Erdogans sinkende Popularität öffnet neue Gelegenheiten für linke Organisationen
Nachdem er zwei Jahrzehnte lang unangefochten an der Macht war, steht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei den bevorstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 14. Mai vor einer großen Herausforderung.
von Berkay Kartav, Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale
Dies ist auch die erste Wahl seit den Kommunalwahlen 2019. Die Niederlage bei den Bürgermeisterwahlen 2019 in Istanbul und Ankara, den beiden reichsten Städten der Türkei, war ein massiver Schlag für das Ansehen Erdogans, da damit die Vorstellung dahin war, dass Erdogan “unbesiegbar” sei.
Eine weitere Demütigung erfuhr Erdogan, als er die Wiederholung der Bürgermeisterwahlen in Istanbul in einem Erdrutschsieg gegen Ekrem Imamoglu, den Kandidaten der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP), verlor, nachdem der durch Druck auf den Wahlvorstand die Annullierung der ursprünglichen Wahlen durchgesetzt hatte, bei denen seine Partei um 14.000 Stimmen verloren hatte.
Diese Niederlage bei den letzten Kommunalwahlen war im Grunde das Ergebnis der wachsenden Wut in der Gesellschaft angesichts der in die Höhe schießenden Inflation und des starken Rückgangs des Lebensstandards infolge der Wirtschaftskrise von 2018. Die Wähler*innen in diesen Städten haben Erdogans rechtskonservative Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) für die Krise in den Industriestädten bestraft.
Doch im Vergleich zu 2019 ist die wirtschaftliche und politische Krise in der Türkei weitaus schlimmer. Während die offizielle Inflation im Jahr 2019 bei rund zwanzig Prozent lag, beträgt sie jetzt rund fünfzig Prozent. Und während man für einen Dollar im Jahr 2019 etwa 5,5 Türkische Lira (TL) bekam, ist er jetzt etwa 19 TL wert.
Natürlich befinden wir uns aufgrund der weltweiten Pandemie, der Konjunkturabschwächung, der höheren Inflation und der höheren Zinssätze in vielen Ländern sowie anderer vielfältiger Faktoren jetzt in einer anderen Situation als 2019.
Klar ist jedoch, dass sich die politische, wirtschaftliche und soziale Krise seit den letzten Kommunalwahlen noch verschärft hat. Die Arbeiter*innenklasse in der Türkei befindet sich in einer noch nie dagewesenen Krise, die sich in einer Massenfrustration gegenüber dem Erdogan-Regime niederschlägt.
Fast alle Meinungsumfragen deuten auf einen Rückgang der Popularität von Erdogan und der AKP hin. Dennoch genießt Erdogan nach wie vor erhebliche Unterstützung aus den am meisten unterdrückten und Schichten der Gesellschaft sowie aus der Mittelschicht.
Erdbeben
Die beiden starken Erdbeben, die Anfang Februar den Südosten der Türkei erschütterten und von denen zehn Städte und etwa 13 Millionen Menschen betroffen waren, haben vielen die Augen geöffnet. Sie haben die Verkommenheit von Erdogans pro-kapitalistischem Regime offengelegt und die bereits bestehende Krise des türkischen Kapitalismus vertieft.
Es war das tödlichste Erdbeben, welches die Türkei je heimgesucht hat, bei dem mehr als 50.000 Menschen ihr Leben verloren und viele weitere verletzt wurden. Millionen von Menschen wurden aus ihren Häusern vertrieben.
Erdogan kam 2002 an die Macht, nachdem ein starkes Erdbeben eine Stadt in der Nähe von Istanbul heimgesucht hatte, bei dem über 18.000 Menschen ums Leben gekommen waren. Indem er sich als Anti-Establishment-Figur präsentierte, versprach er, Armut und Korruption zu bekämpfen.
Trotz der Einführung neuer Erdbebengesetze konnten Baufirmen, Bauunternehmer*innen, Immobilienentwickler*innen und ihre politischen Vertreter*innen jedoch mit dem Bau von Gebäuden mit schwacher Konstruktion und der Umnutzung bestehender Gebäude zur Eröffnung von Geschäften im Erdgeschoss davonkommen.
