Eine marxistische Interpretation der jüdischen Geschichte
Vorbemerkung: Wir veröffentlichen hier einen Artikel aus dem Jahr 2016, der an Aktualität nichts verloren hat:
Als im vergangenen Winter die Pegida-Demonstrationen in Dresden bundesweite Aufmerksamkeit bekamen und diverse Gestalten am rechten Rand versuchten, sie nachzuahmen, war häufig vom Abendland die Rede. Meist vom christlichen, immer wieder wurde dabei aber auch ein christlich-jüdisches Abendland beschworen – auch aus den Reihen der etablierten Parteien. Angesichts der tatsächlichen Geschichte des Abendlands ist dieser Begriff eine Frechheit. Wie sah die wirkliche Geschichte aus? Und welche Motive stecken hinter dem Märchen vom christlich-jüdischen Abendland?
Von Wolfram Klein
Abraham Léon begann seine klassische marxistische Untersuchung über die „jüdische Frage“ mit den Sätzen: „Die wissenschaftliche Untersuchung der jüdischen Geschichte hat das Stadium idealistischer Improvisation noch nicht hinter sich gelassen. Während das Gebiet der allgemeinen Geschichte weithin von der materialistischen Konzeption erobert wurde, während die ernstzunehmenden Historiker beherzt den von Marx eingeschlagenen Weg weitergingen, blieb die jüdische Geschichte das Lieblingsterrain von Gottessuchern aller Art als eines der sehr wenigen historischen Gebiete, in dem es den idealistischen Vorurteilen gelang, sich so weitgehend durchzusetzen und zu erhalten.“
Viel weiter ist die Erforschung der Geschichte des Judentums und des Antisemitismus bis heute nicht gekommen. Bei der Erklärung der Verfolgungen der JüdInnen dominieren religiöse „Gründe“, der Unterschied zwischen dem jüdischen Monotheismus und dem Polytheismus anderer antiker Völker, der Abgrenzungsversuch des Christentums vom Judentum, aus dem es entstanden ist.
Auch wenn diese ideologischen Interpretationen nichts erklären, so widerlegen schon die ihnen zugrunde liegenden Fakten völlig jedes Märchen von einem harmonischen Zusammenleben von ChristInnen und JüdInnen in der abendländischen Geschichte.
Aber MarxistInnen haben es nicht nötig, dabei stehen zu bleiben. Wie Léon schilderte, entwickelten sich die JüdInnen in der Antike schon Jahrhunderte vor der Zerstörung des jüdischen Staats durch die Römer zu einem Händlervolk, bedingt durch die geographische Lage an der Handelsroute zwischen dem Niltal und dem Zweistromland. Schon zur Zeit der Zerstörung des antiken jüdischen Staates lebten rund drei Viertel der JüdInnen „zerstreut in alle Himmelsrichtungen“.
Léon bezeichnete die sich entwickelnde Stellung des Judentums als „Volksklasse“. Da in der überwiegend landwirtschaftlich, mehr oder weniger naturalwirtschaftlich geprägten Wirtschaft Handel und Geldgeschäfte ein Fremdkörper waren, aber zugleich ein für das Funktionieren der Gesellschaft notwendiger Fremdkörper, wurden sie zur Aufgabe einer bestimmten vom Rest der Bevölkerung abgegrenzten Bevölkerungsgruppe. Die Juden, die in anderen Berufen tätig waren, konvertierten nach und nach zum Christentum (oder, je nach Region, Islam etc.), während die in Handel und Geldgeschäften (einschließlich der staatlichen Finanzen) Tätigen beim Judentum blieben oder erst zu ihm konvertierten. (Daher war auch die neuzeitliche antisemitische Vorstellung einer „jüdischen Rasse“ hochgradig albern – zur Unterscheidung zwischen dem mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Judenhass, der hier wie häufig in der Literatur als Antijudaismus bezeichnet wird, und dem modernen Antisemitismus seit dem 19. Jahrhundert siehe unten.)
