Faktencheck: Ist “das Boot” voll?

Sind die Kapazitätsgrenzen zur Aufnahme Geflüchteter erreicht?

Es war eine Diskussion, die keine war: Der Chefredakteur des Nachrichtensenders „Welt“, Jan Philipp Burgard, stellte zu Beginn seiner Sendung vom 27. September drei seiner Gäste die Frage, ob Deutschland bei der Aufnahme von Geflüchteten an der Kapazitätsgrenze sei. Friedrich Merz (CDU), Lars Klingbeil (SPD) und Omid Nouripour (Die Grünen) erklärten in „seltener Einigkeit”, wie Burgard festhielt, dass Boot sei voll.

von Steve Hollasky, Dresden

Wir wollen hier die wichtigsten Behauptungen derer, die das behaupten, unter die Lupe nehmen.

Gesundheitswesen

Behauptung: „Die sitzen beim Zahnarzt und lassen sich die Zähne machen und die deutschen Bürger nebenan kriegen keine Termine“, Friedrich Merz, Bundesvorsitzender der CDU, zur Gesundheitsversorgung abgelehnter Asylsuchender.

Was ist dran?: Friedrich Merz‘ Behauptung ist falsch. Paragraph vier des Asylbewerberleistungsgesetzes legt die medizinische Versorgung der Asylsuchenden auf ein Minimum fest. „Ärztliche und zahnärztliche“ Behandlung würden demnach nur „zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen“ gewährt. 

Die knappen Ressourcen zur Terminvergabe sind ein Ergebnis des Mangels an Ärztinnen und Ärzten. Migrant*innen haben daran keine Schuld, denn sie haben weder für die, auch in diesem Jahr, zahlreichen Klinikschließungen, noch für Privatisierungen im Gesundheitswesen und in der Pflege die Verantwortung. Diese tragen deutsche Politiker*innen und Regierungen auf kommunaler, Landes- und Bundesebene aus allen Parteien.

Überlastete Schulen

Behauptung: „Wir können die Qualität der Bildung nicht mehr garantieren, weil wir Schüler beschulen müssen, die von außen kommen“, erklärte der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) gegenüber Schüler*innen des Bautzener Friedrich-Schiller-Gymnasiums. 

Was ist dran?: Klassengrößen wachsen. Es fehlt an Lehrkräften, Psycholog*innen, Hausmeister*innen, Sekretär*innen und Sozialarbeiter*innen. Kolleg*innen geraten aufgrund massiver Überlastung in den Burnout und Schüler*innen leiden unter dieser Situation. Droht durch den Zuzug weiterer Migrant*innen der Kollaps? 

Die Wahrheit ist: Schon vor mindestens fünfzehn Jahren hätte bundesweit mehr Personal eingestellt werden müssen. Der Autor dieser Zeilen war damals Sprecher der ostsächsischen Referendar*innen. Während der Proteste für die Übernahme der Lehrer*innen in Ausbildung erteilte der damalige sächsische Kultusminister den geforderten Einstellungen eine glatte Absage. 

Zum Schaden aller Kinder wurden, in Sachsen wie bundesweit, zu wenige Lehrer*innen eingestellt. Zudem wurde es über Jahre hinweg versäumt, Lehrer*innen auszubilden, die Deutsch als Zweitsprache unterrichten könnten. 

Laut des Schulportals der Robert-Bosch-Stifung sind gerade einmal 200.000 Schüler*innen ukrainischer Abstammung, bei einer Zahl von 8,69 Millionen Schüler*innen insgesamt. Das ist ein*e ukrainische Schülerin auf 43 Schüler*innen. Selbst wenn dazu noch zwei, drei oder vier weitere geflüchtete Schüler*innen kommen, kann ein funktionierendes System davon nicht überlastet werden, ein kaputt gespartes schon. 

Lehrer*innen sind auch in den ländlichen Kreisen, wie dem sächsischen Vogtland, überarbeitet, obwohl dort der Anteil migrantischer Kinder deutlich geringer ist. Die Überarbeitung entsteht nicht durch Zuwanderung und würde sich mit weniger Zuwanderung nicht bessern. Die Ursache sind die katastrophalen Einsparungen der letzten Jahre. 

Wohnen

Behauptung: „Es fehlt an vielen Orten an Wohnraum“, erklärte Omid Nouripour (Die Grünen) im eingangs erwähnten „Welttalk“ auf die Frage, ob Deutschland bei der Aufnahme von Geflüchteten an der Belastungsgrenze sei.

