Krieg und Krise in der Ukraine

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Bevölkerungsrückgang, ethnischer Konflikt, Armut, schwache Gewerkschaften

Wer vor dem Krieg Gelegenheit hatte, die Ukraine zu bereisen, konnte bei vielen Menschen eine Art trauriger Entfremdung von ihrem Land feststellen. Zwar verfügt die Ukraine über alle Voraussetzungen, um ihren Bewohner*innen eine hohe Lebensqualität zu bieten. Das Land besitzt große Flächen mit bester Bodenqualität. Besonders der Westen der Ukraine ist daher landwirtschaftlich geprägt. Zur Zeit der Sowjetunion trug die ukrainische Teilrepublik den Beinamen Kornkammer des Landes. Neben der Landwirtschaft verfügt die Ukraine über reiche Erz- und Kohlevorkommen und hat aus dieser Kombination auch eine beachtliche Metallindustrie, besonders Stahl, aufgebaut. Trotzdem war die Ukraine bereits vor dem Krieg das ärmste Land Europas.  

von Johannes Bauer, Köln

Seit Ausbruch des Krieges haben mehr als acht Millionen Einwohner*innen das Land verlassen. Viele Menschen in der Ukraine hatten aber bereits vor dem Krieg die Hoffnung verloren, in ihrer Heimat ein gutes Leben führen zu können. Schon von 1993 bis 2022 war die Bevölkerung von fast 52 Millionen auf 44 Millionen gesunken. Nach offiziellen Angaben betrachten sich etwa 78 Prozent der Ukrainer*innen als ethnische Ukrainer*innen, daneben sehen sich mehr als 17 Prozent als ethnische Russ*innen. Die restlichen fünf Prozent der Bevölkerung verteilen sich auf etwa einhundert Ethnien, von denen die Minderheiten aus den Anrainerstaaten die größten sind.

In der Sowjetzeit waren Russisch und Ukrainisch Amtssprachen, mit der Unabhängigkeit verlor das Russische diesen Status. Eine wichtige Rolle im Alltag nimmt eine Mischform aus Russisch und Ukrainisch ein, der Surschyk. Etwa zwei Drittel der Ukrainer*innen geben Ukrainisch als Muttersprache an, ein Drittel Russisch. Seit der Unabhängigkeit gibt es eine Verschiebung zu Gunsten des Ukrainischen.

Kriegsrecht

Selenskyj hatte 2019 mit dem Wahlversprechen des Kampfs gegen Oligarchen und Korruption und der Entspannung gegenüber Russland über 73 Prozent der Stimmen bekommen (allerdings bei einer Wahlbeteiligung von nur 61 Prozent). Bald nach der Wahl betrieb er eine entgegengesetzte Politik. Das hindert unsere Medien nicht, ihn als demokratische Lichtgestalt zu feiern.

Nach dem russischen Angriff wurde das Kriegsrecht verhängt und seitdem immer wieder verlängert. Dadurch sind massive Eingriffe in die Grundrechte möglich: Reisefreiheit, Pressefreiheit, Demonstrationsrecht wurden massiv eingeschränkt, Parteien und andere Organisationen wurden verboten. Wahlen (die Parlamentswahlen wären turnusgemäß im Oktober gewesen) sind ausgesetzt. Männer werden in die Armee zwangsrekrutiert und dürfen das Land nicht verlassen. 

Gewerkschaften unter Druck

In der Ukraine gibt es zwei rivalisierende Gewerkschaftsverbände, die beide dem internationalen Gewerkschaftsbund ITCU angeschlossen sind. Die FPU ist aus den Sowjetgewerkschaften hervorgegangen, und hatte 1998 noch 17,7 Millionen Mitglieder, von denen heute noch 4,8 Millionen, nach anderen Quellen 3,1 Millionen übrig sein sollen. Die FPU gilt als wenig kämpferisch. Die KVPU hat nur 160.000 Mitglieder, gilt aber als durchsetzungsstärker. Die Regierung von Wolodymyr Selenskyj hat seit 2020 die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften beschnitten und die Arbeiter*innenrechte eingeschränkt. Ein neues Arbeitsgesetz erweitert die Freiheiten der Unternehmer*innen, so dass man aktuell von einem Kündigungsschutz in der Ukraine nicht mehr sprechen kann.

Lückenhaftes Sozialsystem

Das Sozialsystem der Ukraine ist schlecht entwickelt. Es gibt praktisch keine Krankenversicherung. Operationen und Medikamente müssen von den Patient*innen selbst bezahlt werden. Ärzt*innen erhalten als Bezahlung für ihre Leistungen oft Naturalien. Die Lebenserwartung für Frauen in der Ukraine liegt sieben Jahre unter der in Deutschland, für Männer mehr als zehn Jahre. 1,7 Prozent der Bevölkerung waren 2008 mit dem HIV-Virus infiziert, das ist der höchste Wert in Europa. Die Rentenkasse ist defizitär und belastet den Staatshaushalt. Das Rentenniveau liegt bei Menschen, die die Mindestversicherungszeit erreichen bei circa vierzig Prozent des Mindestlohnes, im Jahr 2019 lag die Durchschnittsrente unter einhundert Euro. Aus der Sowjetzeit gibt es zwar ein breit gefächertes System an staatlichen Versorgungsleistungen. Etwa 73 Prozent der Menschen erhalten in irgendeiner Form Unterstützung, doch die Beträge sind gering,.

Krieg verschärft Armut

Das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine ist im Jahr 2022 um 29 Prozent gesunken. Die Inflation lag bei 26 Prozent, insbesondere die Preise für Lebensmittel und Treibstoff erhöhten sich dramatisch. Gleichzeitig gaben elf Prozent der Beschäftigten an, ihr Lohn sei um mehr als fünfzig Prozent gesunken, 17 Prozent gaben an, er sei um 25 bis 50 Prozent gesunken und 19 Prozent gaben an, er sei um 10 bis 25 Prozent gesunken. 15 Prozent der Ukrainer*innen gaben bei einer Umfrage im Februar und März 2023 an, sie haben nicht genug Geld, um Lebensmittel zu kaufen, weitere vierzig Prozent gaben an, sie haben nur genug für Lebensmittel und den Kauf einfacher, kleiner Dinge. Mehr als elf Millionen Menschen sind von Ernährungsunsicherheit betroffen, fast die Hälfte der Bevölkerung, nach Angaben des OCHA, des UN-Büros für humanitäre Angelegenheiten 17,7 Millionen Menschen, sind auf Hilfe für Schutz, Unterkunft und Ernährung angewiesen

Die „politische Klasse“ der Ukraine

Parteien werden in der Ukraine oft als Wahlplattformen gegründet. Massenparteien mit langer Tradition, Parteileben mit Ortsverbänden gibt es nicht. Politische Kontinuität wird eher über Namen und Persönlichkeiten hergestellt. Von den ehemaligen Ostblockstaaten hat die „politische Klasse“ des Landes die geringste Übereinstimmung und Identifikation mit der alten  stalinistischen Bürokratie. Dafür ist in keinem anderen Land der Anteil der Multimillionäre in der politischen Elite größer als in der Ukraine.

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