Vor 20 Jahren: 100.000 gegen die Agenda 2010

Von unten organisierte Massendemonstration hatte große Folgen

Am 1. November 2003 waren in Berlin 100.000 Menschen gegen die Agenda 2010 der rot-grünen Bundesregierung auf der Straße. Dies bildete den Ausgangspunkt für die Gründung der „Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit“ (WASG). Die damals einsetzende Entwicklung beinhaltet wichtige Lehren. Grund genug, sich die Ereignisse nochmal anzuschauen.

von Torsten Sting, Rostock

März 2003: Mit dem Namen „Agenda 2010“ versehen verordnet Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) den bisher weitestgehenden Abbau von sozialen Rechten in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Das Herzstück sind die sogenannten Hartz-Gesetze, es folgt eine radikale Neuordnung des Arbeitsmarktes.

Agenda 2010

Mit der Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe zum Arbeitslosengeld (ALG) II wurden Erwerbslose zum Freiwild, bisherige Schutzbestimmungen fast komplett geschliffen. Die beabsichtigte Konsequenz war, dass Millionen Menschen sich seither gezwungen sehen, jeden noch so schlecht bezahlten Job anzunehmen. Damit wurde das Fundament für den heutigen Niedriglohnsektor geschaffen.

Weitere zentrale Angriffe waren Erleichterungen zur Befristung von Arbeitsverträgen und die Lockerung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG). Mit Letzterem ist die massive Ausweitung der Leiharbeit verbunden. Die Folge: auf dem Höhepunkt etwa eine Million bei den „Seelenverkäufern“ Beschäftigte. Hinzu kamen Verschlechterungen im Gesundheitswesen, unter anderem die mittlerweile wieder abgeschaffte Praxisgebühr und massive Steuergeschenke für die Unternehmer.

Ziel der Agenda 2010 war es, die Position der deutschen Kapitalist*innen – zu Lasten der Arbeiter*innenklasse – auf den Weltmärkten zu stärken. Lange hatten die Herrschenden auf breiter Front für diesen „Befreiungsschlag“ getrommelt, um den Rückstand beim Senken der Lohn- und Sozialkosten gegenüber der Konkurrenz im Ausland aufzuholen.

Reaktionen

Die Banken und Konzerne waren aus dem Häuschen. Der ehemalige Präsident der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA), Dieter Hundt, schwärmte Jahre später: „Grundlegende Reformen waren unausweichlich. Sie verlangten Mut und Konsequenz. Dafür steht die Agenda 2010. Sie brachte die Wende zum Besseren. Besonders bedeutsam ist die damit geschaffene Flexibilität am Arbeitsmarkt, einhergehend mit funktionierender Sozialpartnerschaft und verantwortungsvoller Tarifpolitik. Das ist gelungen und hat Wirtschaft und Gesellschaft hierzulande neu geformt“ („Die Welt“ vom 14. März 2013).

Der DGB bezeichnete den Sozialkahlschlag in einer Stellungnahme als „sozial unausgewogen“. Eine Aussage, die angesichts der Ausmaße der Agenda 2010 einfach skandalös ist. Die oben skizzierten Beschlüsse zielten darauf ab, die Position der Gewerkschaften zu schwächen. Inzwischen hat der Bereich der prekären Beschäftigung Rekordwerte erreicht und die Kampfkraft der Beschäftigten weiter untergraben. Die Gewerkschaftsspitzen, größtenteils mit SPD-Parteibuch ausgestattet und der „Sicherung des Standortes Deutschland“ verpflichtet, fürchteten eher den Großkonflikt mit Schröder und den Bossen als die Schwächung ihrer eigenen Organisation.

An der Basis

Dies stand im Gegensatz zu den Reaktionen an der gewerkschaftlichen Basis und der sozialen Bewegungen. Viele Aktive verstanden, dass die Blockade der Spitzen durch eine Bewegung von unten durchbrochen werden musste. In vielen Orten bildeten sich Bündnisse von Gewerkschafter*innen, Erwerbslosen und sozialen Initiativen. Im Zuge dessen wurden viele Menschen zum ersten Mal in ihrem Leben politisch aktiv. Eine neue Bewegung entstand.

Diese vielen verstreuten Initiativen und ersten Demonstrationen machten eine Koordination und eine starke, zentrale Demonstration erforderlich, um den Druck auf die Herrschenden zu erhöhen beziehungsweise auch ein Signal an die Gewerkschaftsführung auszusenden, den Kampf gegen die Verarmungspolitik ernsthaft aufzunehmen. Deshalb sind wir, damals noch in der SAV organisiert, für eine bundesweite Demonstration in Berlin eingetreten und haben dafür massiv in Gewerkschaften und sozialen Bewegungen geworben. Dafür konnten wir bei der Gewerkschaftslinken, den Anti-Hartz-Initiativen und dem „Netzwerk für eine kämpferische und demokratische ver.di“ Unterstützung gewinnen und für die Durchführung einer Aktionskonferenz werben – auf der im August 2003 in Frankfurt am Main schließlich eine solche Demonstration für den 1. November in der Bundeshauptstadt beschlossen wurde.