Es war jedoch das absolute Versagen der Regierung, die Überlebenden des Erdbebens zu retten und mit dem Nötigsten zu versorgen, das die Wut auf die Regierung schürte. Zu Recht fühlten sich die Überlebenden des Erdbebens in diesem Gebiet von der Regierung im Stich gelassen und vernachlässigt, als sie versuchten, unter den Trümmern Leben zu retten, oft mit bloßen Händen.
Auch heute, fast drei Monate nach dem Erdbeben, werden noch immer Leichen unter den Trümmern geborgen. Schwere Engpässe bei der Wasserversorgung und manchmal auch bei der Stromversorgung sind heute ein alltägliches Problem. Über zwei Millionen Menschen leben immer noch in Zelten!
Erdogan versuchte, das Erdbeben als Gelegenheit für weitere Angriffe auf die demokratischen Rechte zu nutzen, und verhängte in den zehn betroffenen Städten für drei Monate den Ausnahmezustand, der kurz vor den Wahlen endete. Damit wollte er jegliche Opposition gegen sein Regime ausschalten und seine Macht in der Region ausbauen. Außerdem ermächtigte er die Chefs in der Region, vielen Arbeitnehmer*innen unbezahlten Urlaub zu verordnen.
Die Narbe, die diese verheerenden Erdbeben hinterlassen haben, wird nicht so schnell verheilen oder vergessen werden. Die Wähler*innen werden Erdogan wahrscheinlich für seine skandalöse Reaktion auf das Erdbeben abstrafen.
Die Aussichten für Erdogans Regime
Erdogans Regime hat eine lange Periode des Wirtschaftswachstums und des Baubooms regiert, welche einen Zustrom von Investitionen in die Türkei zur Folge hatte. Mehr als achtzig Prozent aller Privatisierungen in der Geschichte der Türkei fielen ebenfalls in diese Zeit. Zuvor staatseigene Vermögenswerte wurden von Regierungsmitgliedern an Verwandte und Freunde verschachert.
In dieser Zeit war Erdogan ein zuverlässiger Vertreter der Kapitalist*innenklasse. Doch nach dem wirtschaftlichen Abschwung im Anschluss an die Finanzkrise 2007/9 hatte die türkische Wirtschaft trotz eines leichten Aufschwungs Mühe, zu ihrem Vorkrisenzustand zurückzukehren. In der Folge griff Erdogan zu immer autoritäreren Maßnahmen, um seine soziale Basis zu schützen, während die türkische Gesellschaft immer stärker polarisiert wurde.
Die Verschärfung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krise in der Türkei hat das Ansehen Erdogans in breiten Schichten der Gesellschaft schwer beschädigt. Während die offizielle Inflation bei etwa fünfzig Prozent liegt, ist sie für die einfachen Arbeiter*innen viel höher. Nach Angaben der Inflation Research Group (ENAG), einer Forschungsgruppe aus Akademiker*innen und Wirtschaftswissenschaftler*innen, lag die Inflation im Februar 2023 bei 126,91 Prozent. Während die Reichsten der Gesellschaft immer reicher werden, zahlt der Rest der Gesellschaft den Tribut für die Wirtschaftskrise.
Das Erdbeben hat diese Krise bereits verschärft. Auch wenn die wirtschaftlichen Auswirkungen des letzten Erdbebens nicht so gravierend zu sein scheinen wie die des Erdbebens von 1999, sind doch wichtige Industrieanlagen geschlossen worden. Nach Schätzungen der Weltbank hat das Erdbeben Schäden in Höhe von 34 Milliarden Dollar verursacht.
Für die weitsichtigeren Kapitalist*innen wird Erdogan mit seinem unberechenbaren Verhalten und seiner Zickzack-Politik zunehmend zu einem unzuverlässigen Vertreter ihrer Klasseninteressen. Wider jede Vernunft beharrt Erdogan weiterhin auf seiner unorthodoxen Wirtschaftspolitik – dass eine Senkung der Zinssätze die Inflation eindämmen wird. Dementsprechend hat die türkische Zentralbank die Zinssätze von 19 Prozent Ende 2021 auf 8,5 Prozent im Februar dieses Jahres gesenkt.