Was ist dran?: Es fehlt an bezahlbarem Wohnraum. Die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP versprach den Bau von jährlich 100.000 Sozialwohnungen. Doch die Situation hat sich seit ihrer Amtsübernahme deutlich verschärft. Ende 2022 existierten „bundesweit rund 1,088 Millionen“ Sozialwohnungen, erklärte das ZDF Ende Juli in einem Beitrag. Das sind 14.000 Sozialwohnungen weniger als 2021. Neu gebaut wurden, laut dieses Beitrags, 22.545 und damit deutlich weniger als versprochen. Da bei 36.000 Wohnungen die Preisbindung auslief, sank die Zahl der Sozialwohnungen sogar.

Nicht Zuwanderung hat also das Problem auf dem Wohnungsmarkt verschärft, sondern die fehlende Bereitschaft der Koalition, Geld für sozialen Wohnungsbau auszugeben. 

Den privaten Unternehmern geht es im Wohnungsbau um Profit. Momentan ist dieser gesichert, denn die Mieten sind wegen des fehlenden Wohnraums hoch. Die Mittel für kommunalen und sozialen Wohnungsbau wurden zusammengestrichen. „Die Kommunen sind kaputt gespart worden“, erklärte denn auch Tarek Alaow von „Pro Asyl“ im Gespräch mit „Solidarität“. Und das, so Alaow weiter, habe „zu Knappheit bei Wohnraum geführt, nicht die Zuwanderung“. 

Antisemitismus

Behauptung: „Deutschland kann nicht noch mehr Flüchtlinge aufnehmen. Wir haben genug antisemitische junge Männer im Land“, behauptet Friedrich Merz, im Interview mit der „Neuen Züricher Zeitung“ im Oktober.

Was ist dran?: Die Internetplattform „statista“ belegt eine deutliche Zunahme antisemitischer Straf- und Gewalttaten. Laut einer Pressemitteilung des Bundesministeriums des Innern, werden „84 Prozent“ der antisemitischen Taten „der politisch rechts motivierten Kriminalität“ zugeordnet. Dieselbe Erklärung sieht bei lediglich vier Prozent der antisemitischen Straftaten „ausländische“ oder religiös motivierte Täter am Werk. 

Trotz der klaren Befunde, dass Antisemitismus in Deutschland nicht durch Zuwanderung entsteht, spreche Friedrich Merz „einen Pauschalverdacht gegen Menschen aus, die vor Terror und Unterdrückung fliehen“, so Alaow. Das sei nicht neu. Merz habe schon „bei seinen Äußerungen über ‘kleine Paschas’ eine gesamte Gruppe allein aufgrund ihrer Herkunft“ diffamiert, so Alaow weiter. So etwas nenne man Rassismus.

Merz will Antisemitismus aus der Zuwanderung erklären und versucht damit die deutsche Geschichte zu entsorgen: Die deutschen Herrschenden der 1930er und 1940er Jahre sind für einen einmaligen Massenmord an Jüdinnen und Juden verantwortlich. Der Antisemitismus kam nicht mit der Zuwanderung nach Deutschland. 

Zudem will Merz den Widerstand der Palästinenser*innen und nicht nur die erzreaktionäre, terroristische Hamas als antisemitisch darstellen.  

Kosten

Behauptung: „Wir wollen das Problem nicht finanzieren, sondern wir wollen endlich eine Veränderung in der Migrationspolitik. Ich bin ja Verteidiger der Interessen der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler“, Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) im Gespräch mit dem ZDF im Mai diesen Jahres.

Was ist dran?:Kostet Zuwanderung die deutschen Steuerzahler*innen “zu viel”? Laut der Pressestelle des Bundestages hat Deutschland 2022 insgesamt 28 Milliarden Euro im Bereich Flucht und Migration ausgegeben. Dazu zählen auch zwölf Milliarden Euro, „die auf die Bekämpfung von Fluchtursachen entfallen“, wie sie im Internet bekanntgibt.

Die Wirkung dieser Summe dürfte angesichts wachsender Waffenexporte als eher gering eingeschätzt werden. Im letzten Jahr machten deutsche Konzerne 8,36 Milliarden Euro Gewinne mit ins Ausland verkauftem Kriegsgerät. Allein bis Juni diesen Jahres verdienten deutsche Unternehmen 4,62 Milliarden Euro mit dem todbringenden Geschäft. Waffenexporte sind wirkliche Pull-Faktoren für Flucht und Migration.

Zugleich ging das Finanzministerium des Landes Nordrhein-Westfalen 2013 von etwa 160 Milliarden Euro jährlichen Verlusten durch Steuerhinterziehung aus. Hauptsächlich sind die Reichen und Superreichen hierfür verantwortlich. 

Wäre die Bundesregierung, wie Lindner behauptet, die Anwältin der Steuerzahler*innen, sie müsste sich nicht um Migration kümmern, sondern um Superreiche, die ihr Geld am Fiskus vorbeischleusen.

