Cybersyn – Allendes kybernetisches Projekt

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Über ein vergessenes Projekt moderner Informationstechnologie

Im September jährt sich zum 50. Mal der Putsch von 1973 in Chile unter der Führung von General Pinochet, der die demokratisch gewählte Linksregierung von Salvador Allende stürzte und eine 17-jährige brutale Militärdiktatur errichtete.

Von Joe Fathallah, Socialist Party England&Wales

Am 4. September 1970 wurde Allende als Führer der Koalition der Unidad Popular (UP) zum Präsidenten Chiles gewählt. Allendes Regierung wurde von der Sozialistischen Partei Chiles und der Kommunistischen Partei angeführt.

Allende wurde mit einem radikalen Programm gewählt und begann mit der Umsetzung von Reformen wie der Erhöhung des Mindestlohns, der Einführung von kostenlosen Schulmahlzeiten und der Umverteilung von landwirtschaftlichen Nutzflächen.

Darauf folgend leitete die neue Regierung ein Programm zur Verstaatlichung ein. Die in US-Besitz befindliche Kupferindustrie und ein großer Teil des Bankensektors wurden in Staatseigentum überführt. Bis Anfang 1972 wurden alle Bergbauunternehmen und 68 weitere Firmen in den öffentlichen Sektor überführt. In der chilenischen Arbeiter*innenklasse herrschte große Begeisterung für Allendes Regierung, die in kurzer Zeit für einen erheblichen Anstieg des Lebensstandards gesorgt hatte.

Allende ernannte Fernando Flores zum technischen Generaldirektor der CORFO, der für das Verstaatlichungsprogramm zuständigen Regierungsstelle. Flores, ein 28-jähriger Ingenieur, war begeistert vom möglichen Einsatz der Computertechnologie für die Planung der verstaatlichten Industrien.

Mitte 1971 nahm er Kontakt zu Stafford Beer auf, einem britischen Unternehmensberater, der ein Pionier auf dem Gebiet der Management-Kybernetik war – der Wissenschaft von der Verarbeitung von Rückmeldungen und der Nutzung von Informationen im Rahmen geschlossener Systeme. Flores bat Beer zunächst um Rat, wie seine Theorien in ein mögliches computergestütztes Wirtschaftsplanungssystem integriert werden könnten. Beer, der vom Potenzial der Idee begeistert war, gab seine andere Beratertätigkeit auf, um sich dem Projekt zu widmen, das im Englischen als Cybersyn und im Spanischen als Synco bekannt ist – ein Informationsunterstützungssystem, das die Entscheidungsfindung in den verstaatlichten Industrien unterstützen sollte, wobei die Kontrolle und das Management durch die Arbeiter*innen in den Fabriken und Werkstätten im Vordergrund standen. Beer reiste in die chilenische Hauptstadt Santiago, um sich mit Allende zu treffen, und überzeugte ihn von den Vorteilen einer Investition in Cybersyn.

Cybersyn war eine bedeutende Innovation, denn es handelte sich um eines der ersten betriebsfähigen Computersysteme in großem Maßstab außerhalb des militärischen und wissenschaftlichen Bereichs. In gewisser Weise war es ein Urgroßvater des modernen “Big Data”, nur dass es diese Daten auf gesellschaftlich nützliche Weise und nicht für kapitalistische Profitinteressen nutzte.

Wie funktionierte Cybersyn?

Der Entwurf für Cybersyn bestand aus vier Komponenten. Teil eins war Cybernet. Dazu gehörte die Installation von Telex-Geräten in allen staatlichen Unternehmen, um ein einziges Echtzeit- Kommunikationsnetz zwischen diesen Unternehmen und der Regierung zu schaffen. Das klingt im Jahr 2023 selbstverständlich, war aber 1971 ein großer Fortschritt. Dies war der erste Teil des Projekts, der in Betrieb genommen wurde, und der einzige, der von der Regierung vor ihrem Sturz 1973 regelmäßig genutzt wurde. Der zweite Teil war Cyberstride. Dabei handelte es sich um Programme zur Sammlung, Verarbeitung und Verteilung von Daten in einem nützlichen Format über das Netz. Der dritte Teil war CHECO. Dies war das ehrgeizigste Unterfangen, das letztendlich nicht das Licht der Welt erblickte. Es sollte ein Echtzeitmodell der chilenischen Wirtschaft sein, das Daten zur Vorhersage wahrscheinlicher zukünftiger wirtschaftlicher Perspektiven aufgrund möglicher Regierungsmaßnahmen liefern sollte.