Léon erwähnte, dass eine solche „Volksklasse“ keineswegs einmalig war, tatsächlich könnte man viele ähnliche Beispiele von Handel treibenden ethnisch-religiösen Minderheiten in anderen agrarisch geprägten Ländern aufführen: Griechen und Armenier im osmanischen Reich, Inder in Ostafrika, Parsen (aus Persien stammende Anhänger des Zoroaster/Zarathustra) in Indien, tamilische Muslime auf Sri Lanka, Chinesen in Südostasien usw.
Das christlich-ANTIjüdische Abendland
Die relativ günstige Stellung der JüdInnen im frühmittelalterlichen Abendland beruhte also darauf, dass sie eben nicht zum „christlichen Abendland“ dazu gehörten, sondern ein Fremdkörper waren, die Verbindung des nach dem Untergang Roms in ein dunkles Zeitalter versunkenen Europas zur Zivilisation des „Morgenlands“.
Seit dem elften Jahrhundert begann das „christliche Abendland“ wieder, eigene Kontakte zum Orient herzustellen, deren brutalster Ausdruck die Kreuzzüge waren. In den folgenden Jahrhunderten wurden die Juden zunehmend aus dem Handel verdrängt, in dem Christen, besonders Lombarden aus Norditalien, bald die dominierende Rolle spielten. Zunehmend wurden reine Geldgeschäfte zur jüdischen Domäne, der Geldverleih sowohl an den über seine Verhältnisse lebenden Adel als auch an die Masse der der Bevölkerung (Bauern und Handwerker). Die Könige und Fürsten schützten die JüdInnen lange Zeit, weil sie eine wichtige Geldquelle für sie darstellten. Dieser Schutz war aber mit heftigen Verfolgungen verbunden, die Extraeinnahmen ermöglichten. Wenn JüdInnen unter Vorwänden gefangen genommen wurden, mussten sie für ihre Freilassung hohe Beträge zahlen, wenn sie aus dem Land gejagt wurden, konnte man sich ihr Vermögen unter den Nagel reißen, wenn sie nach ein paar Jahren zurückkehren durften, waren dafür erneut hohe Zahlungen fällig.
Auch wenn ein Großteil der antijüdischen Verleumdungen in religiösen Begriffen erfolgte, steckten doch materielle Interessen dahinter, egal ob die Täter sich dessen bewusst waren oder so fanatisiert waren, dass sie selbst daran glaubten. Sonst wäre schwer verständlich, warum die angebliche Schuld der JüdInnne an der Kreuzigung Christi tausend Jahre lang für die Erben der angeblichen Täter wenig Folgen hätte, während in späteren Jahrhunderten jedes Passionsspiel in einem Pogrom ausarten konnte. (Ebenso wenig plausibel ist die Erklärung, da das Christentum aus dem Judentum entstanden ist, habe es sich von ihm abgrenzen müssen. Warum war dieses Abgrenzungsbedürfnis über tausend Jahre nach der Verwandlung des Christentums aus einer jüdischen Sekte in eine eigenständige Religion so viel größer als zur Zeit seiner Entstehung?)
Bekanntlich wurde schon der erste Kreuzzug 1096 von einer Reihe schrecklicher Judenpogrome in Ostfrankreich, im Rheintal und anderswo begleitet. Sie läuteten Jahrhunderte furchtbarer Verfolgungen ein, aus Westeuropa wurden die JüdInnen ganz vertrieben, in den territorial zersplitterten Ländern Deutschland und Italien gab es immer wieder örtliche Vertreibungen.
