mit der Ukraine in Verbindung. Die vier mutmaßlichen Schützen stammen Berichten zufolge aus dem zentralasiatischen Land Tadschikistan, einem verarmten Staat, der an Afghanistan grenzt, der Basis der Gruppe Islamischer Staat Khorasan, auch bekannt als ISIS – Khorasan (IS-K), die sich zu der Gräueltat bekannte. Die Gruppe veröffentlichte Bilder der Angreifer*innen, bevor sie ihren Angriff starteten, sowie Bodycam-Aufnahmen, die diese von dem Gemetzel gemacht hatten.

In seiner ersten Fernsehansprache zu dem Anschlag erwähnte Präsident Wladimir Putin den IS-K jedoch nicht. Er behauptete, die Attentäter*innen seien gefasst worden, als sie sich „in Richtung Ukraine bewegten, wo nach vorläufigen Informationen von ukrainischer Seite ein Fenster für sie vorbereitet wurde, um die Staatsgrenze zu überschreiten“.

Die Behauptungen Putins wurden von Kiew entschieden zurückgewiesen. „Putin und andere Schurken haben einfach versucht, die Schuld für alles auf jemand anderen zu schieben“, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelenski.

Sicherlich hat der ISIS ein Motiv, Russland angreifen zu wollen. Das russische Militär hat während des Bürgerkriegs in Syrien maßgeblich zur Rettung des Assad-Regimes beigetragen und dabei häufig Ziele des ISIS angegriffen. Die Gruppe hat tödliche Anschläge gegen die regierenden Taliban in Afghanistan verübt, die ISIS als Verbündete Moskaus betrachtet. Von Zentralasien ausgehende islamistische Terroranschläge gegen russische Ziele fanden in den 1990er und frühen 2000er Jahren statt, als Putin die Unabhängigkeitsbewegungen in Tschetschenien und anderen Teilen der Region gnadenlos niederschlug. Islamistische Terroranschläge auf russischem Boden hat es jedoch seit einiger Zeit nicht mehr gegeben.

Ukrainische und westliche Politiker*innen behaupten, Putin nutze die Gräueltat, um die russische nationalistische Empörung gegen die Ukraine weiter zu schüren, um den Weg für eine größere Truppenmobilisierung im Krieg gegen den Nachbarn zu ebnen und um einen Vorwand für eine repressivere Gesetzgebung im Inland zu schaffen, um jegliche Antikriegs- und Oppositionsstimmen zum Schweigen zu bringen. Sie argumentieren, dass Putin versucht, die Ukraine fälschlicherweise für die Anschläge verantwortlich zu machen, da er als unfähig angesehen wird, der russischen Bevölkerung Sicherheit zu bieten, während er gleichzeitig einen Krieg in der Ukraine führt, an dem Hunderttausende russischer Soldaten beteiligt sind. Einige ukrainische Politiker*innen sind sogar so weit gegangen, Moskau direkt für die „Inszenierung“ des Massakers Crocus City Hall verantwortlich zu machen.

Im Gegenzug hat Moskau angedeutet, dass die Anschläge das schmutzige Werk des von den USA und anderen westlichen Mächten unterstützten Selenski-Regimes waren. Putin hat nun eingeräumt, dass der Anschlag von „radikalen Islamisten“ verübt wurde, bekräftigte aber die Behauptung, dass die Ukraine an den Schießereien beteiligt gewesen sein könnte. „Wir sind daran interessiert, wer das angeordnet hat“, sagte Putin gegenüber Regierungsvertretern. „Diese Gräueltat ist möglicherweise nur ein Teil einer ganzen Reihe von Versuchen derjenigen, die sich seit 2014 im Krieg mit unserem Land befinden, durch die Hände des neonazistischen Kiewer Regimes“.

Kreml-Quellen weisen darauf hin, dass die CIA seit langem mit islamistischen Terrorgruppen in Zentralasien und Teilen des Nahen Ostens zusammenarbeitet, und es ist nicht abwegig, dass sie den IS-K als Deckmantel oder „Billigflagge“ für Anschläge zur Destabilisierung der Putin-Regierung benutzt hat. In den letzten Wochen wurden Feuergefechte zwischen russischen Neonazi-Paramilitärs, die für die Ukraine kämpfen, und der russischen Polizei gemeldet.

