Über die Bedeutung parlamentarischer Positionen und den Kampf für eine Arbeiter*innenpartei
2014 wurde Kshama Sawant als erste Sozialistin, die unabhängig von der Demokratischen Partei kandidierte, für die damalige Schwesterorganisation der Sol, Socialist Alternative, in den Stadtrat von Seattle gewählt und konnte den Sitz bei darauffolgenden Wahlen verteidigen. Im Januar erklärten sie und Socialist Alternative (heute Sektion der International Socialist Alternative in den USA), bei den nächsten Wahlen nicht mehr anzutreten.
Wir veröffentlichen hier zwei Artikel, die sich mit diesem Rückzug von einer wichtigen parlamentarischen Position für die gesamte sozialistische Linke in den USA auseinandersetzen. Der erste Text stammt von der Independent Socialist Group, die heutigen Unterstützer*innen*innen des Komitees für eine Arbeiter*inneninternationale in den USA und Schwesterorganisation der Sol. Der zweite Text stammt aus dem britischen Magazin „Socialism Today“, das von der Socialist Party in England und Wales herausgegeben wird.
Seattles sozialistische Stadträtin Kshama Sawant tritt nicht mehr an – Stellungnahme der Independent Socialist Group (ISG) vom 16.3.2023
Am 19. Januar 2023 kündigte das Mitglied des Stadtrats von Seattle, Kshama Sawant, an, dass sie 2024 nicht zur Wiederwahl antreten wird. Sie war eine der wenigen Sozialist*innen, die in den Vereinigten Staaten als Unabhängige gewählt wurden. Sawants anfänglich inspirierender Wahlsieg, ihre inkonsequente Herangehensweise an die politische Unabhängigkeit im Amt und ihr jetziger Rücktritt ohne eine weitere Wahlkampagne liefern wichtige Lehren für den Kampf um den Aufbau einer unabhängigen Arbeiter*innenpartei.
Die Stadtratswahlen 2014
Kshama Sawant gewann 2013 erstmals den Sitz im Stadtrat von Seattle, in einer von der Socialist Alternative (SA) organisierten Kampagne, die eine Schlüsselrolle in der Bewegung für einen Mindestlohn von 15 Dollar pro Stunde in ganz Seattle spielte. Sie wurde die erste gewählte Sozialistin seit fast einem Jahrhundert und gewann 2015 und 2019 zwei weitere Wahlen für den dritten Bezirk von Seattle.
Nach der Wirtschaftskrise 2007-08 und der Occupy-Wall-Street-Bewegung rief Socialist Alternative die Bewegung dazu auf, landesweit hundert unabhängige Kandidat*innen aufzustellen. Kampagnen mit Arbeiterkandidat*innen, die nicht mehr als einen Arbeiter*innenlohn akzeptieren, unabhängig von den koonzernfreundlichen demokratischen und republikanischen Parteien, hätten den vielen Menschen, die wütend auf die korporativen Politiker und gierigen Kapitalist*innen waren, die die Schuld am Leiden der arbeitenden Menschen trugen, den Weg nach vorne gezeigt.
Neben dem ersten Mindestlohn von 15 Dollar pro Stunde in den USA errangen Sawant und ihre Unterstützer*innen*innen im Umfeld von Socialist Alternative mehrere Siege im Amt. Dazu gehörten die Ausweitung der Rechte von Mieter*innen, die Besteuerung von in Seattle ansässigen Megakonzernen wie Amazon und Starbucks und die Verhinderung des Baus einer militarisierten Polizeistation im nördlichen Bezirk von Seattle durch das Seattle Police Department.
Aktivist*innen, die später die Independent Socialist Group gründen sollten, setzten sich als Mitglieder der Socialist Alternative in Worcester und Boston konsequent für Kshama Sawant ein. Viele von uns verbrachten Stunden mit Telefonbanking und Spendensammlungen für Sawant und andere Kandidat*innen der Socialist Alternative. Einige von uns besuchten Seattle, um für die Kampagne im dritten Bezirk von Seattle zu werben.
Während wir die Siege der Socialist Alternative in Seattle feierten, begannen Kshama Sawants Kampagnen für den Stadtrat im Laufe der Jahre, tiefere politische Fragen und Differenzen innerhalb der Socialist Alternative über unabhängige politische Aktionen und die Art und Weise, wie Sozialist*innen Wahlkampagnen organisieren sollten, zu offenbaren. Diese politischen Differenzen führten zu internen Debatten, und schließlich verließen der Ortsverband Worcester und Unterstützer*innen in ganz Neuengland die Socialist Alternative im Jahr 2019 wegen deren Unterstützung der Demokratischen Partei (DP). Viele, die Socialist Alternative wegen der Hinwendung zur Demokratischen Partei verließen, gründeten die Independent Socialist Group.
Zusammenarbeit mit den Demokrat*innen ist kein Weg zum Sieg
Im Jahr 2015 kandidierte der Senator aus Vermont, Bernie Sanders, für die Vorwahlen der Demokratischen Partei. Er stellte mehrere progressive Forderungen auf und gab gelegentlich Lippenbekenntnisse zu sozialistischen Ideen und historischen Persönlichkeiten ab. Seine Rhetorik sprach landesweit die Frustration vieler Menschen aus der Arbeiter*innenklasse über die Politik des “business as usual” an und förderte die Unterstützung für Organisationen wie Our Revolution und die Democratic Socialists of America (DSA).