Da von antideutscher Seite immer wieder antikapitalistische Ideen in die Nähe des Antisemitismus gerückt werden, ist festzuhalten, dass die Vorstellung einer besonderen Verbindung des Judentums mit dem Kapitalismus selbst antisemitisch ist. Tatsächlich war die Entstehung des Kapitalismus in Europa seit dem hohen Mittelalter mit einer Verdrängung der Juden in die Randbereiche der Geldwirtschaft verbunden. Da Juden nicht damit rechnen konnten, dass ihre Schuldner ihr Geld zurückzahlen, waren sie oft Pfandleiher. Am anderen Rand waren Hofjuden, Financiers etc., die große fragwürdige Geschäfte machten, oft als Strohmänner von christlichen Reichen und Mächtigen, die sich die Hände nicht selbst schmutzig machen wollten.
Ihre Stellung war eine Folge des Judenhasses. Da ihnen jegliche Ehre abgesprochen wurde, konnten sie Geschäfte machen (und mussten sie machen, um zu überleben) mit denen andere ihre Ehre verloren hätten. Sie hatten nichts mehr zu verlieren. Die Juden waren anders als im frühen Mittelalter in West- und Mitteleuropa) keine Volksklasse mehr (anders war es im rückständigeren Osteuropa, in Polen etc.), die Stellung der Juden war inzwischen eine Folge des Judenhasses (und bildete mit ihm quasi einen Teufelskreis) und nicht umgekehrt. (Genau diese Stellung am Rande des entstehenden Kapitalismus trug dazu bei, dass die Gesellschaftsschichten, die nur am Rande mit dem Kapitalismus zu tun hatten – in Form von Wucherern, Pfandleihern etc. – dazu neigten, sie mit „den Juden“ zu identifizieren. Deshalb unterschied sich der antijüdische „Antikapitalismus“ von vom Kapitalismus zersetzten vorkapitalistischen Gesellschaftsschichten grundlegend vom wirklichen Antikapitalismus der Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung, die selbst Produkte des Kapitalismus sind.)
Jahrhundertelang war der Kapitalismus statt jüdisch vielmehr zutiefst antijüdisch und es ist kein Wunder, dass in Europa, der Entstehungsregion des Kapitalismus, der Judenhass viel bestialischere Formen annahm als in anderen Regionen (oder auch die Vorurteile gegen andere „Volksklassen“ in diesen Regionen).
Dämonisierung des Judentums
In der „Kultur“, die uns jetzt als christlich-jüdisches Abendland verkauft wird, fand damals eine unbeschreibliche Dämonisierung des Judentums statt, wobei es zweitrangig war, ob in den betreffenden Ländern die JüdInnen vertrieben worden waren oder ob die Bevölkerung JüdInnen aus eigener Anschauung kannte. Schon damals hatte Judenhass nichts damit zu tun, wie „die Juden“ wirklich „waren“. So kamen immer wieder Beschuldigungen auf, Juden würden christliche Kinder ermorden, um deren Blut für die Bereitung der Matze (des „ungesäuerten Brots“) für das Pessachfest zu verwenden (obwohl die jüdische Religion den Konsum selbst von Tierblut strikt verbietet). Verbreitet waren Vorwürfe der Hostienschändung (die angebliche Schändung des angeblichen „Leib Christi“ sollte die angebliche Schuld an der Kreuzigung Christi in die Gegenwart fortsetzen). Seit der schrecklichen Pest von 1348-50 waren Brunnenvergiftungsvorwürfe sehr verbreitet, obwohl in den von der Pest betroffenen Regionen auch JüdInnen der Seuche zum Opfer fielen. Noch absurder war die Vorstellung einer Verschwörung von Ketzern, Hexen und JüdInnen unter Leitung des Teufels gegen die Christenheit.
Neben diesem Judenhass in religiösen Begriffen (weil das Denken sich damals in religiösen Begriffen vollzog) kamen die direkter aus den wirtschaftlichen Interessengegensätzen sich ergebenden Vorwürfe, in denen die Volksmassen den Knüppel verfluchten, mit dem die herrschenden Klassen sie wirtschaftlich peinigten. Und die religiösen Diffamierungen halfen dabei, dass der Hass sich auf den Knüppel richtete und nicht auf die, die den Knüppel schwangen.