Erst letzte Woche ging Putin als klarer Sieger aus den Präsidentschaftswahlen hervor, bei denen es keine wirkliche Opposition gab, und der Krieg in der Ukraine hat sich stetig zu Putins Gunsten entwickelt. Moskauer Quellen deuten darauf hin, dass die IS-K-Angreifer von der Ukraine und dem Westen manipuliert wurden, wobei der FSB behauptet, dass einer der vier festgenommenen Attentäter gestanden hat, dass er für die Durchführung des Massakers bezahlt wurde.

Keine der von beiden Seiten vorgebrachten Behauptungen kann als völlig unplausibel abgetan werden, wenn man die Geschichte der mörderischen, schmutzigen Taktiken bedenkt, die über Jahrzehnte von westlichen Mächten in vielen Teilen der Welt und auch vom Putin-Regime gegen seine Gegner*innen eingesetzt wurden. In Russland und darüber hinaus wird weithin angenommen, dass der FSB an der Sprengung von vier Hochhäusern in Moskau und zwei anderen russischen Städten im September 1999 beteiligt war, um den Vorwand für die russische Militärinvasion in Dagestan zu liefern, den zweiten Tschetschenienkrieg auszulösen und Putins Herrschaft zu festigen. Aber auch der US-amerikanische, britische und französische Imperialismus kann auf eine lange Geschichte verdeckter Aktivitäten in vielen Ländern zurückblicken, einschließlich der Unterstützung bei der Gründung und Leitung von Terrororganisationen und der Infiltrierung von paramilitärischen Gruppen für ihre eigenen Zwecke.

Es bleibt abzuwarten, ob in den nächsten Wochen und Monaten und beim Prozess gegen die vier Verdächtigen harte Fakten über das Crocus City Hall-Massaker ans Licht kommen, auch wenn es höchst unwahrscheinlich ist, dass es sich um einen fairen Prozess handeln wird. Die russischen Behörden haben bereits angekündigt, dass das Verfahren „eingestellt“ werden soll.

Gleichzeitig wurde die Frage aufgeworfen, warum die russischen Sicherheitskräfte relativ langsam auf diesen Anschlag reagierten, der sich am Rande Moskaus und nicht in irgendeinem Provinznest ereignete. Putin könnte versuchen, dies als Vorwand für eine weitere Verschärfung der Kontrollen in Russland zu nutzen. Der Zuspruch, den Prigoschins versuchter militärischer Aufstand im vergangenen Juni in Teilen der russischen Bevölkerung fand, war eine Warnung vor Putins potenziell schwacher Basis, und das Regime wird versuchen, dieses Massaker zu nutzen, um seine interne Position zu stärken.

Für Sozialist*innen ist klar, dass die Hintermänner des Crocus City Hall-Massenmordes aus durch und durch reaktionären Motiven gehandelt haben. Die Anschläge werden die ethnischen Spannungen in Russland und in der Region verschärfen. Als Reaktion auf das Massaker vom vergangenen Freitag hetzen sowohl Putin als auch Selenski mit ihrer rechtsnationalistischen Rhetorik und Propaganda Arbeiter*innen gegen Arbeiter*innen auf. Die westlichen Mächte verurteilen scheinheilig die Anschläge auf den Konzertsaal und auch Putins Kriegsmaschinerie, haben aber Israels sechsmonatige Bombardierung des Gazastreifens bewaffnet und unterstützt.

Das Massaker ist ein Symptom für die verheerenden Auswirkungen des Krieges in der Ukraine, der sich nun schon im dritten Jahr befindet, sowie für die schwelenden ethnischen und nationalen Konflikte in der gesamten Region und letztlich für das System des barbarischen Kapitalismus, das nach der Auflösung der Sowjetunion eingeführt wurde. Nur ein vereinter Massenkampf der arbeitenden Menschen gegen die Herrschaft der Oligarch*innen und für die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft kann dauerhaften Frieden und Wohlstand bringen.

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