Für sozialistische Bildungspolitik gegen Lernfabriken

Lehrer*innenstreik in Berlin am 7. Juni 2023

Jenseits von Selektion und Kapitalismus

Die Situation an Schulen ist katastrophal. Die Klassen sind zu groß, viele Lehrer*innen stehen kurz vor’m Burnout, die Gebäude sind marode. Gerade junge Menschen sind stark psychisch belastet, viele leiden unter Leistungsdruck. Nun sollen im Bundesetat für Bildung und Wissenschaft 2024 507 Millionen Euro weniger zur Verfügung stehen als zuvor. Statt Kürzungen braucht es massive Investitionen und eine Neustrukturierung unseres Bildungssystems!

Von Chiara Stenger, Berlin

Im Kapitalismus ist das Hauptziel von Schule, Ausbildung und Uni, junge Menschen möglichst früh verwertbar für den Arbeitsmarkt zu machen. Konkurrenz, Leistungsdruck und Überarbeitung gehören zum Alltag. Je früher man sich daran gewöhnt, desto „besser“. Es geht nicht darum, junge Menschen zu selbst denkenden und handlungsfähigen Personen zu machen oder ihnen Spaß am Lernen zu ermöglichen. Ziel ist nicht, dass alle in dem Bereich arbeiten können, der sie interessiert oder in dem sie gut sind, sondern durch Selektion einerseits gut ausgebildete Kräfte und andererseits solche zu haben, die die prekäre Arbeit machen (müssen!).

Chancengleichheit durch soziale Selektion?

Im bürgerlichen Diskurs zu Bildung ist oft die Rede von angestrebter „Chancengleichheit“ in unserem Bildungssystem. In einigen Bundesländern werden Kinder schon ab der vierten Klasse nach Leistung in Haupt-, Real- oder Oberschule sortiert. Gerade Kindern aus ärmeren Familien wird damit im Alter von ca. zehn Jahren die Möglichkeit genommen, Abitur zu machen oder zu studieren. Aufgrund von großen Klassen und überlasteten Lehrkräften kann zudem kaum auf die vielfältigen Bedürfnisse der Kinder eingegangen werden – seien es Lerneinschränkungen oder fehlende Sprachkenntnisse. Oft sind sie sich damit dann selbst überlassen, da berufstätige Elternteile keine Zeit und Möglichkeit haben, sie bspw. bei den Hausaufgaben zu unterstützen oder mit ihnen für Klausuren zu lernen. Dies zeigt auf, wie wichtig es wäre, Bildung so zu organisieren, dass alle Kinder nicht nur Zugang haben, sondern auch individuell nach ihren Bedürfnissen betreut werden. 

In einem System, in dem bei der Bildung gekürzt wird, wird es nie „Chancengleichheit“ geben. Nötig wären eine Ausbildungsoffensive für Pädagog*innen sowie eine Umstrukturierung von Schule, sodass niemand alleine zuhause mit Aufgaben sitzt, die er oder sie nicht erledigen kann sowie massive Investitionen. Durch mehr Personal könnte eine engere Betreuung gewährleistet werden und auch die Freizeitangebote an Schulen könnten massiv ausgebaut werden. So könnten die Kinder dort zum Beispiel kostenlos Musikunterricht nehmen oder verschiedene Sportarten lernen – ohne dafür mit Noten bewertet und kategorisiert zu werden, sondern einfach um sich gut zu entwickeln und Spaß an Neuem zu haben. Dies könnte auch ein solidarisches Miteinander fördern und dem weit verbreiteten Mobbing, das auch ein Resultat von Konkurrenz- und Leistungsdruck ist, entgegenzuwirken. Dies könnte die psychische Gesundheit vieler Schüler*innen auf die Dauer zusätzlich enorm verbessern. Das ist angesichts der bereits erwähnten besonders hohen Belastung von Jugendlichen dringend nötig. Lehrer*innen könnten zudem durch Weiterbildungen im Umgang gegen Mobbing besser ausgebildet werden. Aktuell ist so schon kaum Zeit und der Betreuungsschlüssel zu hoch, dass dieses wichtige Problem, das oftmals das Leben vieler junger Menschen dauerhaft prägt, nur unzureichend thematisiert werden kann. 