Martin Luther hatte erst die Hoffnung, seine Reformation der Kirche werde dazu führen, dass die JüdInnen sich taufen ließen. Als das nicht geschah und er selbst sich aus einem Rebellen in einen Fürstendiener verwandelte, verfolgte er nicht nur die aufständischen Bauern von 1525 und radikalere Reformatoren, sondern auch die JüdInnen mit wütendem Hass. In seiner kräftigen Sprache fasste er in mehreren Schriften die gängigen religiösen und wirtschaftlichen Anschuldigungen gegen „die Juden“ zusammen. Sie waren für ihn „junge Teufel, zur Hölle verdammt“. Selbstverständlich war für ihn, dass sie nicht ins „Abendland“ gehörten.
Gegenbeispiel
Allerdings gab es eine Region im mittelalterlichen Europa, bei der man von einer christlich-jüdischen Synthese, einer gemeinsamen kulturellen Blüte sprechen konnte. Die Region lag sogar ganz Richtung Sonnenuntergang, war also nicht nur Abendland sondern sozusagen Spätabendland. Der Haken an der Sache: es war keine Zweier-, sondern eine Dreierbeziehung … nämlich die iberische Halbinsel während der islamischen Herrschaft, die die meiste Zeit durch ein hohes Maß an religiöser Toleranz geprägt war. Dort konnte man von einem islamisch-jüdisch-christlichen Abendland sprechen.
Überhaupt unterschieden sich die islamischen Länder jahrhundertelang bezüglich religiöser Toleranz positiv vom christlichen Abendland. Zumindest die AnhängerInnen der christlichen und jüdischen Offenbarungsreligionen mussten zwar besondere Steuern zahlen und unterlagen diversen Einschränkungen, lebten aber ansonsten die meiste Zeit in Sicherheit. Sie galten als „dhimmi“ (Schutzbefohlene). Sie wurden zwar herablassend behandelt oder gar verachtet, dienten gelegentlich als Opfer, an denen der Pöbel seinen Frust abreagieren konnte, aber eine Dämonisierung des Judentums gab es nicht, bis mit dem europäischen Kapitalismus und der europäischen Kolonialherrschaft auch solcher Ideenmüll seinen Einzug nahm.
Die Neuzeit
In Europa hatte also die Herausbildung des Kapitalismus die Stellung der JüdInnen als Volksklasse zerstört, aber zugleich durch den Antijudaismus die JüdInnen in einer gesellschaftlichen Stellung festgebannt, die ihr Aufgehen in der Gesellschaft verhinderte.
Da der christliche Antijudaismus überwiegend religiös argumentierte (auch wenn Anschuldigungen bezüglich Wucher etc. auch eine Rolle spielten), wurde er durch die Religionskritik der Aufklärung mit in Frage gestellt. Auch das war nicht ohne Widersprüche. Ein Voltaire konnte Plädoyers für Toleranz mit antijüdischen Vorurteilen verbinden. Oft wurden Angriffe auf die jüdische Religion genutzt, um das Christentum zu treffen, ohne Ärger mit der Zensur zu kriegen. Aber insgesamt war unter dem Einfluss der Aufklärung die Tendenz zur Verwandlung des Judentums in eine bloße Religionsgemeinschaft vorherrschend. Andere gingen noch weiter und vollzogen die Taufe als „Entréebillet [Eintrittskarte] in die europäische Kultur“ (Heinrich Heine). Die Französische Revolution ab 1789 und in ihrem Gefolge viele andere Länder schafften diskriminierende Gesetze ab. Je weniger christlich das Abendland wurde, desto weniger antijüdisch wurde es.
