Die Türkei nach Erdogans Wahlsieg

Wahlkampfkundgebung der linken YSP im kurdischen Van

Welche Aufgaben für die Linke?

In der Stichwahl um das Präsidentenamt am 28. Mai wurde der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdogan mit einem knappen Vorsprung von weniger als drei Millionen Stimmen vor seinem Gegenkandidaten von der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP), Kemal Kilicdaroglu, als Präsident der Türkei wiedergewählt.

von Berkay Kartav

Die Ergebnisse zeigen, dass die Türkei nach wie vor ein stark polarisiertes Land ist, in dem fast die Hälfte der Bevölkerung für Erdogan und die andere Hälfte gegen ihn gestimmt hat.

Diese Wahl und auch die Parlamentswahlen vom 14. Mai fanden inmitten einer historischen Lebenshaltungskostenkrise statt, in der die Inflation auf über 120 Prozent prognostiziert wird, und nach zwei verheerenden Erdbeben, die die Türkei Anfang des Jahres heimgesucht hatten und bei denen mehr als 50.000 Menschen ums Leben kamen und Millionen von Menschen aus ihren Häusern vertrieben wurden.

Die Parlamentswahlen waren ein Durchbruch für die Rechten, da das Bündnis von Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) mit anderen Kräften die absolute Mehrheit errang. Obwohl die selbsternannte sozialdemokratische CHP im Vergleich zu den vorangegangenen Wahlen mehr Sitze erringen konnte, gingen 39 dieser Sitze an die rechtsgerichteten Parteien des CHP-Wahlbündnisses “Allianz der Nationen”. Dies bedeutet, dass die Mehrheit des türkischen Parlaments aus rechten und rechtsextremen Parteien bestehen wird.

Das Ergebnis wird unweigerlich vorübergehend eine demoralisierende Wirkung auf Millionen von Arbeiter*innen und jungen Menschen haben, die sich verzweifelt den Rücktritt Erdogans gewünscht und gehofft hatten, dass eine neue Regierung ein Ende der Wirtschaftskrise herbeiführen würde. Sie haben die Nase voll von dem sich rapide verschlechternden Lebensstandard, den Angriffen auf die demokratischen Rechte, der Korruption, der skandalösen Reaktion auf das Erdbeben und der abscheulichen Sprache von Erdogan und anderen führenden AKP-Mitgliedern.

Viele der Menschen, die gegen Erdogan gestimmt haben, werden sich nun fragen, warum es ihm nach all den Problemen, die durch seine Herrschaft verschärft wurden, gelungen ist, die Wahl zu gewinnen, und warum es der Opposition ein weiteres Mal nicht gelungen ist, ihn zu stürzen.

Es besteht kein Zweifel daran, dass Erdogan, der die Türkei zwei Jahrzehnte lang regiert und seinen Einfluss auf den türkischen Staatsapparat und die Bürokratie gestärkt hat, alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt hat, um seine Wählerbasis zu verteidigen. Es wurden enorme Summen an Geld und Ressourcen ausgegeben, um seine Kampagne zu unterstützen, und die meisten Medien stehen unter seiner Kontrolle. Es gibt auch Vorwürfe der Wahlmanipulation.

Populistische Maßnahmen wie eine 40-prozentige Lohnerhöhung für Beamt*innen, eine Frühverrentung für einige Arbeiter*innen und ein Monat lang kostenloses Gas für alle Haushalte sowie andere Vergünstigungen trugen dazu bei, die Auswirkungen der Wirtschaftskrise, mit der viele Erdogan-Anhänger*innen vor allem in ländlichen Gebieten konfrontiert sind, etwas abzumildern. Die Lebenshaltungskostenkrise ist in den Städten in gewissem Maße viel härter, was sich in der schwindenden Unterstützung für Erdogan in diesen Gebieten widerspiegelt.

Obwohl sich die Kluft zwischen Arm und Reich in den letzten zwanzig Jahren vergrößert hat, ist die AKP in den Arbeiter*innenvierteln durch klientelistische Netzwerke immer noch sehr gut organisiert. Dies ist nicht nur während der Wahlperiode der Fall, sondern sie hat auch außerhalb der Wahlzeiten Wurzeln geschlagen, um die soziale Basis des Regimes zu stärken.

