Israel: Historische Krise erschüttert die Gesellschaft

Foto: Nizzan Cohen/Wikimedia Commons

Wie weiter für die Massenproteste gegen die Regierung?

Wöchentliche Massenproteste in Tel Aviv, Siedler*innengewalt im Westjordanland und zunehmende staatliche Repressionen gegen Palästinenser*innen – Amon Cohen analysiert eine noch nie dagewesene Krise für die israelische herrschende Klasse.

Von Amnon Cohen

Am Sonntag, den 26. Februar, randalierten Hunderte ultrarechter israelischer Siedler*innen in der Stadt Hawarwa im Westjordanland, fackelten Häuser und Autos ab und töteten einen Palästinenser – ein Vorgang, den die israelische Presse zu Recht als Pogrom bezeichnet hat.

Zehntausende Israelis demonstrieren jede Woche gegen die neue ultrarechte israelische Regierung und ihre “Justizreformen”. Premierminister Benjamin Netanjahu hat die pro-demokratischen Demonstranten als “Anarchist*innen” bezeichnet. Die Polizei hat mit berittener Polizei, Wasserwerfern und Blendgranaten sowie mit Verhaftungen versucht, die Demonstrant*innen einzuschüchtern, damit sie zu Hause bleiben. Doch die Zahl der Protestteilnehmer*innen ist weiter gestiegen: Am 11. März kamen 200.000 Menschen – einer der größten Proteste in der Geschichte Israels. Und obwohl Netanjahu eine knappe Mehrheit in der Knesset (israelisches Parlament) hat, zeigen Umfragen, dass nur 35 % der Öffentlichkeit seine “Reformen” unterstützen.

Viele Persönlichkeiten des israelischen Establishments haben sich den Demonstrationen angeschlossen oder führen sie an, darunter kapitalistische Politiker*innen, Wirtschaftswissenschaftler*innen, Vorstandsvorsitzende von Hightech-Unternehmen, Generäle im Ruhestand und ehemalige Geheimdienstchefs. Israelische Unternehmen verlagern ihr Bargeld ins Ausland, was zu einem Wertverlust des Schekels führt, und mehrere milliardenschwere Technologieunternehmen planen, ihre Aktivitäten ins Ausland zu verlagern. Ehemalige Premierminister und Generäle haben zu zivilem Ungehorsam aufgerufen. Pilot*innen und Reservist*innen der Geheimdienst- und Spezialeinheiten haben damit gedroht, den Dienst in der Armee zu verweigern, wenn die Reformen der Regierung umgesetzt werden. Diese beispiellose Krise hat viele Linke und auch die Medien überrascht, die Israel als einen homogenen Block betrachtet und die enormen Widersprüche in der israelischen Gesellschaft bislang ignoriert haben.

Die israelische Kapitalistenklasse hat die Kontrolle über die Situation verloren. Ihre traditionelle Regierungspartei, die falsch benannte Israelische Arbeitspartei, welche die israelische Politik jahrzehntelang dominierte, ist auf ein Rumpfdasein reduziert worden und wurde bei den Wahlen 2022 fast komplett aus dem Parlament entfernt. Die Israelische Arbeitspartei verlor erstmals 1977 die Macht, aber eine Hauptursache für ihren Niedergang waren die von Schimon Peres in den 1980er Jahren eingeführten neoliberalen Wirtschaftsreformen, die das zuvor bestehende relativ egalitäre sozialdemokratische Regime beendeten. In einem Prozess, der mit dem Niedergang der PASOK in Griechenland und der Sozialistischen Partei in Frankreich vergleichbar ist, wurde dadurch die wirtschaftliche Grundlage für die Unterstützung der Partei in der Bevölkerung untergraben.

Um ein zuverlässiges Instrument für ihre Herrschaft zu schaffen, versuchten die Kapitalist*innen daraufhin, eine Reihe von “Zentrumsparteien” zu gründen, die in der Regel von einzelnen Prominent*innen (sog. “weißen Rittern”) ohne politische Erfahrung geführt wurden – meist ehemalige Generäle oder Medienpersönlichkeiten, die noch keine Gelegenheit gehabt hatten, sich zu diskreditieren. Dazu gehörten die Zentrumspartei, New Way, Kadima, One Israel, Kahol Lavan und Yesh Atid. Diese Parteien vertraten allesamt die Interessen der Kapitalist*innen und boten den gewöhnlichen israelischen Arbeiter*innen nichts; alle diskreditierten sich schnell.