Obwohl Sanders’ Rhetorik eine Alternative zur kornzernfreundlichen Politik von Hillary Clinton und Joe Biden zu bieten schien, hielt er sich an die Regeln des Democratic National Committee (Führungsgremium der Demokratischen Partei). Sanders sammelte Spenden und warb nach seiner Niederlage bei den Vorwahlen für die Kandidat*innen der Demokratischen Partei, sowohl für die offen konzernfreundlichen als auch für die “Progressiven”. Trotzdem ließen sich viele Sozialist*innen in den Vereinigten Staaten wieder einmal davon überzeugen, dass durch die Unterstützung der Kampagnen von Sanders und anderen “fortschrittlichen” Demokrat*innen eine Massenpartei der Arbeiter*innen oder der Sozialist*innen aufgebaut werden könnte. Diese Taktik ignorierte die Geschichte der Demokratischen Partei, die Massenbewegungen vereinnahmt und begraben hat. Sanders arbeitete seit langem eng mit der Demokratischen Partei zusammen und unterstützte zahlreiche Kandidat*innen der Demokratischen Partei und sammelte Spenden für sie. Obwohl Socialist Alternative länger brauchte, um diese Strategie der Zusammenarbeit mit der Demokratischen Partei zu übernehmen, als einige Organisationen wie DSA, wuchs ihre anfänglich zaghafte Unterstützung im Jahr 2015 allmählich zu einer uneingeschränkten Unterstützung von Politiker*innen der Demokratischen Partei.
Der Schritt von Socialist Alternative zur Unterstützung der Demokratischen Partei begann in Seattle bei den Stadtratswahlen 2015, als sie die Arbeiter*innen aufforderten, für fünf “progressive” demokratische Kandidat*innen zu stimmen, und eine schwache Forderung an die Kandidat*innen stellten, mit der Demokratischen Partei zu brechen. Indem sie demokratische Kandidaten, die sich nicht von der Demokratischen Partei abspalteten (und dies auch nicht vorhatten), unterstützte und für sie Geld sammelte, nahm Socialist Alternative eine widersprüchliche Position ein und lieferte diesen Kandidaten keinen Grund, unabhängig zu kandidieren. Stattdessen ermutigte Socialist Alternative sie, in der Demokratischen Partei zu bleiben, da diese Kandidat*innen auf Spenden und Unterstützung sowohl von Unternehmen als auch von “unabhängigen” Verbündeten, einschließlich Sawant und Socialist Alternative, zählen konnten.
Ein Jahr später unterstützte Socialist Alternative Sanders als Präsidentschaftskandidaten, gefolgt von vielen anderen demokratischen Kandidat*innen, darunter Mitglieder der Gruppe wie Alexandria Ocasio-Cortez. Erst kürzlich stimmte Ocasio-Cortez dafür, Eisenbahnarbeiter*innen das Streikrecht zu verweigern.
Obwohl Sanders nicht für den arbeiter*innenfeindlichen Eisenbahnvertrag stimmte, der den Eisenbahner*innen von Biden und der Demokratischen Partei aufgezwungen wurde, trug er dazu bei, dass der Vertrag im Repräsentantenhaus verabschiedet werden konnte, indem er die Gesetzgebung zum Krankenstand von der Vertragsvorlage trennte. Das Gesetz über den Krankenstand hatte keine Chance, den Senat zu passieren, gab aber den Demokrat*innen im Repräsentantenhaus, die den arbeiter*innenfeindlichen Vertrag durchsetzten, progressive Rückendeckung. Die ausschließliche Konzentration auf die Krankheitszeiten trug auch dazu bei, alle anderen ernsthaften Probleme mit dem Vertrag zu begraben, einschließlich der Angriffe auf Arbeitsplätze, Sozialleistungen und Arbeitssicherheit.
Als Socialist Alternative 2017 Ginger Jentzen als unabhängige sozialistische Kandidatin in Minneapolis aufstellte, wurde die Unterstützung von Demokrat*innen zu einem selbstverständlichen Bestandteil von Stadtratskampagnen. Jentzens Wahlkampfflugblätter enthielten auf der Rückseite das Wahlkampfflugblatt des demokratischen Bürgermeisterkandidaten Ray Dehn. In Seattle nahm die Socialist Alternative aktiv an den lokalen Fraktionssitzungen der Demokratischen Partei teil, um sich die Unterstützung für Sawant zu sichern, und unterstützte weiterhin “fortschrittliche” Demokrat*innen wie Tammy Morales, die 2022 für die Abschaffung der Gefahrenzulage für Arbeiter*innen in Seattle stimmte und eine entscheidende Abstimmung zur Verlängerung des Räumungsmoratoriums in Seattle verpasste.