Der Ukraine-Krieg war ein weiterer Beweis dafür, dass Erdogan kein Führer ist, auf den sich die USA oder die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder im Westen bei der Durchsetzung ihrer Interessen verlassen können. Monatelang legte Erdogan sein Veto gegen den NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens ein. Während er die Ukraine mit Drohnen ausrüstete, hielt die Türkei trotz Sanktionen enge Beziehungen zu Russland aufrecht.
Angesichts der stark polarisierten Lage in der Türkei wird Erdogan verzweifelt versuchen, alles zu tun, um die Wahl zu gewinnen und seine Macht und sein Prestige zu schützen. Vor dem Erdbeben führte die Regierung eine Reihe von populistischen Maßnahmen ein, darunter die Frühverrentung für einige, um die soziale Basis der Regierung zu stärken. Kürzlich kündigte Erdogan an, dass der Staat die Gasrechnungen aller Haushalte einen Monat lang bezahlen wird.
Vor einigen Jahren änderte die AKP die Gesetze, um es verschiedenen politischen Parteien zu ermöglichen, Wahlbündnisse einzugehen, um die Zahl der Sitze für die AKP und die rechtsextreme Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) zu erhöhen.
Sie sind nun auch in ein Wahlbündnis mit Huda-par (Partei der Freien Sache) eingetreten, einer rechtsgerichteten islamisch-fundamentalistischen Organisation, die eng mit der kurdischen Hisbollah verbunden ist. Es handelt sich um eine politische Partei, die Frauenrechte strikt ablehnt. Dieser Schritt ist ein weiteres Zeugnis der Verzweiflung der AKP.
In der Zwischenzeit fährt das Erdogan-Regime mit anderen Angriffen auf die Demokratie fort. Dazu gehören Gerichtsverfahren gegen den Istanbuler Bürgermeister Imamoglu und gegen die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP).
Wie weit Erdogan im Falle einer Wahlniederlage gehen würde, um seine Macht zu wahren, lässt sich nicht sagen. Ähnlich wie bei den Ereignissen in den USA und Brasilien nach den Wahlniederlagen von Trump und Bolsonaro ist es durchaus möglich, dass die AKP versuchen könnte, eine Straßentruppe zu mobilisieren und die Wahlergebnisse anzufechten.
Im Gegensatz zu Trump und Bolsonaro verfügt Erdogan jedoch über eine viel größere gesellschaftliche Basis und kontrolliert die oberen Ränge des Staatsapparats, einschließlich der Streitkräfte. Vor allem seit dem Putschversuch von 2016, der von einem rechtsgerichteten religiösen Clan, den Gülenisten, angeführt wurde, ist es Erdogan gelungen, seinen Einfluss auf das türkische Militär, die Polizei, die Justiz und andere Elemente der staatlichen Bürokratie zu stärken.
Obwohl es unwahrscheinlich erscheint, ist nicht auszuschließen, dass Erdogan sogar einen Staatsstreich organisieren könnte – insbesondere, wenn er glaubt, dass er die Unterstützung des Establishments hat. Dieser Weg wäre jedoch nicht im Interesse der Kapitalist*innenklasse und würde wahrscheinlich zu blutigen Konflikten führen.
Das Bündnis der Nation
Das Bündnis der Nation, das von der CHP angeführt wird, besteht aus sechs politischen Parteien. Zu diesem Wahlbündnis gehören der ehemalige Ministerpräsident Ahmet Davutoglu und der ehemalige Finanzminister Ali Babacan, die beide unter Erdogan gedient haben. Beide sind mitschuldig an den Angriffen auf einfache Arbeiter*innen und an den Verwüstungen, die das Erdbeben im Südosten der Türkei angerichtet hat. Außerdem sind drei weitere rechtsgerichtete Parteien in dieser Koalition vertreten.