Hingegen ist Likud eine rechtspopulistische Partei, in der zuerst Menachem Begin und jetzt Netanjahu eine ähnliche Rolle spielen wie Donald Trump in den USA, Jair Bolsonaro in Brasilien und Recep Tayyip Erdogan in der Türkei; sie lenken die Wut einiger der am meisten unterdrückten Teile der Arbeiter*innenklasse – der Mizrachi-Jüd*innen – gegen die “aschkenasische Elite”. Die Aschkenasen – aus Europa eingewanderte Jüd*innen – bilden den Großteil der israelischen Mittelschicht und der Kapitalist*innen, während die Mizrachi-Jüd*innen – deren Vorfahren aus dem Nahen Osten und Nordafrika eingewandert sind und die unter den aufeinanderfolgenden Labour-Regierungen rassistisch behandelt wurden – einen großen Teil der Arbeiter*innenklasse bilden. Der Einsatz dieser Methoden der Identitätspolitik dient dazu, die berechtigte Wut von Teilen der Arbeiter*innenklasse in die Unterstützung der prokapitalistischen Likud-Partei umzuleiten. In einer Situation permanenter Kriegsführung bedient sich Netanjahu auch einer Rhetorik gegen Araber*innen, Palästinenser*innen und Iraner*innen, um Unterstützung zu gewinnen. Diese Rhetorik findet in der israelischen Gesellschaft aufgrund der Intensität des nationalen Konflikts und des Versagens der so genannten Linken, eine Alternative anzubieten, durchaus Anklang.

Die Osloer Verträge

1993 unterzeichnete der Labour-Premierminister Yizhak Rabin mit Yassir Arafat, dem Führer der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), die Osloer Abkommen – ein Friedensvertrag, der den Konflikt zwischen Israelis und Palästinenser*innen beenden sollte. Das CWI war fast allein auf der Linken, als es sich der resultierenden Euphoriewelle widersetzte, die damals sowohl die israelische als auch die palästinensische Gesellschaft überrollte; wir erklärten, dass dieses Abkommen keine Lösungen für die dem Konflikt zugrundeliegenden Schlüsselfragen biete und, da es auf dem kapitalistischen System beruhe, den Palästinenser*innen weder Freiheit noch ein menschenwürdiges Leben bringe und daher scheitern werde. Leider haben die Ereignisse die Analyse des CWI bestätigt. Mit den Osloer Abkommen wurde kein palästinensischer Staat geschaffen, sondern nur sogenannte “Buntestans” – hauptsächlich unverbundene Enklaven – mit einer Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), die in einigen Gebieten 14 Sicherheitsorgane unterhält, die der Unterdrückung der Palästinenser*innen dienen und letztlich vom israelischen Staat kontrolliert werden. Die palästinensischen Sicherheitskräfte beschäftigen rund 30.000 Personen. Keiner von ihnen versuchte, während der fünf Stunden, in denen 400 Siedler*innen ihr Pogrom in Hawarwa durchführten, einzugreifen. Dies verdeutlicht die schändliche Rolle der Palästinensischen Autonomiebehörde, welche zu einem Absturz der regierende Fatah-Partei in der Wählergunst und zum Aufstieg der Hamas geführt hat, die die letzten Parlamentswahlen 2006 gewann und seitdem den Gazastreifen regiert.

Das Oslo-Abkommen hat auch den Israelis keinen Frieden gebracht. Hunderte Menschen wurden durch Selbstmordattentate der Hamas und des Islamischen Dschihad getötet, und es kommt immer wieder vor, dass Raketen auf den Süden Israels abgefeuert werden. Vor dem Oslo-Abkommen bestand der Konflikt darin, dass Palästinenser*innen israelische Soldat*innen mit Steinen bewarfen und israelische Soldat*innen mit Knüppeln reagierten, um den Demonstrant*innen die Knochen zu brechen. Nach Oslo kam es zu Selbstmordattentaten und Raketenangriffen der Hamas sowie zu “Präzisionsbombardements”, gezielten Attentaten und gelegentlichen Tötungen von Palästinenser*innen durch israelische Streitkräfte, während der Gazastreifen seit 2007 unter Belagerung durch die israelischen Streitkräfte steht und von der Außenwelt komplett abgeriegelt wurde.