Der falsche Ansatz, dass Socialst Alternative konsequent der Demokratischen Partei hinterherläuft, wurde fortgesetzt, und der Opportunismus, der mit der Unterstützung der Demokratischen Partei einhergeht, erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass in Seattle keine unabhängigen sozialistischen Kampagnen entstehen würden, solange Sawant und Socialst Alternative ihre politische Energie in die Unterstützung vermeintlich fortschrittlicher Kandidat*innen der Demokratischen Partei stecken. Socialist Alternative konnte nur einen einzigen demokratischen Kandidaten, den sie unterstützte, davon überzeugen, mit der Demokratischen Partei zu brechen. Dieser Kandidat, Joshua Collins, verpatzte seine Ankündigung, als Unabhängiger zu kandidieren, und landete bei den Vorwahlen zum Kongress des Washington State District 10 im Jahr 2020 auf Platz 12.
Seit über einem Jahrhundert ist die Zusammenarbeit mit der Demokratischen Partei eine gescheiterte Strategie für den Aufbau der politischen Macht der Arbeiter*innenklasse. Frühere Artikel in Socialism Today behandelten viele historische Beispiele dafür, dass sich die Linke und die Arbeiter*innenbewegung fälschlicherweise mit der Demokratischen Partei verbündet haben.
In letzter Zeit haben ganze Ortsverbände der DSA den Ansatz in Frage gestellt, als Mitglieder der Demokratischen Partei zu kandidieren oder sie zu unterstützen. Mitglieder und Unterstützer*innen von Las Vegas DSA (LVDSA) gewannen die Wahlen zur Führung der Nevada State Democratic Party (NSDP) im Jahr 2021. Aber nach diesem Sieg hat die vorherige NSDP-Führung die Bankkonten der Partei geleert, die bestehenden Mitarbeiter*innen massenhaft gekündigt und eine parallele Organisation gegründet, um das Demokratische Nationalkomitee in Nevada zu vertreten.
Viele der von der LVDSA unterstützten Kandidat*innen rückten in den folgenden zwei Jahren nach rechts und setzten auf die Rhetorik und Politik der Konzerne, um die Gunst, das Geld und die Ressourcen der Konzerndemokraten zu gewinnen, während sie im Amt waren. Dies veranlasste die LVDSA-Mitglieder, sich zu weigern, bei den NSDP-Führungswahlen 2023 jemanden zu unterstützen und im Februar zu verkünden, dass “die Demokratische Partei eine Sackgasse ist”.
2019 waren viele künftige Mitglieder der Independent Socialist Group (ISG) vom gescheiterten Ansatz der Sozialistischen Alternative beim Aufbau einer Arbeiter*innenpartei desillusioniert. Die Unterstützung von Kandidat*innen der Demokratischen Partei bei gleichzeitiger Behauptung, gegen die Demokratische Partei zu sein, ergab für viele Aktivist*innen und Arbeiter*innen, die sich für den Sozialismus interessierten, keinen Sinn. Außerdem wirkte sich diese Ausrichtung auf die Demokratische Partei auf Sawants Abstimmungsverhalten aus. Sie stimmte für die Bestätigung der Polizeichefin Carmen Best im Jahr 2018 und säte Illusionen darüber, dass eine “vielfältigere” Polizei freundlicher zu den Arbeiter*innen sein würde – eine Prämisse, die durch die brutale Behandlung von BLM-Demonstrant*innen in Seattle widerlegt wurde. Wir unterstützten Sawants Wiederwahl, verließen aber Socialist Alternative und gründeten kurz darauf die Independent Socialist Group.
“Workers Fight Back” – aber wird daraus eine neue Partei entstehen?
Im Jahr 2020 führten prokapitalistische Kräfte in Seattle eine rechte Abberufungskampagne gegen Sawant an. Sie steckten über eine Million Dollar in die Bemühungen und verschworen sich, die Wahl in der Urlaubszeit abzuhalten, um die Wahlbeteiligung zu senken. Die Socialist Alternative sammelte die Unterstützung von zwanzig Gewerkschaften und eintausend Freiwilligen, um gegen die Abberufung zu kämpfen und konnte knapp gewinnen. Die ISG rief die Socialist Alternative auf, den Schwung dieses Sieges im Jahr 2021 zu nutzen, um mehr unabhängige Kandidate<*innen aufzustellen und mit der Demokratischen Partei zu brechen.
Anstatt den Kapitalist*innen und ihren Politiker*innen nach der Abberufungskampagne die Stirn zu bieten, berichtete die in Seattle ansässige fortschrittliche Zeitung The Stranger, dass Kshama Sawant die Forderung nach einer Mietpreiskontrolle im Jahr 2022 im Wesentlichen aufgegeben hat und sie im Stadtrat nicht mehr zur Sprache bringt.
Leider scheint es, dass Socialist Alternative aus ihren Wahlerfahrungen der letzten acht Jahre die falsche Lehre gezogen hat, dass sie bei einer Wahl, die sie verlieren könnte, nicht antreten sollte. Sie stellen dies als eine Verlagerung des Schwerpunkts auf die Gewerkschaftsarbeit dar, wobei “Workers Fight Back” zur gleichen Zeit angekündigt wurde, als Sawant ihre Absicht bekannt gab, am Ende ihrer Amtszeit zurückzutreten. “Workers Fight Back” behauptet, eine Koalition zur Unterstützung von Streiks zu sein. Es bleibt abzuwarten, ob sie sich weiterentwickelt oder im Wesentlichen zu einer Frontorganisation wie die frühere “Movement 4 Bernie” der Socialist Alternative wird.