Verständlicherweise gibt es viele Menschen, die aus Verzweiflung für das Bündnis stimmen würden, um den “verhassten” Erdogan loszuwerden. Die einfachen Menschen sind wütend über den Lebensstandard und die Angriffe auf ihre demokratischen Rechte, einschließlich der Meinungsfreiheit.
Das Bündnis der Nation hat gute Chancen, die Wahl zu gewinnen, aber nicht aus Begeisterung der Wähler*innen. Es fehlt dem Bündnis an einem klaren Programm. Abgesehen von der Zustimmung zur Absetzung Erdogans und einer allgemeinen Zustimmung zur Verteidigung der Interessen der Kapitalist*innenklasse gibt es nichts, was sie eint. Es ist fast sicher, dass es nach den Wahlen zu Zerwürfnissen in diesem instabilen Bündnis kommen wird.
Die Strategie der CHP besteht darin, eine breite Bewegung gegen Erdogan aufzubauen, und sie ist bereit, mit jedem zusammenzuarbeiten, der sich gegen Erdogan stellt. Dazu gehört auch ein ehemaliger AKP-Minister, der jetzt als CHP-Kandidat in Ankara antritt.
Der Kandidat des Bündnisses der Nation, Kemal Kilicdaroglu, gilt als ehrlicher ehemaliger Beamter aus einem armen Arbeiter*innenmilieu und gehört einer unterdrückten religiösen Minderheit, den Aleviten, an. Die Koalition, die er anführt, vertritt jedoch nicht die Interessen der einfachen Leute, sondern die Interessen der Großunternehmen. Zwar bedient er sich gelegentlich linker Rhetorik, doch im Großen und Ganzen bremst er die sozialen Bewegungen aus, indem er versucht, die Opposition unter seiner Kontrolle und innerhalb der Grenzen des Parlaments zu halten.
Das Bündnis der Nation verspricht, die Inflation zu senken und zum früheren parlamentarischen System zurückzukehren. Angesichts der gegenwärtigen Lage der Weltwirtschaft und der türkischen Wirtschaft wird sie jedoch nur sehr begrenzten Spielraum haben, um eine Politik umzusetzen, die der Arbeiter*innenklasse zugutekommt. Stattdessen werden sie eine brutale Sparpolitik durchsetzen.
Junge Menschen, die außer der AKP-Regierung noch keine andere Regierung erlebt haben, werden große Erwartungen an eine vom Bündnis der Nation geführte Regierung haben. Doch die Begeisterung über die neue Regierung wird nur von kurzer Dauer sein. Dies wiederum könnte dazu beitragen, dass die neue Generation junger Menschen aus der Arbeiter*innenklasse zu sozialistischeren Schlussfolgerungen kommt.
Bündnis für Arbeit und Freiheit
Es ist klar, dass sich in der Türkei eine explosive Phase anbahnt. Die linken Kräfte im Parlament und außerhalb des Parlaments, wie die pro-kurdische HDP und die kürzlich gegründete Arbeiter*innenpartei der Türkei (TIP), dürfen keine Illusionen in die pro-kapitalistischen Oppositionsparteien säen. Stattdessen muss die Linke eine unabhängige Arbeiter*innenbewegung mit einem sozialistischen Programm aufbauen, um auf das vorbereitet zu sein, was nach den Wahlen kommen wird.
In dieser Hinsicht ist es bedauerlich, dass die Linke in der ersten Runde niemanden zur Präsidentschaftswahl aufgestellt hat. Im ersten Wahlgang kann Erdogan nur mit mehr als fünfzig Prozent der Stimmen gewinnen. Mit einer Kandidatur hätte die Linke jedoch eine Alternative für die Arbeiter*innenklasse bieten und auf der Grundlage eines sozialistischen Programms an breite Teile der Arbeiter*innenklasse appellieren können. Ein solches Programm hätte einen Teil der Arbeiter*innenklasse ansprechen können, die mit dem Gedanken spielen, Erdogan zu wählen, weil sie kein Vertrauen in das Bündnis der Nation haben.