Das Scheitern des Oslo-Abkommens hat die Idee einer Verhandlungslösung zwischen den Regierungen in Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde weitestgehend diskreditiert, welche von der so genannten Linken allerdings nach wie vor vertreten wird. Gegen die gescheiterte Politik der Verhandlungen zwischen kapitalistischen Politikern findet die Politik der israelischen Rechten, den Krieg gegen die Palästinenser zu verschärfen, ein Echo bei vielen israelischen Arbeiter*innen, die die Hoffnung auf eine friedliche Lösung aufgegeben haben und der Meinung sind, dass, wenn ein Krieg geführt werden muss, dieser mit der nötigen Rücksichtslosigkeit geführt werden sollte, um zu gewinnen.

Diese Stimmung wurde durch die Elemente des interkonfessionellen Bürgerkriegs, die sich während des neuerlichen Ausbruchs des Konflikts im Mai 2021 entwickelten, noch verschärft. Dies betraf insbesondere die heruntergekommenen gemischten Arbeiter*innenstädte in Israel – mit Araber*innen und Jüd*innen – wie Lod, Ramle und Jaffa. Inzwischen ist in diesen Städten eine nervöse Ruhe eingekehrt, aber der Konflikt könnte jederzeit wieder ausbrechen. Und ohne Aussicht auf eine Einigung hat die “Lösung” durch ethnischen Säuberung – die von ultranationalistischen, halbfaschistischen Gruppen unter der Führung von Ittamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich befürwortet wird – einen Widerhall gefunden, der ihre Randparteien zum drittgrößten Wahlbündnis in der Knesset macht und ihnen als “Zünglein an der Waage” erheblichen Einfluss beschert hat.

Sowohl unter “linken” als auch unter rechten Regierungen hat der israelische Staat zugelassen, dass messianisch-religiöse Siedler*innen als Hilfstruppe die Palästinenser*innen im Westjordanland terrorisieren und als Vorhut der israelischen Besatzung fungieren. Diese paramilitärischen Kräfte spielen eine ähnliche Rolle wie der KKK, die Blackshirts und Trumps Capitol-Randalierer*innen. Sie sind schwer bewaffnet und werden vom Staat finanziert. Die israelische Armee schützt sie weitgehend. Aber als Zivilist*innen unterstehen sie nicht den Befehlen des israelischen Staates, und so entledigt sich der Staat auf diese Weise der direkten Verantwortung für ihre Handlungen. Angetrieben von einer messianisch-religiösen Ideologie führen sie routinemäßig kleine Pogrome, Schikanen und Sachbeschädigung gegen ihre palästinensischen Nachbar*innen durch. Und sie verüben regelmäßig so genannte “Preisschild”-Anschläge – Brand- und Mordanschläge, die als Racheakt für Terroranschläge dienen sollen, teilweise sogar gegen Regierungsentscheidungen, die als zu milde gegenüber den Palästinenser*innen betrachtet werden. Sie besetzen illegal Bergkuppen und errichten Außenposten, die dann oft von der israelischen Armee verteidigt werden, und viele von ihnen werden schließlich zu Siedlungen ausgebaut.

Der Pogrom in Hawarwa veranschaulicht die Methoden dieser Siedler*innen. Die israelischen Verteidigungskräfte (IDF) erlaubten ihnen, in Hawarwa einzudringen und die Einwohner*innen fünf Stunden lang zu terrorisieren. Als einige hundert israelische Friedensaktivisten anschließend versuchten, Hawarwa zu besuchen, um ihre Solidarität mit den Opfern des Pogroms zu bekunden, wurden sie von denselben Streitkräften aufgehalten, festgenommen und misshandelt. Diese halbfaschistischen Elemente sind in der offiziellen israelischen Politik nicht mehr wegzudenken. Ben Gvir ist Minister für nationale Sicherheit, und Smotrich ist Finanzminister und stellvertretender Verteidigungsminister mit Zuständigkeit für das Westjordanland.