„Aber wie soll das alles bezahlt werden?“ Es gibt enormen gesellschaftlichen Reichtum, der bei einigen wenigen liegt, die aller Wahrscheinlichkeit nach durch ein reiches Elternhaus bessere „Chancen“ hatten, als die allermeisten in dieser Gesellschaft. Bei den Milliardär*innen, Konzernen und Banken müssen wir das Geld holen, um mehr Personal, die Sanierung von Schulgebäuden und kostenlose Lernmittel zu finanzieren. 

Elternunabhängige Grundsicherung statt Armut unter Jugendlichen

So kann auch eine elternunabhängige Grundsicherung von 700 Euro plus Warmmiete für alle Schüler*innen und Studierende ab 16 Jahren finanziert werden. Mehr als jedes fünfte Kind unter 18 ist armutsgefährdet, unter den jungen Erwachsenen zwischen 18 und 25 jede*r vierte. Die vielen jungen Menschen, die aktuell in Deutschland an oder unterhalb der Armutsgrenze leben, könnten ein Leben jenseits von Armut führen und sich frei entfalten anstatt zum Beispiel schon während der Schulzeit arbeiten gehen zu müssen. Und auch diejenigen, die der immer noch oft vorkommenden Gewalt im Elternhaus ausgesetzt sind, könnten dieser entkommen und in Sicherheit leben und lernen. 

Eine solche Grundsicherung ist auch deshalb zwingend nötig, weil das aktuelle Bafög nur wenigen zugänglich ist und auch hier Kürzungen für das kommende Jahr vorgesehen sind. Der aktuelle Höchstsatz liegt bei 934 Euro, viele Empfänger*innen bekommen weniger. Von diesem Geld kann man in einer größeren Stadt gerade mal Miete und Lebensmittel bezahlen. Also muss man zusätzlich arbeiten, aber darf nicht mehr als auf Minijob-Basis verdienen. Ein Maximaleinkommen also. Arbeitet man nebenher, studiert man tendenziell länger. Studiert man länger als Regelstudienzeit, verliert man den Anspruch auf Bafög. Dabei ist die Regelstudienzeit in vielen Fächern auch ohne Nebenjob kaum machbar. Viele verpflichtende Seminare sind überbelegt oder überschneiden sich mit anderen Pflichtveranstaltungen – auch wegen fehlenden Personals an Hochschulen und Mangel an genügend Unterrichtsräumen. Ein Teufelskreis also.

Lernen, aber was?

Aktuell werden die Lehrpläne von der Kultusministerkonferenz erstellt. Also dem Gremium, dass erst kürzlich den Vorschlag machte, größere Klassen einzuführen, Lehrer*innen die Möglichkeit der Arbeit in Teilzeit zu nehmen und mehr „Online-Selbstlernangebote“ zu etablieren, um dem Lehrkräftemangel etwas entgegen zu halten. Dieser Prozess ist vollkommen intransparent und entspricht im Ergebnis nicht den Bedürfnissen und Interessen von Schüler*innen. Nötig wäre eine demokratische Entscheidung über Lerninhalte durch gewählte Räte aus Schüler*innen, Pädagog*innen, Wissenschaftler*innen, Eltern sowie Gewerkschaften mit stetiger Wähl- und Abwählbarkeit und Rechenschaftspflicht. Lehrpläne könnten dezentralisiert und flexibilisiert werden, anstatt sie an Zentralprüfungen auszurichten, die lediglich der Selektion auf dem Arbeitsmarkt dienen. Neben der Vermittlung von allgemeiner Bildung und praktischen Kenntnissen bestände so Raum für die Einbeziehung von Schüler*innen in die Gestaltung des Lernens. Kapitalistische Prinzipien der Verwertungs- und Profitlogik könnten so aus Bildungseinrichtungen vertrieben werden.