Was wir brauchen und was nicht

Die aktuelle Debatte um Zuwanderung lenkt vom Wesentlichen ab: Deutschland ist das viertreichste Land der Erde. Würde man den Reichtum in Deutschland – unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft, Sprache oder Religion – gleich verteilen, hätten alle hier lebenden Menschen 160.000 Euro zur Verfügung. Das Geld würde für ein bedarfsgerecht ausgebautes Gesundheitswesen, Wohnungen für alle und gut ausgestattete Schulen reichen. Nur müsste man sich dafür mit den Reichen und Mächtigen anlegen. Das wollen Merz, Nouripour, Klingbeil und wie sie alle heißen nicht, daher schlagen sie auf die Schwächsten ein.

Würden Wirtschaft und Gesellschaft nicht nach Profitinteressen organisiert, würde Zuwanderung bedeuten, dass alle weniger arbeiten müssen und sich die Lebensqualität für uns alle erhöhen würde. Schließlich könnte man mit Hilfe der Migrant*innen Personalmangel in Pflege, Gesundheitswesen, Schule und dem öffentlichen Personennahverkehr entgegen wirken. 

Wollen wir alle hier gut leben, dann brauchen wir keine Zuwanderungsdebatte, sondern eine Debatte darüber, wie wir das schaffen können. Dazu müssten wir, Zugewanderte und Hiergeborene, gemeinsam kämpfen. Die Interessen sind so ähnlich, dass sich das im Grunde aufdrängt: Wir alle wollen lebenswerten und bezahlbaren Wohnraum und gut bezahlte Arbeit. Gäbe es entsprechende Mobilisierungen durch die Gewerkschaften, könnten wir organisiert dafür eintreten. 

Und wenn wir die ungeheuren, gemeinsam erwirtschafteten Reichtümer zum Nutzen aller demokratisch verwalten wollen, brauchen wir zum Kapitalismus mit Kriegen, Vertreibung und Rassismus eine demokratische und sozialistische Alternative.

Kampagne statt Fakten

In der aktuellen Debatte wird von bürgerlicher Seite häufig behauptet, dass Boot sei voll. Will man die Debatte wirklich sachlich führen, ist es notwendig, die Zahlen einzuordnen. Aktuell leben in Deutschland 83,2 Millionen Menschen, Tendenz sinkend. In seiner 11. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung geht das Statistische Bundesamt (Destatis) für das Jahr 2050 von einer deutlichen Bevölkerungsabnahme aus. Demnach soll in 27 Jahren ein Rückgang auf 69 bis 74 Millionen zu verzeichnen sein. 

In diesem Jahr stellten bis September 251.000 Menschen einen Asylantrag in Deutschland. Das sind nach aktuellen Zahlen 0,3 Prozent der Gesamtbevölkerung. In einer Kleinstadt wie dem sächsischen Meißen mit etwas 27.000 Einwohner*innen, würden 81 Menschen dazukommen. Dass das keine Kapazitätsgrenzen sprengt, liegt auf der Hand. Einen Kollaps der Gesellschaft oder der Sozialsysteme ist durch diese an sich sehr geringe Zunahme kaum zu erwarten, zumindest liegt er nicht darin begründet. 

Man bedenke das Beispiel der bundesweit etwas über eine Million ukrainischen Kriegsflüchtlinge. Die Ukrainer*innen bekamen Zugang zum Arbeitsmarkt, anders als andere Geflüchtete, dennoch hat das nicht zur Katastrophe geführt. Auch die vergleichsweise hohe Zahl Geflüchteter, die 2015/2016 nach Deutschland kamen, hat nicht zum Kollaps geführt.

Dass Menschen angeblich wegen der hohen Sozialleistungen nach Deutschland fliehen, kann man als Märchen abtun. Harald Thomé vom „tacheles e.V.“, der sich seit Jahren für die Interessen von Hartz-IV- beziehungsweise Bürgergeldbeziehenden einsetzt, erwiderte darauf im Gespräch mit der „Solidarität“, Asylsuchende würden „von vorn bis hinten diskriminiert“. Die ersten 18 Monate erhielten sie Leistungen nach Asylbewerberleistungsgesetz, die deutlich unter dem Bürgergeld liegen und erst nach ihrer Anerkennung würden „Analogleistungen“ gezahlt.

Das zeigt, dass wir aktuell Zeug*innen einer massiven Kampagne aller bürgerlichen Parteien von Grünen bis AfD werden, die die Scheinrealität von einer Überzahl an Geflüchteten malen, um von ihrem eigenen Versagen und ihrer eigenen Verantwortung für die Missstände abzulenken.

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