„Vor jedem Termin im Jobcenter Angst“

Interview mit Dorit Hollasky zu Huberts Heils Repressionsplänen gegen Bürgergeldempfänger*innen

Dorit Hollasky betreut seit Jahren Menschen die Hartz IV und jetzt Bürgergeld beziehen. Sie ist Sprecherin der ver.di-Betriebsgruppe im Städtischen Klinikum und des Dresdner „Bündnis für Pflege“. Wir sprechen mit ihr über die Bilanz von einem Jahr Bürgergeld und die Pläne von Hubertus Heil (SPD) die Sanktionsschraube anzuziehen

Das Bürgergeld ist nun gut ein Jahr umgesetzt. Es wurde seinerzeit innerhalb der SPD als „größte sozialpolitische Reform der letzten zwanzig Jahre“ gefeiert. Wie bilanzierst Du die letzten zwälf Monate seit Inkrafttreten der Reform?


Wirklich gebessert hat sich leider wenig. Gut, man kann jetzt zwölf Monate in seiner Wohnung leben, ohne dass deren Angemessenheit geprüft wird. Die Miete wird also komplett von der Kommune übernommen, andererseits gab es auch schon beim Arbeitslosengeld II, also dem sogenannten „Hartz IV“ Übergangsfristen von bis zu sechs Monaten, in denen die Wohnung auch komplett bezahlt wurde. In der Praxis hat diese Regelung kaum eine Relevanz. Es wird permanent das Bild gemalt, als würden Bürgergeldbeziehende in Schlössern leben. Norbert Kleinwächter von der AfD hat im Bundestag ja sogar dieses Bild gemalt. Das Gegenteil ist der Fall: Die meisten Leistungsempfänger*innen wohnen eher bescheiden und müssen sich dafür auch noch ständig entschuldigen.



Aber immerhin gibt es deutlich mehr Geld. Der Regelsatz wurde um fünfzig Euro erhöht und soll 2024 nochmals um sechzig Euro steigen.


Das wird aber von der Inflation weitgehend wieder aufgefressen. Alle, die im Supermarkt einkaufen wissen ja eigentlich wie schnell fünfzig oder sechzig Euro wieder alle sind. Grundsätzlich hätte man übrigens den Regelsatz auch schon früher und ohne die Abschaffung von Hartz IV erhöhen können. Das Groteske ist, dass die Beibehaltung dieses armenfeindlichen Systems den Leistungsbeziehenden verglichen mit dem Bürgergeld sogar Vorteile gebracht hätte.



Welche denn?


Hartz IV war nach 17 Jahren durchgeklagt. Wenigstens ein paar der schlimmsten Ungerechtigkeiten konnte man so abstellen. Aber nun fangen wir vielfach wieder von vorn an.
Beispiel Sanktionen: Durch das Sanktionsmoratorium aufgrund der Pandemie waren die entwürdigenden Strafen, die Jobcenter gegen Leistungsbeziehende verhängen konnten vom Tisch, mit dem Bürgergeld kommen sie nach einer Karenzzeit durch die Hintertür wieder zurück.
Jetzt will Hubertus Heil von der SPD Menschen, die sich den Jobangeboten verweigern, für zwei Monate auf Null sanktionieren. Sie sollen keinen Cent mehr bekommen, wovon sollen die denn leben? In der Folge werden Stromabschaltungen und Zwangsräumungen noch weiter zunehmen.



Seiner Darstellung nach geht es lediglich um eine kleine Minderheit.


Aber wenn es nur um eine kleine Minderheit geht, dann stellt sich die Frage, weshalb man überhaupt zum Dampfhammer der Leistungsstreichung greifen will. Angeblich war ja mit Einführung des Bürgergelds der Vermittlungsvorrang abgeschafft worden. Es sollte also gerade nicht mehr darum gehen um jeden Preis jede nur erdenkliche Arbeit anzunehmen. Viel mehr sollte es um Qualifizierung gehen. Das war schon als es ausgesprochen wurde wenig glaubhaft, denn dazu hätte man die Jobcenter mit mehr Geld und vor allem wesentlich mehr eigens geschultem Personal ausstatten müssen, was aber unterblieb.
Diese volle Streichung übrigens gab es auch schon beim Arbeitslosengeld II. Damals haben das Aktivist*innen weg geklagt bekommen. Kaum ist das Bürgergeld da, was angeblich alles besser machen sollte, da haben wir wieder die zweimonatige Leistungskürzung auf Null.
Das Interessante ist ja, dass die Koalition sich zuerst auf Einsparmaßnahmen beim Bürgergeld von 250 Millionen Euro geeinigt hat und Heil erst danach mit seinem Vorschlag um die Ecke kam. Es geht nicht um Verweigerung oder Erziehung oder was auch immer, sondern darum Haushaltslöcher zu stopfen und statt sich das Geld bei Reichen und Superreichen zu holen, an die man sich nicht ran traut, spart man eben auch bei Bürgergeldempfänger*innen.



Was werden die Auswirkungen sein?