Bildung sollte nicht nur mit dem Ziel eines Abschlusses und einem Arbeitsplatz verbunden sein, sondern allen offen stehen. Durch eine radikale Arbeitszeitverkürzung mit einer 30-Stundenwoche bei vollem Lohn- und Personalausgleich könnte zum Beispiel eine Bäckerin, die sich für Geschichte interessiert, neben der Arbeit Neues lernen, mit anderen diskutieren und sich nach Ihrem Interesse und ihren Bedürfnissen weiterbilden – ohne deswegen Historikerin werden zu müssen. Bildung sollte uneingeschränkt allen offen stehen, kostenlos und ohne Zugangsbeschränkung.  NC und Zugangsbeschränkungen an Unis müssen aufgehoben werden, damit alle das Recht haben das zu lernen, was sie möchten. In einigen Bereichen braucht es dann entsprechend der Bedürfnisse eine Ausbildungsoffensive und die Schaffung neuer Ausbildungs- und Studiumsplätze, so zum Beispiel im Bereich der Medizin – das würde auch dem aktuellen Ärzt*innenmangel entgegenwirken. 

Wissenschaft die nützliches Wissen schafft

Ein Grundpfeiler des aktuellen Bildungssystems sind auch die wissenschaftlichen Einrichtungen. Dort werden die Lehrer*innen, Ärzt*innen oder Chemiker*innen von morgen ausgebildet. Gute Lehre an Hochschulen ist auch deshalb so wichtig, weil dort die notwendige Grundlagenforschung zum Beispiel für die Entwicklung von Impfstoffen stattfindet. Diese ist öffentlich mit Steuergeldern finanziert, wird dann aber oft später von privaten Unternehmen in Patente und  damit Profit umgewandelt. Ein gutes Beispiel hierfür ist Biontech, die während der Pandemie große finanzielle Unterstützung durch die Regierung erhielten – nur um dann mit Impfpatenten Milliarden mit der Gesundheit von Menschen zu verdienen. Wissenschaft sollte stattdessen öffentlich finanziert werden und dann auch öffentlich bleiben, sodass ihre Ergebnisse der Allgemeinheit nützen. Dadurch könnte noch viel effektiver geforscht werden, da es keine Konkurrenz mehr zwischen zum Beispiel konkurrierenden Pharmaunternehmen gäbe, die an Medikamenten gegen Krebs forschen. Stattdessen würden Wissen und Ergebnisse ausgetauscht werden und allen zugutekommen.

Wissenschaftler*innen, Expert*innen der jeweiligen Gebiete sowie Jugendliche, Arbeiter*innen und Gewerkschaften würden sicherstellen,  dass sich Forschung an gesellschaftlichen Bedürfnissen statt Kapitalinteressen orientiert.  Das würde auch die Kluft zwischen „der“ Wissenschaft und der Masse der Bevölkerung reduzieren. Wichtige wissenschaftliche Ergebnisse würden auch allgemein verständlich und entsprechend nicht nur exklusiv für Fachpublikum öffentlich publiziert, sodass alle darauf Zugriff haben. Das Wissenschaftssystem würde damit transparenter und zugänglicher werden, anstatt jährlich Millionen von Papern, Essays und Artikeln mit zum Teil sicherlich sehr interessanten Ergebnissen zu veröffentlichen, die dann kaum gelesen, geschweige denn angewendet werden. Die Lernpläne in den Schulen würden entsprechend auch nach neuesten wissenschaftlichen Ergebnissen gestaltet und stetig aktualisiert, Pädagog*innen wären durch Fortbildungen immer auf dem aktuellsten Kenntnisstand – statt oft aufgrund von Zeitmangel zum Teil Jahrzehnte lang veralteten Stoff zu lehren, wie es aktuell vielerorts der Fall ist.

Im Kapitalismus wird’s nix

Eine solche radikale Neustrukturierung des Bildungssystems würde an die Grenzen des Kapitalismus stoßen, denn die Herrschenden würden ihre Lernfabriken nicht einfach aufgeben. Für eine demokratisch von unten geplante Bildung ist also die Überwindung des Kapitalismus notwendig.

Teure, öffentlich finanzierte Studien belegen die Notwendigkeit kleinerer Klassen, von mehr Personal, von direkterer Betreuung. Die Schädlichkeit von Noten und Selektion. Doch das Bildungs- und Wissenschaftssystem im Kapitalismus hört nicht auf die eigenen Ergebnisse – weil diese im aktuellen System nicht umsetzbar wären. Es lohnt sich für jede Verbesserung im Hier und Jetzt zu kämpfen, aber wirklich gute Bildung können wir nur in einer sozialistischen Demokratie organisieren!

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