Der vierte Teil schließlich war der Opsroom. Dieser futuristisch anmutende Raum bestand aus sieben kreisförmig angeordneten Drehstühlen, umgeben von Bildschirmen, auf denen die in den Geschäften und Fabriken gesammelten und aggregierten Daten angezeigt wurden. Eine Wand war für ein unverbundenes, unvollendetes Projekt namens Cyberfolk reserviert, das Beer entwickelt hatte, um den chilenischen Bürgern die Möglichkeit zu geben, der Regierung ein direktes Feedback über ihre Lebenszufriedenheit und ihr Wohlbefinden zu geben.

Der Opsroom hatte Zugang zum Telex-Netz, um Ratschläge und Anweisungen an die Arbeitsplätze zu übermitteln. Er wurde zwar gebaut, aber von Allende nie benutzt. Nur drei Tage vor dem Putsch, der seiner Regierung und seinem Leben ein Ende setzte, hatte er grünes Licht für die Verlegung des Opsroom in den Präsidentenpalast gegeben.

Die erste Planung einer Wirtschaft unter der Kontrolle der Arbeiter*innenklasse fand in Russland statt, nachdem die Oktoberrevolution 1917 unter der Führung von Lenin und der bolschewistischen Partei den Kapitalismus und Feudalismus gestürzt und den ersten Arbeiter*innenstaat der Welt ins Leben gerufen hatte. Lenin selbst bemerkte, dass viele der Verfahren zur Erfassung von Lagerbeständen und Warenbewegungen mit Stift und Papier langsam und mühsam waren, und suchte stets nach Möglichkeiten zur Verbesserung der Effizienz.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bot die Entwicklung der Informationstechnologie eine mögliche Lösung für diese Probleme. Beer war sehr angetan von der Idee, die Kontrolle und das Management in die Fabrik zu verlagern, und der ursprüngliche Entwurf von Cybersyn sah dies als vorrangig vor.

Einige in der UP-Regierung versuchten jedoch, das System als Managementinstrument von oben nach unten einzusetzen, was dazu führte, dass einige Oppositionspolitiker und Zeitungen das System als Mittel zur Bespitzelung der Gesellschaft im Orwellschen Stil darzustellen versuchten.

Streik der Lkw-Fahrenden

Nichtsdestotrotz wurde Cybersyn, auch in seiner unvollständigen Form, genutzt. Im Oktober 1972 streikten 40.000 Lkw-Fahrende gegen die Regierung, angestachelt von der rechten Opposition und der im Hintergrund lauernden CIA. Dies drohte die Wirtschaft zum Stillstand zu bringen. Mit Hilfe von Cybersyn konnte Allende Echtzeitdaten nutzen, um die Situation passend einzuschätzen und zu reagieren. In direkter Kommunikation mit rund 200 LKW-Fahrenden, die der Regierung treu blieben, konnte sie sicherstellen, dass wichtige Güter an die Orte des größten Bedarfs transportiert werden konnten. Cybersyn unterstützte auch die Aktionen der Volksversorgungsausschüsse, die in den Arbeiter*innenvierteln als Reaktion auf die wirtschaftliche Sabotage der Kapitalisten gebildet worden waren, bei der Organisation der Lebensmittelverteilung vor Ort. Durch die aktive Beteiligung der Arbeiter*innenklasse, die von Cybersyn unterstützt wurde, konnte der Streik erfolgreich unterlaufen werden.

In der Folge konnte die Regierung mit Hilfe von Cybersyn auch tägliche Berichte über die nationale Warenproduktion und den Transport erstellen und auf Krisen- oder Sabotagepunkte reagieren. Zuvor hätte die Zusammenstellung und Verarbeitung dieser Datenmenge etwa sechs Monate gedauert. Stellt Euch vor, was die Bolschewiki und die russischen Arbeiter*innen mit Cybersyn hätten erreichen können.