Indem er sich als türkischer Nationalist ausgab, griff er auf die Taktik des Teilens und Herrschens zurück und schürte antikurdische Gefühle, während er die Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung während des Wahlkampfs fortsetzte. Insbesondere den inhaftierten ehemaligen Vorsitzenden der prokurdischen Demokratischen Volkspartei (HDP), Selehattin Demirtas, nahm er in seinen Reden immer wieder aufs Korn. Nach der zweiten Wahlrunde bekräftigte er, dass Demirtas niemals aus dem Gefängnis entlassen werde, solange er an der Macht sei.

Erdogan stellte sich auch als “Weltführer” dar, da die Türkei unter Erdogans Herrschaft eine unabhängige Außenpolitik zu haben scheint. Dies wurde auch mit homophoben und sexistischen Äußerungen kombiniert.


„Vereinte” Opposition


Die wichtigste Wahlkampagne gegen Erdogan wurde von der CHP geführt. Sie führte das Wahlbündnis „Nationale Allianz“ an und lud fünf rechtsgerichtete Parteien ein, darunter die Parteien eines ehemaligen Ministerpräsidenten und eines Finanzministers, die beide unter Erdogans Herrschaft tätig waren.

Durch die Zusammenarbeit mit AKP-nahen Parteien konnten Kilicdaroglu und die CHP natürlich keine nennenswerten Stimmen gewinnen. Was diese verschiedenen Parteien zusammenbrachte, war ihre gemeinsame Motivation, die Interessen des Großkapitals gegen die zunehmend erratische und unberechenbare Herrschaft Erdogans zu verteidigen.

Vereinfacht ausgedrückt, basierte ihre gesamte Wahlstrategie auf der Aussage “Wir sind nicht Erdogan”, und sie hofften, die Unterstützung unzufriedener Schichten in der Gesellschaft zu gewinnen. Die wichtigsten Versprechen dieses Bündnisses waren die Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie und zur Leistungsgesellschaft in den staatlichen Institutionen.

Dies ging einher mit einer allzu optimistischen Kampagne, wonach Erdogan diese Wahlen verlieren würde, und es wurde enormer Druck auf alle anderen Kräfte, insbesondere auf die Linken, ausgeübt, sich nicht an den Präsidentschaftswahlen (und sogar an den Parlamentswahlen) zu beteiligen.

Während der Stimmenanteil der AKP deutlich zurückgegangen ist, haben einige Erdogan-Anhänger*innen, die über den Umgang mit der Wirtschaft verärgert waren, eher für andere rechte Parteien im Wahlbündnis der AKP gestimmt als für die Nationale Allianz. Sie waren der Meinung, dass die pro-westliche und pro-IWF-Position der Nationalen Allianz keine Alternative zu der wirtschaftlichen Misere bietet, mit der sie konfrontiert sind.


Nachdem sie im ersten Wahlgang nicht genügend Stimmen erhalten hatte, schlug die Nationale Allianz einen noch rechtslastigeren Kurs ein und versuchte, die einwanderungsfeindliche Stimmung in der Türkei auszunutzen, einem Land, das die größte Geflüchtetenbevölkerung der Welt beherbergt. Die Hauptbotschaft von Kilicdaroglu war die Abschiebung aller Migrant*innen aus der Türkei. Er schloss sogar einen Pakt mit dem Rechtspopulisten Umit Özdag, in der Hoffnung, dadurch einen Wahlsieg im zweiten Wahlgang zu erringen. Dieser Politiker verbreitete nach dem Erdbeben Gerüchte über Geflüchtete, während die Teams noch versuchten, Menschen aus den Trümmern zu retten.

Es wurde viel darüber diskutiert, warum die CHP erneut verloren hat. Einige argumentieren, dass sie bei den Präsidentschaftswahlen den falschen Kandidaten aufgestellt hat. Es ging jedoch nicht darum, wer kandidierte, sondern mit welchem Programm und welcher Strategie. Die Nationale Allianz hat es versäumt, ein Programm vorzulegen, das sich mit den Problemen der Arbeiter*innenklasse befasst und das möglicherweise die Unterstützung derjenigen erhalten könnte, die für Erdogan gestimmt haben. Wirtschaftliche Fragen und die anhaltenden Probleme in den erdbebengeschädigten Gebieten wurden in ihren Kampagnen größtenteils ausgeklammert.


Sozialistisches Programm erforderlich


Diese Wahl war eine Gelegenheit für linke Parteien, einschließlich derjenigen, die bereits über Sitze im Parlament verfügten, und derjenigen, die dies nicht taten, die Arbeiter*innenklasse und junge Menschen zu begeistern, indem sie ein sozialistisches Programm aufstellten – mit Forderungen zu Löhnen, Wohnraum, Energierechnungen und Lebensmittelpreisen – und in den Arbeiter*innenvierteln Wurzeln schlugen.