Die herrschende Klasse spaltet sich

Nachdem die herrschende Klasse Israels die Kontrolle verloren hat, ist sie entsetzt über den Kurs der neuen Regierung. Die Kapitalist*innen haben sich in der Vergangenheit mit der Unterdrückung der Palästinenser*innen sehr wohl gefühlt. Einige der berühmten israelischen Tech-Start-ups entstanden durch die Entwicklung technischer Überwachungs- und Unterdrückungsmethoden gegen die Palästinenser*innen. Aber sie haben Angst, dass die Provokation der Palästinenser*innen durch die neue Regierung zu einem Neuausbruch des Konflikts führen wird, der ihre Geschäfte stört und den Wert ihrer Investitionen zunichte macht. Viele verlagern ihre Barreserven ins Ausland, stoppen ihre Investitionen in Israel und planen, ihre Geschäfte nach Zypern, Griechenland oder Spanien zu verlagern.

Die Regierung Biden hat versucht, die neue Regierung in die Schranken zu weisen, indem sie Außenminister Anthony Blinken und Bill Burns von der CIA nach Israel schickte. Sie beriefen ein Gipfeltreffen von israelischen, jordanischen und ägyptischen Regierungsvertreter*innen sowie der Palästinensischen Autonomiebehörde in Akaba ein, um zu versuchen, die Lage zu stabilisieren. Der Gipfel einigte sich auf ein Acht-Punkte-Kommuniqué, in dem sich die Israelis unter anderem verpflichteten, vier Monate lang nicht über neue Siedlungen zu diskutieren. Doch innerhalb weniger Stunden wiesen die ultrarechten Minister die Vereinbarung zurück, und Netanjahu selbst kündigte an, dass es keinen Stopp des Siedlungsbaus geben werde.

Netanjahu ist unglaublicherweise der “gemäßigte” Flügel der neuen Koalition – in vielerlei Hinsicht eine Geisel der halbfaschistischen Elemente, die er selbst gefördert hat. Er befindet sich in der unmöglichen Lage, die Interessen des Kapitalismus mit den ultrarechten Eiferer*innen in Einklang bringen zu müssen, deren Taten die Region entflammen und die Investitionen der Kapitalist*innen zu zerstören drohen. Er und seine Familie verlieren zunehmend die Nerven. Netanjahus Sohn twitterte, dass der Sicherheitsdienst Shin Bet einen Staatsstreich gegen seinen Vater plane und dass seine Leiter*innen vor Gericht gestellt und für viele Jahre ins Gefängnis gesteckt werden sollten. Netanjahus Frau behauptete, sie hätte von Demonstrant*innen gelyncht werden können, die sich vor einem Salon in einem schicken Viertel von Tel Aviv versammelt hatten, wo sie sich die Haare machen ließ – auf öffentliche Kosten. Ein großes Aufgebot an Bereitschaftspolizei ‘rettete’ sie.

Jüdische Vereine in der ganzen Welt fungieren traditionell als israelischer Fanclub und PR-Maschine. Im Jahr 2018 wurden in Großbritannien offizielle jüdische Vereine gegen den damaligen Vorsitzenden der Labour Party, Jeremy Corbyn, mobilisiert. Doch die neue israelische Regierung hat dieses Bündnis geknackt. Der britische Historiker Simon Schama hat die britischen Jüd*innen aufgerufen, Israels “erschreckenden” Rechtsruck zu bekämpfen. Das britische Board of Deputies verurteilte Smotrich für seine Forderung nach der Auslöschung Hawarwas. Die jüdische Gemeinde in den USA ist noch weiter gegangen: Die Organisation T’ruah, die 2.300 Rabbiner vertritt, forderte das US-Außenministerium auf, Smotrichs Visum aufzuheben und ihm die Einreise in die USA zu verweigern.