Socialist Alternative hat die Gelegenheit verpasst, eine Wiederwahlkampagne von Sawant oder die Unterstützung für eine unabhängige linke Kampagne in Seattle zu nutzen, um sozialistische Ideen zu verbreiten und sich weiter zu organisieren. Für Sozialist*innen sind Wahlkampagnen eine weitere Plattform, von der aus sie sich organisieren können, und sie können einen wichtigen Beitrag zum Aufbau einer sozialistischen Massenbewegung leisten, selbst wenn die Wahlkampagne (oder Wiederwahlkampagne) letztendlich verloren geht.
Workers Fight Back stellt fünf vage Forderungen, von denen die letzte lautet: “Keine Ausverkäufe mehr – wir brauchen eine neue Partei”. Ein kampfloser Rückzug aus dem Stadtrat von Seattle ist kein Weg, eine neue Partei aufzubauen. Bei der weiteren Beschreibung, wie die neue Partei aussehen würde, führt Workers Strike Back das Beispiel von Sawant als Stadträtin an, aber ein solches Beispiel hat an Bedeutung verloren, seit Socialist Alternativedie Demokratische Partei unterstützt.
Wo Kshama Sawant einst für das Recht kämpfte, sich auf den Wahlzetteln in Washington als Sozialistin zu bezeichnen, weigert sich “Workers Strike Back”, das “S”-Wort zu verwenden, und fordert einfach eine “andere Art von Gesellschaft”. Leider ist diese Änderung der Herangehensweise an Wahlen durch Socialist Alternatuive ein Rückzug von der mutigen Darlegung sozialistischer Ideen und eine Abkehr von den Methoden, die Leo Trotzki im Übergangsprogramm dargelegt hat, einem Kernstück der politischen Methoden, auf denen Socialist Alternative in den 1980er Jahren gegründet wurde.
Der Kampf für den Aufbau einer Arbeiter*innenpartei geht weiter
Der Aufbau einer Massenbewegung für den Sozialismus auf der Straße und der Aufbau einer Arbeiter*innenpartei, die bei Wahlen antritt, sind keine getrennten Aufgaben – sie sind untrennbar miteinander verbunden. In den 1990er Jahren gelang es der Labor Party, die sich aus Gewerkschaftsmitgliedern und linken Organisationen zusammensetzte, nicht, in den beiden Präsidentschaftswahlen, an denen sie teilnahm, Kandidaten aufzustellen. Die Gewerkschaftsführer, die die Bemühungen der Labor Party kontrollierten, weigerten sich, mit der Demokratischen Partei zu brechen. Sie standen mit einem Bein in der Labor Party und mit dem anderen in der Demokratischen Partei.
Sie argumentierten, dass die Bewegung für eine Arbeiter*innenpartei erst eine “kritische Masse” erreichen müsse, bevor sie Kandidaten aufstellen könne. Diese Strategie scheiterte. Die meisten Gewerkschaften, die die Bemühungen um eine Arbeiter*innenpartei unterstützten, gaben diese mitten in den Wahlen im Jahr 2000 auf, einem entscheidenden Moment, als die Stimmung für eine Alternative zur Demokratischen Partei nach dem arbeiterfeindlichen Clinton-Regime zunahm. Aktivist*innen und Unterstützer*innen, die an einer neuen Partei interessiert waren, wechselten entweder zur Grünen Partei oder verließen die Politik ganz. Arbeiterkandidat*innen brauchen den Rückhalt einer Arbeiter*innenbewegung, um erfolgreich zu sein, aber nur wenige Menschen sehen einen Sinn darin, einer Partei beizutreten, die keine Kandidat*innen aufstellt oder die Unternehmensparteien auf andere Weise herausfordert.
Mit Hunderten von Mitgliedern im ganzen Land und einem amtierenden Stadtrat könnte Socialist Alternative eine wichtige Rolle in einer linken, unabhängigen Bewegung auf der Straße und an den Wahlurnen spielen. Leider haben sie die unabhängigen, sozialistischen Methoden aufgegeben, die es ihnen überhaupt erst ermöglicht haben, einen Sitz im Stadtrat von Seattle zu gewinnen. Ihr Rückzug von einer konsequenten Arbeiter*innenpolitik war ein Faktor für die Verzögerung der grundlegenden Organisationsarbeit, die für den Aufbau einer Arbeiter*innenpartei und einer politischen Massenbewegung der Arbeiter*innenklasse in den USA erforderlich ist.
Klassenkampf und Wahlen – Nicht die Zeit um sich aus Wahlkämpfen zurückzuziehen
Leitartikel aus Socialism Today vom 24.2.2023
Während sich Gewerkschaftsaktivist*innen in Großbritannien auf die Eskalation der Bewegung gegen die Lebenshaltungskostenkrise im Februar vorbereiteten, kam von jenseits des Atlantiks die Nachricht, dass, wie die Zeitung The Independent titelte, “Kshama Sawant, Amerikas profilierteste Sozialistin, nicht zur Wiederwahl antreten wird”, und zwar noch in diesem Jahr. Bei den Wahlen im Herbst hätte Kshama, die von The Independent als “Amerikas höchstrangige gewählte Sozialistin” bezeichnet wird, für eine vierte Amtszeit im Stadtrat von Seattle, der achtzehntgrößten Stadt der USA, kandidiert.