Auf der Grundlage einer energischen Kampagne in den Gewerkschaften und lokalen Gemeinden hätte der*die Kandidat*in einen bedeutenden Stimmenanteil erhalten können. Das Aufstellen von Klassenforderungen wie der Verstaatlichung der Energieunternehmen, voll finanzierter inflationsgeschützter Lohnerhöhungen und eines Massenprogramms für den sozialen Wohnungsbau hätten eine elektrisierende Wirkung haben können.
Doch stattdessen verzichtete die Linke auf die Präsidentschaftswahlen zugunsten des prokapitalistischen Bündnis der Nation. Mit anderen Worten: Sie erlag der Stimmung in der Gesellschaft für das “kleinere Übel”. Die pro-kurdische Demokratische Volkspartei (HDP) rechtfertigt diese Entscheidung damit, dass das Erdbeben ein Wendepunkt gewesen sei.
Dennoch ist es positiv, dass das Bündnis für Arbeit und Freiheit, das von der HDP und der Arbeiter*innenpartei der Türkei (TIP) angeführt wird, bei den Parlamentswahlen antritt. Aufgrund des möglichen Verbots wird die HDP bei diesen Wahlen unter dem Banner der linksliberalen Partei der Grünen und der Linken Zukunft antreten.
Leider ist die HDP seit 2016 stärker nach rechts gerückt und hat sich der Identitätspolitik verschrieben. Ihr fehlt ein klares Programm, das die kurdischen Arbeiter*innen begeistern oder breitere Teile der Arbeiter*innenklasse in der Türkei ansprechen könnte. Im Wesentlichen ist die HDP eine Volksfrontorganisation, die mit pro-kapitalistischen Politiker*innen zusammenarbeitet. Doch trotz all ihrer Einschränkungen genießt die Partei immer noch beträchtliche Unterstützung unter dem unterdrückten kurdischen Volk, da sie als Verfechterin der kurdischen Rechte angesehen wird.
Die TIP hingegen führt eine lebendige linke Kampagne. Mit ihren linken Ideen gelingt es ihr, viele junge Menschen zu begeistern, die den Rechtsruck der selbsternannten sozialdemokratischen CHP satthaben. Die Popularität der TIP ist ein Indiz für die Sehnsucht nach sozialistischen Ideen und einer Massenarbeiter*innenpartei in der Türkei. Sie hat bereits vier Abgeordnete im türkischen Parlament und hofft, diese Zahl noch zu erhöhen. Auf ihren Listen stehen neben Journalist*innen und Prominenten auch streikende Arbeiter*innen, Gewerkschafter*innen und lokale Aktivist*innen. Mehr Arbeiter*innenvertreter*innen im Parlament zu haben, wäre ein wichtiger Schritt nach vorn.
Die TIP wurde 2017 von einer Gruppe namens Kommunistische Volkspartei der Türkei (HTKP) gegründet, einer Abspaltung von der stalinistischen Kommunistischen Partei der Türkei nach den Gezi-Park-Protesten. Sie haben ihre Türen für andere linke Organisationen geöffnet, darunter einige trotzkistische Organisationen, die sich aufgelöst hatten. Sie ist noch keine Massenpartei, hat aber das Potenzial, eine zu werden.
Außerdem scheut sich der Führer der TIP nicht zu sagen, dass er ein sozialistischer Revolutionär ist, und spricht von der Notwendigkeit, eine sozialistische Bewegung aufzubauen. Die führenden Mitglieder der TIP kommen aus der “marxistischen” stalinistischen Tradition, so dass sie oft das Bedürfnis verspüren, sich revolutionärer Rhetorik zu bedienen. Aber in der Praxis legt die TIP in diesem Stadium ein linksreformistisches Programm vor. Sie verwässert bereits einige Teile ihres Programms. Im Wesentlichen proklamiert sie ein Minimal- und Maximalprogramm, anstatt Übergangsforderungen zu stellen. Sie sollten Fragen des Lebensunterhalts mit der Notwendigkeit einer Umgestaltung der Gesellschaft nach sozialistischen Grundsätzen verknüpfen.