Kapitalistischer Staat

Die Protestbewegung ist die größte seit der Protestbewegung in Israel im Jahr 2011. Aber sie hat einen klassenübergreifenden Charakter. Die bei weitem größten Demonstrationen fanden in der überwiegend von der Mittelschicht geprägten Wirtschaftsmetropole Tel Aviv statt, wo Facharbeiter*innen aus dem Technologiesektor bei den Demonstrationen eine führende Rolle spielen. Das kapitalistische Establishment Israels hat die Führung an sich gerissen. Yair Lapid ist einer der wichtigsten Anführer. Seine Regierung tötete 2022 mehr Palästinenser*innen im Westjordanland als in jedem Jahr des vorangegangenen Jahrzehnts. Die Regierung überlebte nur 18 Monate, weil sie keinen Ausweg aus dem nationalen Konflikt oder der Krise der Lebenshaltungskosten fand, mit der einfache Israelis konfrontiert sind.

Diese Vertreter*innen des Establishments beschränken ihre Forderungen darauf, die “Justizreform” der Regierung zu stoppen, durch die der Oberste Gerichtshof entmachtet und der Regierung untergeordnet werden soll. Die Kapitalist*innen betrachten den Obersten Gerichtshof als eine wichtige Kontrollinstanz, mit der die Exzesse der Regierung eingedämmt und sie davon abgehalten werden kann, gefährliche Maßnahmen gegen die Interessen der Kapitalist*innen zu ergreifen. Die Oberste Richterin am Obersten Gerichtshof, Esther Hayut, sagte, die Gesetzesreformen seien ein “tödlicher Schlag” für die israelische Demokratie, da sie die Rechtsstaatlichkeit und den gesetzlichen Schutz der individuellen Freiheiten auslöschen.

Aber in Israel, wie auch anderswo, ist der Oberste Gerichtshof ein Instrument des kapitalistischen Staates. Er fungiert als Sicherheitsventil, indem er Konflikte in die sichere Abschirmung seiner Gerichtssäle lenkt, aber letztlich im Interesse der Kapitalist*innenklasse handelt, indem er palästinensische Hauszerstörungen, Internierungen ohne Gerichtsverfahren, Kollektivstrafen, Landkonfiszierungen, gezielte Ermordungen und alle Merkmale der Apartheid im Westjordanland rechtlich absegnet. Die Gerichte verbieten regelmäßig Streiks und in einigen Fällen werden Streikführer*innen inhaftiert. Der Richter am Obersten Gerichtshof, Aharon Barak, sorgte für Empörung unter sephardischen Israelis, nachdem er sich in einem Interview rassistisch über Marokkaner*innen geäußert hatte. Die Forderung, eine Institution zu verteidigen, die als elitär angesehen wird, wird die israelische Arbeiter*innenklasse nicht für die Opposition gewinnen. Dazu wäre ein Programm erforderlich, das die demokratische Kontrolle der Justiz durch Gewerkschaften und die Menschen vor Ort mit wirtschaftlichen Forderungen verbindet, die die Interessen der Arbeiter*innenklasse verteidigen.

Die Hauptparole der Demonstrant*innen lautet “demokratia”. Aber es gibt keine wirkliche Klarheit oder Diskussion darüber, was diese “Demokratie” bedeutet. Für die kapitalistischen Führer*innen bedeutet sie eine Rückkehr zum Status quo – eine Fortsetzung des Apartheidregimes in den Palästinenser*innengebieten, eine fortgesetzte Diskriminierung der Palästinenser*innen in Israel selbst und den anhaltenden Angriff auf die Existenzbedingungen der Arbeiter*innenklasse in Israel. Marxist*innen haben stets betont, dass die bürgerliche Demokratie darauf abzielt, der Arbeiter*innenklasse die Illusion zu geben, dass sie regiert, während die wirklichen Hebel der Macht in den Händen der Kapitalist*innenklasse liegen – durch kapitalistische Politiker*innen, den Sicherheitsapparat, den ständigen öffentlichen Dienst, Bänker*innen, Richter*innen usw. Es gibt verschiedene Formen kapitalistischer Regime, aber die Kapitalist*innen bevorzugen die bürgerliche Demokratie, da sie die Illusion einer Herrschaft durch Zustimmung vermittelt, die Kosten für die Aufrechterhaltung des Polizeiapparats einspart und als Kontrollmechanismus gegen politische Korruption dient.