Die Erklärung von Kshama selbst, in der sie ihre Entscheidung, nicht zu kandidieren, erklärt, bezog sich auf die Ereignisse in Großbritannien und stellte die Rolle “eines Großteils der Gewerkschaftsführung” in den USA – “eng mit dem Establishment der Demokratischen Partei verbunden, ängstlich, die Demokrat*innen herauszufordern, ängstlich, unabhängige Kandidat*innen aufzustellen” – dem gegenüber, was sie als eine andere Situation in Großbritannien wahrnimmt. “Es sollten progressive Gewerkschaften sein, die ihre Ressourcen nutzen”, um eine Bewegung gegen die Macht des Großkapitals und des politischen Establishments in Gang zu setzen, so wie es die Gewerkschaften in Großbritannien mit der Kampagne Enough is Enough” getan haben. Aber das ist in den USA nicht geschehen”, sagte sie, weil die Gewerkschaften mit den Demokrat*innen verbunden sind. (The Seattle Stranger, 20. Januar 2023)
Und so ist Kshama zu dem Schluss gekommen, dass sie nach Ablauf ihrer Amtszeit im Dezember von ihrem Amt als Stadträtin, das sie seit ihrem Wahlsieg 2013 innehatte, zurücktreten wird, um, wie sie sagt, dabei zu helfen, “eine nationale Bewegung, „Workers Strike Back“, ins Leben zu rufen, anstatt selbst noch einmal zur Wiederwahl in Seattles Bezirk 3 anzutreten”.
Der Verzicht einer Sozialistin auf ein gewähltes Amt ist jedoch kein positives Modell für die Arbeiter*innenbewegung, weder in den USA noch in Großbritannien. Das Gegenteil ist der Fall. Da die Weltwirtschaft vor dem Hintergrund verschärfter geopolitischer Spannungen in eine neue Periode der Stagnation, wenn nicht gar der Rezession eintritt – eine Ära der kapitalistischen Krise -, wird die Arbeiter*innenbewegung in jedem Land alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen müssen, vom Streik bis zur Wahlurne, um ihre Interessen gegen die Forderungen der Kapitalist*innen und ihres Systems zu verteidigen. Zwar muss jede Situation konkret untersucht werden, einschließlich der Wahltaktik, doch ist es dem Kampf im Allgemeinen nicht dienlich, gewonnene Positionen aufzugeben.
Was wäre zum Beispiel in Großbritannien der positivste Schritt für Jeremy Corbyn bei den nächsten Parlamentswahlen, zu denen der New-Labour-Führer Sir Keir Starmer im Stile Tony Blairs deutlich gemacht hat, dass Corbyn nicht als Labour-Kandidat antreten kann? Unabhängig von Labour zu kandidieren, als Teil einer neuen gewerkschaftsbasierten Arbeiter*innenpartei, oder zumindest einer gewerkschaftlich organisierten Liste von Arbeiterkandidat*innen als Schritt zu einer neuen Partei? Oder beiseite zu treten und zuzulassen, dass ein weiterer von der Labour-Zentrale überprüfter Blair-Klon seinen Sitz im Wahlkreis Islington North unangefochten von der Arbeiter*innenbewegung einnimmt? Für Sozialist*innen bedeutet die Frage zu stellen, sie zu beantworten.
Kshama Sawant wurde erstmals 2013 in einer stadtweiten Abstimmung gewählt und 2015 als Stadträtin für den Bezirk 3 wiedergewählt – als Unterstützerin des Komitees für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI), der sozialistischen Organisation, zu der die Sozialistische Partei gehört. Ihre Siege als erste Sozialistin, die seit 1916 eine stadtweite Wahl in Seattle gewonnen hat, und viele ihrer Errungenschaften als Stadträtin, wie der Mindestlohn von 15 Dollar pro Stunde und die Tax-Amazon-Kampagnen, sollten als Verdienst unserer Tradition gewertet werden. Aber ihre Entscheidung, jetzt zurückzutreten, wenn es wirklich aus den in ihrer öffentlichen Ankündigung genannten Gründen geschieht, sollte es nicht. Vielmehr spiegelt dies den Bruch wider, den sie und ihre Mitdenker 2019 mit dem CWI vollzogen haben, nach einer siebenmonatigen internationalen Debatte, in der sich der Unwille, den vorherrschenden Stimmungen bestimmter radikalisierter Schichten die Stirn zu bieten und eine klare marxistische Analyse und ein Programm für die Arbeiter*innenklasse als Ganzes zu verteidigen, immer deutlicher zeigte.
Dazu gehört, so scheint es jetzt, auch ein marxistisches Verständnis der Rolle von Wahlen im Klassenkampf.
Ein neuer Antiparlamentarismus?