Dagegen war das Christentum in seinen Abwehrkämpfen gegen die Aufklärung, gegen die Errungenschaften der Französischen Revolution und dann später gegen die sozialistische Arbeiterbewegung und ab 1917 gegen die russische Oktoberrevolution ein Bollwerk des Judenhasses. Seit dem 19. Jahrhundert entstand der moderne Antisemitismus, der sich von der mit dem wissenschaftlichen Denken des 19. Jahrhunderts fragwürdig gewordenen religiösen Begründung des Judenhasses abgrenzte. Den „wissenschaftlichen“ Anspruch sollte der neue Begriff „Antisemitismus“ dokumentieren. Wie weit es damit her war, zeigt sich schon daran, dass die meisten JüdInnen damals, abgesehen vom Gottesdienst, keine semitische Sprache (Hebräisch, Aramäisch, Arabisch etc.) sprachen, sondern das aus dem Mittelhochdeutschen entstandene Jiddisch oder einfach die Sprachen ihrer jeweiligen Länder. Die Bezeichnung machte zugleich deutlich, dass die JüdInnen nicht als Teil des „Abendlandes“ akzeptiert wurden, sondern als Menschen aus dem Orient betrachtet wurden.
Diese rassistische Begründung des Judenhasses konnte an das Spanien der Inquisition anknüpfen, wo die zwangsbekehrten JüdInnen (Marranen) verdächtigt wurden, heimlich ihrem alten Glauben treu geblieben zu sein. Es entstand ein Kult des „reinen Blutes“ der SpanierInnen ohne jüdische (oder muslimische) Vorfahren.
Die Anschuldigungen gegen die JüdInnen wurden wenig verändert, nur wurden sie nicht mehr auf ihre angeblich falsche Religion, sondern auf ihre angeblich minderwertige – oder genauer: zugleich minderwertige und überlegene – „Rasse“ zurückgeführt. Die jahrhundertealten wirtschaftlichen Vorwürfe wurden aufgewärmt, die jüdischen Familien, die als Strohmänner reicher und mächtiger Christen selbst zu Geld gekommen waren und eine Rolle in Wirtschaft, Medien etc. spielten, wurden aufgebauscht.
Auf diese Weise wurde der Kapitalismus in „gute“ und „schlechte“ Aspekte, z.B. „schaffendes“ und „raffendes“ Kapital aufgeteilt … und natürlich letzteres mit „den Juden“ identifiziert. Zugleich wurden „die Juden“ weiterhin als Fremdkörper dargestellt, der nicht zur nationalen Gemeinschaft gehört. So wurde die Klassengesellschaft zu einer harmonischen nationalen Gemeinschaft (aus ArbeiterInnen und „schaffendem Kapital“) schöngelogen, in der nur der Fremdkörper des jüdischen raffenden Kapitals zu Verwerfungen führte.
Tatsächlich verschmolzen der alte christlich-abendländische Antijudaismus und der moderne Antisemitismus. Religiöse und pseudowissenschaftliche Begründungen der Anschuldigungen gingen oft wie Kraut und Rüben durcheinander. Das gipfelte in der Mitwirkung beträchtlicher Teile der Kirchen in Nazi-Deutschland und den von Deutschland besetzten Ländern an der Shoah (Holocaust).
Rechtspopulistische „Freunde Israels“
Angesichts der antisemitischen Traditionen des europäischen Rechtsradikalismus und Rechtspopulismus erregten in den letzten Jahren Versuche Aufmerksamkeit, eine positive Einstellung zum Staat Israel zu etablieren. Zum Beispiel gab es vom 6. bis 8. Dezember 2010 eine internationale Delegationsreise nach Israel, an der H. C. Strache (Parteivorsitzender der FPÖ, Österreich), Filip Dewinter (Parteivorsitzender des Vlaams Belang, Belgien), Kent Ekeroth (Schwedendemokraten) und René Stadtkewitz von der damals frisch gegründeten islamfeindlichen deutschen Partei „Die Freiheit“ teilnahmen.