Obwohl der Erfolg der TIP ein wichtiger Schritt zur Verbreitung sozialistischer Ideen ist, könnte er sich als weitere, kurzlebige Erfahrung beim Aufbau einer politischen Alternative für die türkische Arbeiter*innenbewegung herausstellen, wenn die Partei kein ausgereiftes sozialistisches Programm einbringt.
Trotz aller programmatischen und organisatorischen Beschränkungen dieser linken Formationen ist es angesichts ihrer relativen Stärke möglich, wichtige Schritte im Kampf für eine echte linke Front zu unternehmen. Diese sollte nicht nur die HDP und die TIP umfassen, sondern auch die Kommunistische Partei (TKP), die Linkspartei (SOL) und andere. Eine solche Front kann nicht nur verschiedene linke Organisationen zusammenbringen, sondern es kann auch eine eigene Sektion für Arbeiter*innen geben, die keiner politischen Partei angehören. Wir würden dafür plädieren, dass eine solche Front eine föderale Struktur haben sollte, in der die Gewerkschaften eine zentrale Rolle spielen. Sie könnte als demokratisches Arbeitnehmer*innenparlament fungieren, um eine größtmögliche Beteiligung der Massen zu fördern. Dies wäre ein Schritt nach vorn beim Aufbau einer politischen Massenstimme für die Arbeiter*innenklasse.
Vorbereitung auf den bevorstehenden Kampf
Diese Wahl bietet eine einmalige Gelegenheit, nicht nur den zunehmend unpopulären Erdogan und seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) loszuwerden. Der Wahlkampf und das, was sich nach den Wahlen wahrscheinlich entwickeln wird, haben außerdem das Potenzial, die Arbeiter*innenbewegung neu zu beleben und sozialistische Ideen unter den breiten Schichten der Gesellschaft zu verbreiten.
Weder die AKP noch das Bündnis der Nation haben eine Lösung für die Probleme der Arbeiter*innenklasse und der jungen Menschen. Sie bieten nichts anderes als Sparmaßnahmen und Angriffe auf die einfachen Menschen.
Andererseits wäre ein Erfolg der TIP und anderer linker Parteien (dazu gehören die Kommunistische Partei der Türkei, die Linkspartei und andere unabhängige sozialistische Kandidat*innen) ein wichtiger Schritt nach vorn, um besser auf die kommenden Kämpfe vorbereitet zu sein. Aber das allein ist nicht genug. Marxist*innen sollten eine Perspektive dafür haben, wie es ist, ein marxistisches Programm zu entwickeln und dafür zu kämpfen. Neben dem Kampf für eine neue Arbeiter*innenmassenpartei mit einem sozialistischen Programm ist es unerlässlich, die Gewerkschaften, die wichtigste Organisation zur Verteidigung der Arbeiter*innenklasse, wieder aufzubauen.
Auch wenn die Gewerkschaftsaktivität immer noch gering ist, gab es wichtige Kämpfe an der industriellen Front, bei denen die Arbeiter*innen kämpferisch gegen die Bosse vorgingen. Ein wesentlicher Teil des Kampfes gegen Erdogan und andere Verteidiger*innen des Kapitalismus wird darin bestehen, die Gewerkschaften wieder aufzubauen und sie in kämpferische und demokratische Organisationen der Arbeiter*innenklasse zu verwandeln.
Die Kämpfe, die in anderen Teilen der Welt stattfinden, wie die Massenbewegungen in Sri Lanka, werden wahrscheinlich auch in die Türkei kommen. Die Linke muss bereit sein, in diese Bewegungen einzugreifen und eine klare sozialistische Strategie und ein Programm anzubieten.
Ein solches Programm würde die Verstaatlichung der führenden Wirtschaftsbereiche unter Arbeiter*innenkontrolle und -verwaltung als Teil einer demokratisch geplanten sozialistischen Wirtschaft beinhalten.