Es gibt keine explizite Ablehnung der Idee, bei Wahlen anzutreten, weder in Kshamas Erklärung, dass sie nicht wieder kandidieren wird, noch in den vorbereitenden Materialien der vorgeschlagenen Bewegung “Workers Strike Back”. Aber in diesem Fall haben die Taten mehr Gewicht als die Worte. Während die fünf Gründungsforderungen der „Workers Strike Back“-Bewegung die Formulierung “Keine Ausverkäufe mehr: Wir brauchen eine neue Partei” behinhalten – eine Forderung, die von der Kampagne “Enough is Enough” in Großbritannien ausdrücklich nicht erhoben wird -, wird sie lediglich als “eine unabhängige Basis-Kampagne, die sich an unseren Arbeitsplätzen und auf den Straßen organisiert” bezeichnet.
Es wird nirgendwo erwähnt, dass sie Wahlkampagnen organisieren wird, auch wenn sie einen allgemeinen Aufruf für “Arbeiter*innendemokratie und eine andere Art von Gesellschaft” macht. In der Erklärung von Kshama heißt es indessen, dass “Wahlen nicht der einzige, geschweige denn der wichtigste Weg zu politischen Veränderungen sind, weil das politische System im Kapitalismus von oben bis unten verrottet ist”.
Es stimmt, dass eine wachsende Zahl vor allem junger Menschen diese Ansicht bereits teilt, da sie zunehmend die Institutionen und Ideologien in Frage stellen, die die Herrschaft einer winzigen kapitalistischen Elite über die Gesellschaft trotz des Deckmantels der “parlamentarischen Demokratie” aufrechterhalten haben. Die heftige Kampagne des kapitalistischen Establishments in Großbritannien, die Reste von Jeremy Corbyns Führung der Labour-Partei zu sabotieren und dann auszurotten, indem es alle seine Ressourcen von den Medien und dem Rechtssystem bis hin zu seiner fünften Kolonne in der parlamentarischen Labour-Partei mobilisierte, wird ihr Bewusstsein für die Grenzen der formalen Demokratie im Kapitalismus, hier und international, nur noch verstärkt haben.
Aber welche Schlussfolgerungen sollten aus diesem sich entwickelnden Verständnis gezogen werden, das zwar eine wichtige Entwicklung darstellt, aber immer noch nur von einer Minderheit vertreten wird? Dass Bewegungen, die die bestehende Ordnung in Frage stellen – einschließlich Klimakämpfer wie Extinction Rebellion, die ihre Taktik für den Kampf diskutieren – nicht an Wahlen teilnehmen sollten?
Die Mechanismen der parlamentarischen Demokratie – regelmäßige “faire Wahlen” zwischen “konkurrierenden” Parteien, Zweikammer-Legislative, gerichtliche Kontrolle usw. – dienen sicherlich den Interessen der herrschenden Kapitalist*innenklasse. Sie wirken immer noch wie eine “kühlende Untertasse”, um es mit den Worten eines der Gründerväter der Vereinigten Staaten und ihres ersten Präsidenten, George Washington, auszudrücken, indem sie die Hitze der Sorgen des Volkes ableiten und gleichzeitig zwischen den verschiedenen Interessen unterschiedlicher Kapitalfraktionen vermitteln. Jahrhundert verfeinert, um der Ausweitung des Wahlrechts auf die Arbeiter*innenklasse Rechnung zu tragen, zeigt die akademische Forschung, dass eine “starke Parteibasis” – die “organisierenden Kräfte” der parlamentarischen Demokratie – das Ranking der Weltbank für gute Regierungsführung (und die Bewertungen der Ratingagenturen) verbessert. Dies geschieht, indem sie “Politikern hilft, unpopuläre, aber notwendige Reformen” bei ihren Anhängern durchzusetzen. “Eine schwache Regierung” hingegen “bedeutet, dass die Anhänger fliehen, wenn es hart auf hart kommt”. (The Economist, 23. Oktober 2010)
Doch die Demokratie im Kapitalismus ist auch ein widersprüchliches Instrument, das den Kapitalist*innen als “Sicherheitsventil” dient, aber innerhalb gewisser Grenzen auch der Arbeiter*innenklasse gegen die Kapitalist*innen dient. Demokratische Rechte, vor allem die gewerkschaftliche Organisation und die Rechte politischer Parteien, sind der Embryo einer alternativen Gesellschaft im Schoß der alten und spielen die Rolle, das Bewusstsein der Arbeiter*innenklasse in sich selbst als Klasse und als potenzielle Regierungsalternative zu stärken.
Aber nicht, wenn sich die organisierte Arbeiterbewegung aus der “Politik” heraushält und die breite Masse der Arbeiter*innenklasse als Zuschauer in einer inszenierten Auktion zwischen verschiedenen Varianten kapitalistischer Politiker um ihre Stimmen überlässt.
Der konkrete Fall von Großbritannien
Deshalb ist Kshamas Berufung auf die Enough is Enough-Kampagne in Großbritannien als Modell für das, was getan werden muss, ein weiterer Fehler.
Wie die Socialist Party erklärt hat, zuletzt in dem Dokument “British Perspectives”, das auf unserem Kongress im Februar diskutiert wurde (veröffentlicht in der Februar-Ausgabe von Socialism Today Nr. 264), hatte die Gründung von Enough is Enough im vergangenen August, mit den Generalsekretären der Transportarbeitergewerkschaft RMT, Mick Lynch, und der Communications Workers’ Union, Dave Ward, an der Spitze, das Potenzial, ein neues Masseninstrument für die politische Vertretung der Arbeiter*innenklasse in Großbritannien zu schaffen.
