„Das ist kein Kongress nach Schema F“

Interview mit René Arnsburg zum ver.di Bundeskongress

René Arnsburg ist Delegierter zum ver.di Bundeskongress für den Fachbereich A in Berlin-Brandenburg. Mit ihm sprach Sascha Staničić.

Heute ist Tag Vier des ver.di Bundeskongresses. Merkt man dem Kongress an, dass ver.di in diesem Jahr mehr gestreikt hat als zuvor und es 130.000 neue Mitglieder gibt?

Es sind mittlerweile sogar 140.000 Neumitglieder. Das drückt sich auf dem Kongress dadurch aus, dass es – vor allem aus dem Fachbereich C, also unter anderem Gesundheitswesen, Sozial- und Erziehungsdienst und Wissenschaft – sehr viele positive Bezüge darauf gibt und eine kämpferische Stimmung spürbar ist. Diese 140.000 Neumitglieder spiegeln sich natürlich noch nicht in der Delegiertenzusammensetzung wieder, weil die Delegiertenwahlen vor den Streiks und Neueintritten stattgefunden haben. Aber es sind Delegierte da, die an den Streiks teilgenommen haben und ihre Erfahrungen einbringen. Das hat sich zum Beispiel in der Debatte um das Schlichtungsabkommen gezeigt, wo vor allem Krankenhaus-Kolleg*innen aus Berlin stark dafür argumentiert haben, diese Schlichtungsvereinbarung zu kündigen.

Du hast Dich am Protest gegen den Auftritt von Bundeskanzler Olaf Scholz beteiligt und rufst mit anderen dazu auf, der Regierung in der Ukraine-Politik die Gefolgschaft zu verweigern. Warum?

Ich habe mich daran beteiligt, weil die Gewerkschaft mit keiner der beiden Regierungen, die diesen Krieg führen, solidarisch sein sollte. Natürlich sollten wir mit den in der Ukraine betroffenen Menschen solidarisch sein, aber eben auch mit den Kolleginnen und Kollegen in Russland. Die Gewerkschaft sollte sich weiter als Teil einer Friedensbewegung verstehen, in der sie die Interessen der Beschäftigten vertritt. Mit dem vorliegenden Antrag der Führung soll das geändert werden, weil dieser eine grundsätzliche Unterstützung der Regierungspolitik in Bezug auf die Ukraine vorsieht, also eine einseitige Unterstützung des ukrainischen Staates inklusive Waffenlieferungen und Sanktionen gegen Russland. Das ist nicht im Interesse von abhängig Beschäftigten und deshalb wende ich mich dagegen.

Wie ist der Protest unter den Delegierten aufgenommen worden?

Olaf Scholz hat ja quasi am Sonntag die Eröffnungsrede zum Kongress gehalten, noch vor Beginn der offiziellen Tagesordnung. Ungefähr hundert Teilnehmer*innen haben sich an dem Protest beteiligt. Bei vielen Delegierten ist der Protest weder auf Zustimmung noch Ablehnung gestoßen, was auch damit zu tun hat, dass dieser Protest sehr ungewöhnlich war. Sonst gibt es auf solchen Kongressen eher orchestrierte Aktionen. Der Auftritt von Scholz war hermetisch abgeriegelt, man musste Taschen und Laptops abgeben und die Kongressleitung war dann überrascht, dass wir doch Banner und Schilder im Saal hatten. Das war auch ein Signal für den weiteren Verlauf des Kongresses, denn es hat sich gezeigt, dass dieser Kongress nicht wie frühere nach Schema F durchgezogen werden kann, sondern sich lebendige Auseinandersetzungen entwickeln.

Es gab nun auch einige Kampfabstimmungen. Zu welchen Fragen und was drückt das aus?

Es haben bisher drei Kampfabstimmunegn stattgefunden. Das erste Thema war die Frage der gleitenden Lohnskala, die von Kolleginnen und Kollegen als Mindestabsicherung angesichts der hohen Inflation gefordert wurde. Das Gegenargument war, eine solche würde das Betätigungsfeld von Gewerkschaften im Rahmen von Tarifrunden einschränken. Daraus leitete sich dann die formale Begründung ab, diesen Antrag nicht zu befassen. Denn die Antragskommission stellt sich auf den Standpunkt, dass der Kongress – der ja das höchste beschlussfassende Gremium der Gewerkschaft ist – nicht über tarifpolitische Fragen entscheiden darf, da diese in der Zuständigkeit der Tarifkommissionen liege. 46 Prozent haben dann gegen die Empfehlung zur Nichtbefassung gestimmt. Das zweite war dann ein Antrag aus Berlin für eine sofortige Kündigung des Schlichtungsabkommens im öffentlichen Dienst. Es gab auch noch einen Antrag von Krankenhaus-Kolleg*innen für die Eröffnung eines Diskussionsprozesses auf allen Ebenen dazu. Hier haben dann vierzig Prozent gegen die Nichtbefassung gestimmt. In einer dritten kampfabstimmung ging es dann darum die Schlechterstellung von vor allem weiblichen Kolleginnen im Tarifvertrag des Öffentlichen Dienstes aufzuheben. Auch hier war für Nichtbefassung plädiert worden seitens der Antragsberatungskommission, aber zwei Drittel haben das dann abgelehnt. Das kann Auswirkungen auf weitere Anträge zu tarifpolitischen Fragen haben.

Du bist im Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di und in der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) aktiv. Findet die Idee, kritische Mitglieder zu vernetzen ein Echo unter den Delegierten?

Die findet auf jeden Fall ein Echo. Die Stimmung auf dem Kongress ist polarisierter als in der Vergangenheit, wo kritische Positionen oftmals nur von zehn Prozent unterstützt wurden. Es ist auch sichtbar, dass viele junge Kolleginnen und Kollegen delegiert wurden. Wir kommen hier unter kritischen Kolleg*innen zusammen und wollen auch nicht bis zum nächsten Kongress warten, sondern uns vernetzen und für einen kämpferischen Kurs und gegen Sozialpartnerschaft und die Unterordnung unter die Regierung in ver.di aktiv werden.