In Krisenzeiten jedoch, wenn die Widersprüche der Gesellschaft nicht mehr innerhalb der Grenzen der parlamentarischen Demokratie ausgetragen werden können, werden die Kapitalist*innen zu einer autoritäreren Form der Herrschaft oder sogar zu einem Polizeistaat übergehen – wie sie es beispielsweise 1973 in Chile taten. Der Kapitalismus befindet sich weltweit in der Krise, was sich in den Versuchen widerspiegelt, demokratische Rechte zurückzudrängen, auch in den entwickelteren kapitalistischen Staaten, wie z.B. durch die in vielen Ländern beschlossenen Gesetze zur Ermächtigung der Polizei, aber auch gezielter Wählerunterdrückung, bis hin zu offenen Versuchen, Wahlergebnisse auszuhebeln. Die Verteidigung demokratischer Rechte, für die Marxist*innen die besten Kämpfer*innen sind, kann nicht vom Kampf gegen den Kapitalismus und von dessen Ersetzung durch eine sozialistische Gesellschaft getrennt werden.

Der israelische Staat ist ein hybrider Staat, in dem für die jüdische Bevölkerung traditionell weitestgehend bürgerlich demokratische Verhältnisse gelten, während den Palästinenser*innen im Westjordanland ein brutaler Polizeistaat aufgezwungen wird. Die Palästinenser*innen innerhalb der Grenzen Israels von vor 1967 genießen zwar formal demokratische Rechte, werden aber in fast allen Bereichen ihres Lebens diskriminiert und waren zwischen 1948 und 1966 einer Militärregierung unterworfen. Der israelische Staat hält gleichzeitig Mechanismen eines Polizeistaates in Form der Notstandsverordnungen vor, die aus der britischen Mandatszeit stammen und seither von jeder israelischen Regierung beibehalten wurden. Diese erlauben es dem Staat, Ausgangssperren zu verhängen, militärische Sperrzonen zu erklären und Menschen in Verwaltungshaft zu nehmen (Internierung ohne Gerichtsverfahren).

Ein wesentlicher Schwachpunkt der Protestbewegung ist das Fehlen einer politischen Alternative zu Netanjahu, außer einer Wiederauflage der gescheiterten Lapid-Regierung oder eines ähnlichen Konstrukts, welche ja selber den Weg für die schnelle Rückkehr Netanjahus geebnet hatte. Die massive Protestbewegung zeigt die Grenzen der Macht der von Netanjahu angeführten Reaktion auf. Aber sie muss sich von der Führung durch die Kapitalist*innen lösen, deren System die israelische Gesellschaft erst in diese Krise gebracht hat. Die Arbeiter*innenklasse muss ihre Führungsrolle in der Bewegung behaupten. Dies erfordert eine Arbeiter*innenpartei, welche die Arbeiter*innen, säkulare und religiöse, jüdische und arabische, vereint und die die Macht der Arbeiter*innenklasse für ein sozialistisches Programm zur Beendigung der nationalen Unterdrückung und zur Lösung der Krise der Lebenshaltungskosten mobilisiert.

Es ist schwer vorherzusagen, wie sich die aktuelle Krise entwickeln wird. Es ist möglich, dass Netanjahus schwache Koalition unter dem Druck der Bewegung zusammenbricht und dass er gezwungen sein wird, seinen Kurs zu ändern, aus der Regierung entfernt wird oder sogar im Gefängnis landet. Doch all dies wird den Vormarsch des rechten Autoritarismus und die Eskalation des ethnisch-nationalen Konflikts nicht aufhalten. Die Krise der israelischen Gesellschaft ist nicht das Ergebnis der Persönlichkeit Netanjahus. Es handelt sich um eine endemische Krise, die das Ergebnis der Unfähigkeit des Kapitalismus selbst ist, die nationale Frage zu lösen oder einen angemessenen Lebensstandard für mehr als nur einen kleinen Teil der Bevölkerung zu gewährleisten.