Die Leistungsbeziehenden wird das noch mehr einschüchtern und verängstigen. Schon jetzt begleite ich Menschen, die vor jedem Termin auf dem Jobcenter Angst haben. Zum Anderen wird der Druck auf reguläre Arbeitsverhältnisse wachsen. So war es auch bei der Einführung von Hartz IV: Die Kolleg*innen, die noch Arbeit haben, fürchten diese zu verlieren, wenn sie nicht Lohn- und Gehaltsverzicht zustimmen. Im Grund ist das, was Heil mit Lob durch FDP und CDU/CSU jetzt plant, also ein Angriff auf uns alle.
Noch schlimmer wäre da dann nur die AfD, die ja will, dass Leistungsbeziehende zu allen Arbeiten herangezogen werden können. Sie nennt dieses Modell des Arbeitszwangs „aktivierende Grundsicherung“. Sollte sie sich damit durchsetzen, steht die Frage, weshalb Unternehmer überhaupt noch Menschen beschäftigten sollten, die tariflich bezahlt werden. Dass die AfD arbeiter*innenfeindlich ist, beweist sich auch mit ihren fortgesetzten Angriffen auf Bürgergeldempfänger*innen.


Die AfD meint ja auch, das Bürgergeld würde Asylsuchende in Scharen nach Deutschland locken.


Mit diesem Argument steht sie inzwischen auch nicht mehr allein da. Wolfgang Kubicki von der FDP faselte unlängst etwas daher: 62 Prozent der Leistungsbeziehenden hätten Migrationshintergrund. Die AfD greift das dann dankend auf. Nicht zuletzt das der AfD nahestehende „Compact“-Magazin bringt das brühwarm.


Stimmt die Zahl etwa nicht?


Man muss genau hinsehen. Von allen Menschen mit Migrationshintergrund beziehen ganze 14 Prozent Bürgergeld. Von denen befinden sich wiederum zwei Drittel in Arbeitsverhältnissen, werden aber derart schlecht bezahlt, dass sie zusätzlich Bürgergeld beziehen, um über die Runden zu kommen. Der eigentliche Skandal ist also, dass Unternehmer ihren Beschäftigten derart schlechte Löhne zahlten, dass sie davon kaum leben können. Das passiert überdurchschnittlich häufig bei Kolleg*innen, die Migrationshintergrund haben, weil deren Status eben besonders schlecht und ihr gewerkschaftlicher Organisationsgrad oftmals eher niedrig ist. Aber über diesen Skandal redet niemand.
Bei Bürgergeldbeziehenden ohne Migrationshintergrund sieht es übrigens nicht wesentlich anders aus.


Was bedeutet das nun?


Zunächst mal, dass nicht die Leistungsbeziehenden das Problem sind, sondern der Kapitalismus, der einige enorm reich und andere arm macht, selbst wenn sie arbeiten gehen. Insofern müssen wir Plänen nach Leistungskürzungen und Sanktionierungen unbedingt entgegentreten. Wir müssen Kolleg*innen mit Migrationshintergrund verstärkt gewerkschaftlich organisieren und gemeinsam kämpfen. Gerade Gewerkschaften müssten den Plänen von Hubertus Heil eine Kampagne entgegensetzen.
Deutschland ist das viertreichste Land der Erde und dass in Zukunft Menschen nach dem Willen von Hubertus Heil für zwei Monate kein Geld mehr erhalten sollen ist nicht nur objektiv unnötig, sondern auch enorm beschämend.

Eine soziale Mindestsicherung von 900 Euro plus Warmmiete verlangt die Sol für jede*n Erwachsene*n und ich denke, dass das bezahlbar und für die betroffenen notwendig wäre.
Das Privatvermögen in Deutschland beträgt sagenhafte 13 Billionen Euro. Die reichsten zehn Prozent besitzen zwei Drittel davon und die ärmsten zehn Prozent haben gar nichts oder Schulden. Nicht, weil sie so gern so viel online bestellen, sondern, weil sie in der letzten Woche im Monat kein Geld mehr übrig haben und das Konto überziehen. Soll sich etwas ändern, muss man an diese Ungerechtigkeit ran. Das wollen aber weder die Bundesregierung, noch die CDU/CSU und schon gar nicht die AfD.
Wir könnten Arbeitszeiten bei vollem Lohn- und Personalausgleich radikal verkürzen und die anfallenden Tätigkeiten dann gleich verteilen. Dazu müssten wir aber im Besitz der großen Unternehmen und Banken sein und sie müssten demokratisch verwaltet werden. Im Kapitalismus ist das undenkbar, also bräuchten wir eine sozialistische Demokratie.


Hört sich nach einem sehr umfangreichen Programm an?


Mag sein, aber anders sehe ich da wenig Möglichkeiten etwas Grundlegendes zu ändern. Sollte die AfD 2024 durch Wahlsiege noch mehr Land gewinnen, wird es noch schlimmer. Siehe Raguhn-Jessnitz in Sachsen-Anhalt, wo Eltern demnächst mehr für die KITA zu zahlen haben, obwohl der AfD-Oberbürgermeister vor seiner Wahl immer davon sprach die KITA-Beiträge müssten auf Null gesenkt werden. Beim Bürgergeld gibt sich die AfD gar nicht mehr die Mühe sich irgendwie sozial darzustellen.
Wir müssen den Menschen also eine grundlegende Alternative zu einem System anbieten, in dem Rüstung immer geht und die Bundeswehr mehr Geld bekommen soll, während die Sozialausgaben gekürzt werden; in dem Reiche reicher und Arme ärmer werden.

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