Statt auf zentrale Beschlüsse des DGB zu warten, wurden von örtlichen Sozialbündnissen und gewerkschaftlichen Untergliederungen Busse organisiert. Am Ende stand ein großer Erfolg mit etwa 30.000 Teilnehmer*innen von außerhalb und 70.000 aus Berlin – 100.000 insgesamt!

Auf der Abschlusskundgebung sprachen unter anderem Bernd Riexinger (damals ver.di-Geschäftsführer von Stuttgart) und Rainer Roth (Sozialwissenschaftler), der in seiner Rede die DGB-Führung als „international nicht wettbewerbsfähig“ bezeichnete.

Die Sol-Vorläuferorganisation SAV sammelte an jenem Tag Unterschriften zur Unterstützung der Forderung nach einen eintägigen Generalstreik, organisiert durch die DGB-Gewerkschaften. Ein SAV-Mitglied eröffnete für das Demo-Bündnis die Auftaktkundgebung. Ein Genosse, der für das Kasseler Bündnis „Jugend gegen Sozialkahlschlag“ sprach (das im Vormonat einen Schülerstreik organisierte hatte), trat in seinem Beitrag für einen eintägigen Generalstreik gegen den Generalangriff ein.

Nach der Demo

Die Folgen des 1. November waren beträchtlich. Zum einen wuchs der Druck auf die Gewerkschaftsspitzen. Infolgedessen organisierte der DGB am 3. April 2004 Demonstrationen mit mehreren hunderttausend Menschen, die allerdings nur zum Dampfablassen gedacht waren. Es wurden keinerlei Vorschläge unterbreitet, wie man gegen die Agenda 2010 und die Offensive der Kapitalist*innen hätte kämpfen können.

Dabei lag es auf der Hand, dass dieser Generalangriff nicht nur mit Demonstrationen, sondern mit Streiks hätte bekämpft werden müssen. In vielen Betrieben gab es Angriffe auf die Arbeitsbedingungen und Entlassungen. Als dann im Herbst 2004 bei Opel Bochum eine Woche lang das Werk bestreikt wurde, roch es im Land nach Generalstreik.

Denn seit August gab es in vielen Städten, speziell in Ostdeutschland, große Demonstrationen, an denen sich insgesamt bis zu einer Million beteiligten und die Rücknahme der Agenda 2010 verlangten. Die Gewerkschaftsspitzen ignorierten auch diese Bewegung von unten bewusst. Welche Möglichkeiten es in der damals sehr zugespitzten Situation in Deutschland gab, zeigt die folgende Bemerkung des damaligen DGB-Vorsitzenden Michael Sommer: „Wäre das gleiche unter einer CDU-geführten Koalition passiert, wären die Proteste anders gewesen. (…) Wenn wir (…) die Montagsdemonstrationen begleitet hätten, würden wir jetzt in einem anderen Land leben. Das hätte eine andere soziale Dimension gehabt.“

Neuer politischer Ansatz

Angesichts der Weigerung der Gewerkschaftsspitzen zu kämpfen und des offenen Übergangs der Sozialdemokratie Richtung Neoliberalismus gab es einen Bruch bei Teilen der unteren Funktionär*innen, gerade in der IG Metall und bei ver.di, mit der SPD. Es stellte sich konkret die Frage einer neuen Partei für die Masse der abhängig Beschäftigten und sozial Benachteiligten. Wir hatten bereits seit Mitte der neunziger Jahre für den Aufbau einer neuen, breiten Arbeiter*innenpartei geworben, die unterschiedliche linke Strömungen, aktive Gewerkschafter*innen und Arbeiter*innen und Jugendliche, die auf der Suche nach einer politischen Interessenvertretung waren zusammen bringen sollte und ein Forum zur Organisierung von Widerstand und der Debatte über den besten Weg zum Sturz des Kapitalismus hätte sein sollen. Die Initiativen „Die Wahlalternative“ und „Arbeit und soziale Gerechtigkeit“, die von Gewerkschafter*innen, Aktiven aus der Erwerbslosenbewegung, ehemaligen SPD- und PDS-Mitgliedern gegründet worden waren, verschmolzen zur WASG (Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit). Wenige Jahre später wurde daraus durch eine Fusion mit der PDS die Partei DIE LINKE. Die Demonstration vom 1. November 2003, die maßgeblich auf unsere Initiative zurückging, war ein entscheidendes Ereignis, das diese weiteren Entwicklungen mit auslöste, denn sie zeigte unmissverständlich das Potenzial für den Widerstand gegen die neoliberale Politik der Schröder-Regierung.