Wir schrieben: “Die von den Generalsekretären der RMT und der CWU ins Leben gerufene Kampagne “Enough is Enough” (Genug ist genug) hat jetzt die offizielle Unterstützung der RMT, der CWU, der University and College Union und der Fire Brigades Union. Berichten zufolge haben mehr als 500.000 Menschen ihre Unterstützung erklärt. Die meisten von ihnen suchten nach einer Möglichkeit, ihre Unterstützung für die Streiks und eine Alternative zu Starmers Labour zu zeigen”.
“In Wirklichkeit zeigt die Kampagne das Potenzial für eine neue Massenpartei der Arbeiter*innen. Dies ist jedoch nicht das Konzept der Gründer. Auf der RMT-Jahreshauptversammlung (Konferenz) 2022 stand Mick Lynch an vorderster Front, als er sich gegen einen Antrag der RMT aus Coventry aussprach, in dem es um die Unterstützung einer unabhängigen Kandidatur von Jeremy Corbyn bei den Parlamentswahlen ging, um die Unterstützung von “gewerkschaftsfreundlichen, gegen die Austeritätspolitik gerichteten Kandidaten bei Kommunal- und Parlamentswahlen” und schließlich um die Kontaktaufnahme mit der kürzlich aus Labour ausgetretenen Bäckergewerkschaft BFAWU und der Gewerkschaft Unite, um eine Konferenz zu organisieren, auf der die “historische Krise der politischen Vertretung der Arbeiter*innenklasse” diskutiert werden sollte. Mick sprach sich auch für einen Antrag aus, offizielle RMT-Vertreter aus dem Lenkungsausschuss der Trade Unionist and Socialist Coalition (TUSC) abzuziehen, falls TUSC weiterhin Kandidat*innen bei Wahlen aufstellt. In der Zwischenzeit bleibt die CWU Mitglied der Labour Party”.
“Es ist auch kein Zufall”, erklärten wir weiter, “dass das einzige explizit politische Gremium auf der Sponsorenliste von Enough is Enough die Labour-nahe Zeitschrift Tribune ist – obwohl die Grüne Partei auf ihrer Konferenz im Oktober 2022 für einen Beitritt zu Enough is Enough gestimmt hat. Mick Lynch und andere führende Köpfe der Kampagne haben wiederholt deutlich gemacht, dass sie ihre Rolle darin sehen, Druck auf die Labour-Partei auszuüben, damit diese im Interesse der Arbeiter*innenklasse handelt, und nicht als ersten Schritt zum Aufbau einer Alternative zu ihr. Infolgedessen unterscheidet sich Enough is Enough trotz der Attraktivität, weil die Gewerkschaftsführer <*innenan der Spitze des Kampfes stehen, nicht grundlegend von den zahlreichen früheren Kampagnen dieser Art, darunter Corbyns Peace and Justice Project, die Peoples’ Assembly, UK Uncut, die Coalition of Resistance und andere.
“Während der bewusst pro-labouristische Ansatz der Initiator*innen von Enough is Enough nicht von allen Gewerkschaftsführer*innen geteilt wird, plädiert zum jetzigen Zeitpunkt leider keiner für klare Schritte in Richtung der Aufstellung eigener unabhängiger Kandidat*innen durch die Gewerkschaftsbewegung, geschweige denn für den Aufbau einer neuen Partei”.
Wie kommt Kshama auf die Idee, dass sich dies grundlegend von der Rolle “eines Großteils der Gewerkschaftsführung” in den USA unterscheidet, die “eng mit dem Establishment der Demokratischen Partei verbunden” ist und “Angst davor hat, unabhängige Kandidaten aufzustellen”, wie es der Fall ist?
Unsere Schlussfolgerung ist klar: “Auch wenn es von den Gewerkschaftsspitzen noch keine Schritte in Richtung einer unabhängigen politischen Vertretung der Arbeiter*innenklasse gibt, heißt das nicht, dass es nicht unter dem Druck von unten zu Veränderungen kommen kann, einschließlich einer Art “Arbeiter*innenliste” für die Parlamentswahlen. Wir müssen jede Gelegenheit nutzen, um für Schritte in Richtung einer neuen Partei zu werben, einschließlich einer solchen Liste. Corbyn, der sicherlich nicht für Labour antreten darf, könnte immer noch unabhängig kandidieren. Auch die Kandidatur anderer abgewählter oder ausgeschlossener Labour-Linker ist möglich.
“Am wichtigsten ist, dass einige Gewerkschaften unter dem Druck von unten Schritte unternehmen könnten, um Kandidat*innen außerhalb der Labour-Partei aufzustellen oder zu unterstützen. Angesichts einer neuen Labour-Regierung, die die Austeritätspolitik vorantreibt, würde selbst ein kleiner Block unabhängiger Abgeordneter aus der Arbeiter*innenklasse eine starke Anziehungskraft ausüben und könnte schnell an Unterstützung gewinnen. Sollte es jedoch vor den Parlamentswahlen zu keiner maßgeblichen Koalition kommen, will TUSC als größtmöglicher Dachverband fungieren, der eine Reihe von Gewerkschafter*innen, Sozialist*innen und kommunalen Aktivist*innen vereint. Dies wäre ein wichtiger Hebel für die Entwicklung einer neuen Partei in der nächsten Zeit”.
