ver.di-Bundeskongress: Vorbote kommender Auseinandersetzungen

Delegierte ringen um die Ausrichtung ihrer Gewerkschaft

Vom 17. bis 22. September trafen sich etwa eintausend Delegierte der Gewerkschaft ver.di in Berlin. Bereits im Vorfeld war klar, dass es Auseinandersetzungen geben würde. 

Von René Arnsburg, Delegierter zum Bundeskongress aus Berlin

Mit über 10.500 Unterschriften, darunter zahlreiche Delegierte, hatte die Kampagne “Sagt Nein! Gewerkschafter:innen gegen Krieg, Militarismus und Burgfrieden”  öffentlich mobilisiert. Das ver.di interne Friedensnetz und Unterstützer*innen des “Netzwerks für eine kämpferische und demokratische ver.di” schlossen sich der Kritik am Leitantrag E 084 des Bundesvorstands und Gewerkschaftsrats an. Es ging um nicht weniger, als den historischen Bruch mit bisherigen antimilitaristischen Positionen der Gewerkschaftsbewegung. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg sollte eine DGB-Gewerkschaft sich für Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet und Sanktionen aussprechen.

Kritik vom ersten Tag an

Vor dem eigentlichen Beginn fand eine zweistündige Eröffnungszeremonie statt. Neben dem korrupten Regierenden Bürgermeister Berlins – Kai Wegener (CDU) – durfte auch Kanzler Scholz sprechen. Draußen fand eine Mahnwache und Kundgebung gegen die Kriegspolitik der deutschen Regierung statt. Es gelang einigen Aktivist*innen, Protestmaterial ins Innere des Kongresshotels zu schmuggeln und so deutlich zu machen, dass Scholz’ Auftritt und die Regierungspolitik nicht unwidersprochen hingenommen wird. Währenddessen versuchte der Bundeskanzler, die Gewerkschaft mit freundlichen Worten zu umarmen. Der neue und alte ver.di-Vorsitzende Frank Werneke dankte es ihm: “Wir sind eine unabhängige Gewerkschaft und damit natürlich auch kritischer Begleiter jeder Bundesregierung, aber du kannst dich auf deine Gewerkschaft verlassen.”

Sozialpartnerschaft unter Beschuss

Das sahen viele Delegierte jedoch anders. Bereits in der Aussprache zum Geschäftsbericht und in der Diskussion zum Grundsatzreferat des Vorsitzenden wurde klar, dass die Nähe zur Regierung und die Sozialpartnerschaft ein Hauptkritikpunkt in den Beiträgen war. Schnell wurde klar, dass der Kongress diesmal anders läuft. Viele der etwa einhundert Redner*innen forderten eine größere Unabhängigkeit von Regierung und Unternehmen. Die Gewerkschaft sei eine Arbeiter*innenorganisation und müsse sich allein auf ihre eigene Stärke verlassen. Die Unterordnung unter die Regierungspolitik wurde abgelehnt, an der Kriegsfrage, aber auch an der Frage der Konzertierten Aktion, deren Inflationsausgleichprämie den Kolleg*innen bis heute in den Verhandlungen um tabellenwirksame Lohnerhöhungen das Leben schwer macht. 

Wichtige tarifpolitische Fragen waren die Schlichtungsvereinbarung im öffentlichen Dienst und die gleitende Lohnskala. Die Aussage der Antragskommission war da sehr restriktiv: Mit formaler, aber interpretationsbedürftiger Berufung auf die Satzung wurde jegliche Diskussion und Positionierung zu grundlegenden Fragen der Tarifpolitik abgelehnt. Die Antragskommission gibt Empfehlungen für die Abstimmung und wer dagegen spricht, hat es oft schwer. Das sorgte bei einer großen Zahl von Kolleg*innen für Unmut und trotzdem die “Nichtbefassung”, wie sie die Antragskommission empfahl, an diesen Stellen nicht gekippt werden konnte, lag die Ablehnung der Empfehlung bei vierzig Prozent und mehr.

Worte und Taten

Frank Werneke betonte in seiner Replik zur Grundsatzdiskussion über die zukünftige Gewerkschaftsarbeit, dass es keine Wirtschaftskrise gebe. Vielen Anwesenden dürfte klar geworden sein, dass vom Kongress bestenfalls eine unzureichende Antwort auf die drängendsten Probleme gegeben wurde. In ihren Reden betonten die Kandidat*innen des Bundesvorstands, dass sie keine blinden Verfechter*innen der Sozialpartnerschaft wären und gerade die alten und neuen Vorsitzenden Werneke, Behle und Kocsis gaben sich sehr kapitalismuskritisch. Genauso sah es bei der Diskussion zur Friedenspolitik aus – es wurde deutlich gesagt, dass die Aufrüstung (Sondervermögen und Zwei-Prozent-Ziel der NATO) abgelehnt werde und es keine Änderung der gewerkschaftlichen Grundsätze gebe. Dennoch wurde mit der Unterstützung der Regierungspolitik zum Ukraine-Krieg eine grundsätzliche Änderung beschlossen. 

In den Leitanträgen wurden weitere explizit sozialpartnerschaftliche Modelle beschlossen. Der Kongress hat aber gezeigt, dass es dazu viel Kritik gibt – und das, obwohl sich die Streikwelle dieses Jahres bei der Delegiertenzusammensetzung noch nicht ausgedrückt hat. Der derzeitige Bundesvorstand wird, trotz radikaler Reden, an diesem Kurs festhalten wollen. Dem muss von unten organisierter Widerstand entgegengesetzt werden. Es muss verhindert werden, dass die Befürwortung von Sanktionen gegen Russland und Waffenlieferungen an die Ukraine einen Dammbruch darstellt. Regierung und Kapitalist*inne werden angesichts des Kampfes um die (Neu)Aufteilung der Welt, in dem das deutsche Kapital mittendrin steckt, von den Gewerkschaftsführungen weitere Zugeständnisse einfordern – an den Militarismus, an die Regierung, an den Sozialabbau im Inneren für die Rüstung, an den Widerspruch zwischen den Interessen der Arbeiter*innen hier und in anderen Ländern und der Klasse der Kapitalist*innen, die ihre Profite sichern wollen. Solche Zugeständnisse müssen verhindert werden. 

Zukünftige klassenkämpferische Vernetzung

Es ist davon auszugehen, dass die Stimmung in den Betrieben und an der Basis weitaus kritischer ist, als sich auf dem Kongress gezeigt hat. Die Zuspitzung dort war nur der Vorbote für die Kämpfe, die sich in den kommenden Monaten und Jahren innerhalb von ver.di austragen werden. Obwohl kritische Delegierte in Abstimmungen unterlagen, haben sich jetzt viele zusammengefunden und diskutieren intensiv darüber, wie man sich gegen die Sozialpartnerschaft, gegen die Unterordnung unter die Regierung und für einen klassenkämpferischen Kurs organisieren kann. Die Basis dafür hat das gemeinsame Eingreifen in den Kongress bereits gelegt. Das “Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di” ruft alle Kolleg*innen dazu auf, mit ihm in Diskussion über die weitere Arbeit zu treten!

Print Friendly, PDF & Email