Das größte Linksbündnis bei dieser Wahl war das Bündnis Arbeit und Freiheit, das sich aus der prokurdischen HDP und der neu gegründeten Arbeiter*innenpartei der Türkei (TIP) zusammensetzt. Während der Stimmenanteil der HDP leicht zurückgegangen ist, hat die TIP bei den ersten Wahlen, bei denen sie unter eigenem Namen angetreten ist, fast eine Million Stimmen und vier Sitze gewonnen.

Der Top-Down-Ansatz der HDP-Führung und der Partei der Grünen und der Linken Zukunft (YSP), ihre unkritische Unterstützung für den wichtigsten pro-kapitalistischen Oppositionskandidaten und der Rechtsruck in ihrem Programm führten zu einer geringeren Unterstützung der HDP. Die Programme der HDP und der YSP gehen nicht über die bloße Forderung nach wirtschaftlicher Gerechtigkeit und einer demokratischen Republik hinaus.

Nach den Wahlen kritisierte der ehemalige, inhaftierte HDP-Vorsitzende Demirtas zu Recht die derzeitige Führung dafür, dass sie nicht in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen kandidiert hatte, und für den schlecht organisierten Wahlkampf.

Das Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI) argumentierte, dass es Diskussionen auf der Linken geben sollte, damit es einen unabhängigen Standpunkt der Arbeiter*innenklasse zu einem sozialistischen Programm bei den Präsidentschaftswahlen geben könne.

In unserem Artikel vor den Wahlen sagten wir: “Es ist bedauerlich, dass die Linke keinen Präsidentschaftskandidaten in der ersten Runde aufgestellt hat. Eine Kandidatur in der ersten Runde lässt Erdogan nicht gewinnen, es sei denn, er erhält mehr als fünfzig Prozent der Stimmen. Mit einer Kandidatur hätte die Linke jedoch eine Alternative für die Arbeiter*innenklasse bieten und auf der Grundlage eines sozialistischen Programms an breite Teile der Arbeiter*innenklasse appellieren können. Ein solches Programm hätte einen Teil der Arbeiter*innenklasse ansprechen können, die mit dem Gedanken spielen, Erdogan zu wählen, weil sie kein Vertrauen in die Nationale Allianz haben.
Auf der Grundlage einer energischen Kampagne in den Gewerkschaften und lokalen Gemeinden hätte der Kandidat einen bedeutenden Stimmenanteil erhalten können. Das Aufstellen von Klassenforderungen wie die Verstaatlichung der Energieunternehmen, voll finanzierte inflationsgeschützte Lohnerhöhungen und ein Massenprogramm für den sozialen Wohnungsbau hätte eine elektrisierende Wirkung haben können.”

Doch ohne jede demokratische Diskussion innerhalb der Arbeiter*innenbewegung haben sich die Führungen von HDP und TIP der Stimmung des kleineren Übels in der Gesellschaft gebeugt. Im Falle der TIP hat sie Kilicdaroglu nicht nur unkritisch unterstützt, als er versprach, alle Migrant*innenen in der Türkei abzuschieben, sie hat auch aktiv für ihn geworben.

Hätte sie eine unabhängige sozialistische Position beibehalten und ein Programm der Gegenwehr vorgelegt, hätte sie von der Wut profitieren können, die sich unter den CHP-Anhänger*innen nach den Wahlen entwickelte, und sie für sozialistische Ideen gewinnen können. Stattdessen spiegelten sie lediglich die bestehende Stimmung wider.

Trotz dieser schwerwiegenden ideologischen und strategischen Fehler ist es positiv, dass die TIP in der Lage war, sozialistische Ideen unter einer neuen Generation zu verbreiten, wenn auch nur in begrenztem Maße. Aber wenn sie kein sozialistisches Programm vorlegt und sich nicht in den Arbeiter*innenvierteln organisiert und aufbaut, könnte auch sie schnell an Popularität verlieren.

In einigen Vierteln wie Defne in Hatay, einer der vom jüngsten Erdbeben schwer betroffenen Städte, konnte die TIP 28,22 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. Dies zeigt, dass die TIP dort, wo sie eine Basis aufgebaut hat, sehr gut abgeschnitten hat.