Aber was sagen Kshama und ihre Unterstützer*innen dazu?
Ein defektes Sicherheits-Ventil
Die vor uns liegende Periode wird die Rolle des “Sicherheitsventils” der parlamentarischen Demokratie im Kapitalismus bis zum Äußersten strapazieren. Die Wahlbeteiligung in allen OECD-Ländern ist bereits von einem Höchststand von 85 Prozent der Wahlberechtigten in den ersten Jahren des langen Booms nach dem Zweiten Weltkrieg auf 65 Prozent Mitte der 2010er Jahre gesunken. In Großbritannien ist nach den maßgeblichen Erhebungen der British Election Study (BES) “der Anteil der Wähler*innenschaft, der sich sehr stark mit einer Partei identifiziert, von 45 Prozent im Jahr 1964 [als die BES-Erhebung begann] auf nur zehn Prozent im Jahr 2005 gesunken”.
Die 1960er Jahre waren eine Zeit, in der der Nachkriegsaufschwung noch nicht erschöpft war und das kapitalistische System in der Lage zu sein schien, einen besseren Lebensstandard und bessere Perspektiven zu bieten. Dies untermauerte die Unterstützung für die beiden großen Parteien. Die Labour-Partei, eine “bürgerliche Arbeiter*innenpartei” mit einer pro-kapitalistischen Führung, die aber von der Arbeiter*innenklasse massiv unterstützt wurde, hatte unter den Regierungen der Jahre 1945 bis 1951 tatsächlich materielle Reformen durchgeführt, auch durch die Gewerkschaften und die Stadträte. Aber die Tory-Partei hatte auch Massenunterstützung, insbesondere in der Mittelschicht, mit 2,7 Millionen Mitgliedern und dem größten Jugendflügel einer Partei in Europa in den 1950er Jahren. Selbst in den 1980er Jahren hatten die Tories noch über eine Million Mitglieder, verglichen mit den 172.000, die im Sommer letzten Jahres bei der Wahl zum Parteivorsitz der Konservativen registriert wurden.
Die soziale Basis der etablierten Parteien begann ab Anfang der 1990er Jahre merklich zu schwinden. Dies geschah vor dem Hintergrund des scheinbaren Triumphs des “freien Marktes” nach dem Zusammenbruch der stalinistischen Staaten Russlands und Osteuropas und, in Großbritannien, an der Spitze eines internationalen Trends, der die ehemaligen bürgerlichen Arbeiter*innenparteien betraf, der Umwandlung von Labour durch Blair in die definitiv kapitalistische New Labour.
In Großbritannien war diese Periode durch eine steigende Wahlenthaltung vor allem in der Arbeiter*innenklasse gekennzeichnet, wobei Blair von 1997 bis 2005 3,97 Millionen Stimmen verlor, während die Wahlbeteiligung um 4,1 Millionen sank. Der Absturz von 2008/09 und nun die tief greifenden Schocks durch die Covid-Pandemie und die neue Inflation verstärken die wütende Entfremdung breiter Schichten von der “Politik” nur noch.
In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, dass die Labour-Partei unter Jeremy Corbyn bei den Parlamentswahlen 2017 einen größeren Anteil der registrierten Wählerschaft (27,4 Prozent) auf sich vereinigen konnte als bei jeder anderen Wahl seit 1979, mit Ausnahme von 1997. Mit anderen Worten, mehr als Labour unter Michael Foot, Neil Kinnock (zweimal), Tony Blair (zweimal), Gordon Brown und Ed Miliband mobilisieren konnte. Es ist unwahrscheinlich, dass dieser Rekord bei den nächsten Parlamentswahlen unter Starmer noch übertroffen werden kann.
Aber es ist auch wahr, dass Entfremdung und Abscheu, die durch Wahlenthaltung zum Ausdruck kommen, die Probleme der Arbeiter*innenklasse nicht lösen werden. Abgesehen von den außergewöhnlichen Umständen eines organisierten Massenboykotts der “Politik” zugunsten einer alternativen Kraft kann die Wahlenthaltung tatsächlich eine Form der individuellen Duldung dessen sein, was “die da oben” durchzusetzen versuchen, und keine kollektive Antwort.
Die Arbeiter*innenklasse braucht ihre eigene Partei. Ohne Organisierung, in Gewerkschaften, aber auch in einer Massenpartei der Arbeiter*innen, können wir uns allen Konsequenzen der Kontrolle der Gesellschaft durch die Kapitalist*innen nur als Einzelne entgegen stellen, nicht als Klasse. Der Beitrag zum Aufbau einer neuen Arbeiter*innenpartei ist eine zentrale Aufgabe für Marxist*innen und die bewusstesten Elemente der Arbeiter*innenbewegung im Allgemeinen. Dazu gehört aber auch, dass sie zu den Wahlen antreten, wenn sich die Möglichkeit dazu ergibt – in den USA wie in Großbritannien.