In Chile hatte Allende zum Zeitpunkt seines Sturzes am 11. September 1973 rund vierzig Prozent derWirtschaft verstaatlicht. Die chilenische Kapitalistenklasse behielt weitgehend die Kontrolle über die Produktions- und Vertriebsmittel. Von diesen vierzig Prozent in Staatsbesitz waren etwa 27 Prozent mit Cybersyn ausgestattet. Obwohl die Installationsingenieur*innen die Anweisung erhalten hatten, mit den Betriebskomitees zusammenzuarbeiten, wurde dies manchmal ignoriert, und sie behandelten die Arbeiter*innen mit Herablassung, was dazu führte, dass nicht alle lernten, das System richtig zu nutzen.

Es war nicht möglich, private Unternehmen zur Nutzung des Systems zu zwingen oder sie daran zu hindern, es für ihre eigenen Profitinteressen zu missbrauchen, wenn sie es taten. Noch entscheidender ist, dass Allende die Kontrolle über die staatlichen Kräfte in den Händen der Kapitalistenklasse beließ. Nach dem Streik der LKW-Fahrenden versuchte er, die Opposition zu besänftigen, indem er Pinochet einen Posten in seinem Kabinett anbot – er lud buchstäblich den Wolf in die Höhle ein!

Computersysteme können bei der Wirtschaftsplanung helfen, aber sie sind das Wie und nicht das Was, sie sind ein Hilfsmittel und nicht das Wesen des Vorgangs. Letztlich ist das Projekt Cybersyn gescheitert, weil man keine Wirtschaft planen kann, die man nicht besitzt. Die sozialistische Revolution muss immer noch durch und mit aktiver Beteiligung der Arbeiter*innenklasse vollendet werden, indem diese die Kontrolle über die Wirtschaft übernimmt und ihre eigenen staatlichen Institutionen schafft. Allende hat es versäumt, diese Prozesse zu Ende zu führen, und hat letztlich mit seinem eigenen Leben und dem von Tausenden seiner Anhänger*innen bezahlt.

Eine Million Arbeiter*innen demonstrierten in den Straßen Santiagos und forderten Waffen für den Kampf gegen den Putsch – Allende sagte ihnen einfach, sie sollten nach Hause gehen. In der Zwischenzeit hatte die Arbeiter*innenklasse in den Fabriken die Dinge selbst in die Hand genommen.

Von den im ersten Jahr der Allende-Präsidentschaft verstaatlichten Unternehmen standen weniger als 25 Prozent auf der Liste, die die UP-Regierung ursprünglich für die Überführung in den öffentlichen Sektor vorgesehen hatte! In vielen Fabriken waren die Arbeiter*innenausschüsse der Regierung zuvorgekommen und hatten die Leitung der Betriebe übernommen.

Die Informationstechnologie hat in den fünfzig Jahren seit diesen Ereignissen einen weiten Weg zurückgelegt! Ein modernes Wirtschaftsplanungs-Computersystem, das im Rahmen eines Arbeiter*innenstaates mit verstaatlichter, demokratisch kontrollierter Planwirtschaft funktioniert, würde ungeahnte Möglichkeiten eröffnen.

Ein solches System könnte mit Hardware wie Fertigungsrobotern und Lieferdrohnen integriert werden, um die Wirtschaftsprozesse weiter zu rationalisieren. Es könnte in jeden Aspekt der Wirtschaft integriert werden – einer der Schwachpunkte des Projekts Cybersyn war, dass es speziell für die Fertigung und den Gütertransport konzipiert war und nicht in der Büroarbeit und anderen Bereichen eingesetzt wurde. In den letzten Jahren haben sich die Beschäftigten in der Technologiebranche organisiert, sind Gewerkschaften beigetreten und haben sich gegen das

unverantwortliche Handeln der Kapitalist*innen im Silicon Valley zur Wehr gesetzt. Diese Fähigkeiten werden in der kommenden Zeit für die Entwicklung von Technologien unerlässlich sein, die auf den Schultern des Cybersyn-Projekts stehen und in der Lage sind, die Produktionsprozesse zu rationalisieren und der Menschheit zu helfen, ihr volles Potenzial auf der Grundlage des Sozialismus zu erreichen.