Positiv ist auch, dass die HDP, die TIP und andere linke Organisationen wie die Arbeitspartei (EMEP), trotz gelegentlicher sektiererischer Äußerungen einiger Mitglieder des Bündnisses, zusammenarbeiten konnten. Es müssen Schritte unternommen werden, um das Bündnis für Arbeit und Freiheit zu stärken und zu erweitern, und es müssen demokratische Diskussionen unter massiver Beteiligung der Basis über die Struktur des Bündnisses und das Programm, das es in dieser Zeit aufstellen muss, organisiert werden.

Das CWI würde dafür plädieren, dass ein solches Bündnis in eine echte linke Einheitsfront mit sozialistischen und Arbeiter*innenorganisationen umgewandelt werden sollte, mit einer föderalen Struktur und einer Gruppe für Arbeiter*innen, die keinerlei politische Zugehörigkeit haben, und die mutig Klassenforderungen zu Löhnen, Wohnraum, demokratischen Rechten usw. erheben sowie Forderungen nach einer sozialistischen Verstaatlichung der führenden Wirtschaftsbereiche unter Arbeiter*innenkontrolle und -verwaltung stellen. Eine solche Front sollte auch demokratische Forderungen als Teil eines Übergangsprogramms aufstellen.



Keine stabile Regierung



Weit davon entfernt, die Rückkehr zu einem stabilen Gleichgewicht zu signalisieren, wird der Sieg Erdogans die Krise des türkischen Kapitalismus wahrscheinlich noch vertiefen und keine Verbesserung des Lebensstandards der Arbeiter*innenklasse bedeuten.

Die Devisenreserven sind stark aufgebraucht worden, um die türkische Lira zu stützen und die Leistungsbilanzdefizite zu finanzieren. Die Kosten für die Versicherung von Zahlungsausfällen sind gestiegen. Nach den Wahlen wertete die türkische Währung weiter ab. Eine türkische Lira ist jetzt etwa 21 US-Dollar wert.

Obwohl Erdogan Mehmet Simsek, einen ehemaligen Finanzminister, der bei ausländischen Investor*innen ein hohes Ansehen genießt, zum neuen Finanzminister ernannt hat, um das Vertrauen der Investor*innen in die türkische Wirtschaft wiederherzustellen, werden die wirtschaftlichen Probleme weiter anhalten. Simsek verspricht, zu einer “rationalen” orthodoxen Wirtschaftspolitik zurückzukehren. Was er damit meint, ist, dass er Sparmaßnahmen und weitere Angriffe auf die Arbeiter*innenklasse, einschließlich der Rentner*innen, durchführen wird.

Die neue Regierung wird wahrscheinlich auch die nationale Frage anheizen. Die HDP trat zu diesen Wahlen unter massiver staatlicher Repression an, während ihre demokratisch gewählten Bürgermeister*innen und Politiker*innen von ihren Ämtern ausgeschlossen oder sogar inhaftiert wurden. Angesichts der Vorherrschaft rechter und rechtsextremer Parteien im türkischen Parlament wird sich das kurdische Volk und die kurdische Bewegung fragen, welches Programm und welche Strategie notwendig sind, um für demokratische Rechte und nationale Rechte zu kämpfen.

Die Verteidigung der demokratischen Rechte aller Minderheiten und unterdrückten Gruppen in Form eines Übergangsprogramms wird von entscheidender Bedeutung sein, da Erdogans Regime auf eine Taktik des Teilens und Herrschens zurückgreifen wird. Die Linke muss die größtmögliche Einheit der Arbeiter*innenklasse anstreben und die demokratischen und nationalen Rechte, einschließlich des Rechts auf Selbstbestimmung, verteidigen. Der Kampf für demokratische Rechte muss zudem Teil des Kampfes für den Sozialismus sein.

Auch wenn die industriellen Kämpfe noch gering sind, wird die Arbeiter*innenklasse in der Türkei – mit ihren reichen Traditionen des Kampfes und des Sozialismus – diesen Ereignissen wahrscheinlich irgendwann ihren Stempel aufdrücken. Eine wichtige Aufgabe in dieser Zeit ist der Wiederaufbau der Organisationen der Arbeiter*innenklasse, einschließlich der Gewerkschaften, angesichts weiterer Angriffe und die politische Bewaffnung der Arbeiter*innenklasse.

Nur auf der Grundlage einer unabhängigen Arbeiter*innenbewegung mit einem sozialistischen Programm können wir uns von Leuten wie Erdogan befreien und damit beginnen, die Gesellschaft nach sozialistischen Grundsätzen zu verändern, um den Lebensstandard der Mehrheit zu verbessern.