Strache versuchte damals gewissermaßen auch die antisemitischen Traditionen der FPÖ zu bedienen, indem er in der Gedenkstätte Yad Vaschem statt einer jüdischen Kippa oder einer neutralen Kopfbedeckung die Kappe einer deutschnationalen schlagenden Verbindung trug. Inzwischen hat die FPÖ den Drahtseilakt aufgegeben und sich auf eine proisraelische Haltung festgelegt. Bei weiteren Delegationsreisen nahm auch „Pro NRW“ teil. Auf dem Programm standen meist Treffen mit rechten israelischen Politikern und der Besuch von Siedlungen im Westjordanland. Am 4. April 2011 veranstaltete Pro NRW eine „deutsch-israelische Konferenz“ mit einem ähnlichen Teilnehmerkreis.
Nach dem Wahlerfolg der Likud-Partei und von Ministerpräsident Netanjahu in Israel im März 2015 veröffentlichte das US-Magazin Newsweek Stimmen von verschiedenen europäischen rechtspopulistischen Parteien, die sich erfreut darüber äußerten, von Geert Wilders aus den Niederlanden (einem Pionier der proisraelischen Einstellung in der rechtspopulistischen Ecke) über Strache hin zu Vertretern von Vlaams Belang, Schwedendemokraten, Lega Nord (Italien) und Front National (Frankreich). Newsweek spekulierte, dass, nachdem Gesprächspartner in Israel bisher kleine rechte Gruppen etc. waren, die Rechtspopulisten in Zukunft auch von Netanjahu und der Regierung als Gesprächspartner akzeptiert werden könnten.
Motive
In den Medien werden für die neue Haltung gegenüber Israel vor allem zwei Gründe vermutet. Auf der einen Seite versuchen rechtspopulistische Kräfte weiter aus der rechtsextremen Schmuddelecke herauszukommen. Umfragen zeigen ein beträchtliches Wählerpotenzial zum Beispiel für islamophobe Ideen, während alles, was mit Faschismus und offenem Antisemitismus verbunden wird, für die meisten abschreckend wirkt. Auf der anderen Seite handeln sie nach dem Prinzip: der Feind meines Feindes muss mein Freund sein. Sie kämpfen gegen eine angebliche Islamisierung und attestieren dem israelischen Staat denselben Kampf.
Es ist nicht überraschend, dass dieser Vereinnahmungsversuch bei den meisten übrigen „Freunden Israels“ zu heftigen Protesten geführt hat. Aber bei der Verwunderung bis Empörung über die Rechtspopulisten von heute wird vergessen, dass sie nur mit einigen Jahrzehnten Verspätung das machen, was christliche und andere bürgerliche Antisemiten (also der Großteil der bürgerlichen Gesellschaft nicht nur in Deutschland) unmittelbar nach 1945 machten.
Ein Grund für die große Verwunderung über die rechtspopulistischen Israelsympathien ist, dass trotz der rechten Politik der israelischen Regierungen, trotz der Politik in den besetzten Palästinensergebieten, trotz der Kriege der letzten Jahre der Zionismus und der Staat Israel bei vielen Linken (und nicht nur bei unverbesserlichen Antideutschen) immer noch ein positives Image haben. Schließlich begann der Zionismus als eine Bewegung der vom Antisemitismus verfolgten JüdInnen, in ihm dominierte bald ein linker, sich auf die Arbeiterbewegung und den Sozialismus berufender Flügel, die Kibbuz-Bewegung wurde von vielen Linken als sozialistisches Experiment verherrlicht.
Diese rosige Sicht unterschlug, dass der Zionismus von Anfang an sein Ziel eines jüdischen Staats in Zusammenarbeit mit den Herrschenden erreichen wollte und dabei bei der Wahl seiner Partner gar nicht wählerisch war, ob es der Sultan des osmanischen Reiches, der deutsche Kaiser, der britische Premierminister oder arabische Großgrundbesitzer waren … jeder war als Verbündeter willkommen – nur die arabischen BäuerInnen in Palästina nicht, schließlich sollte ihnen das Land weggenommen werden, das zur jüdischen Heimstätte werden sollte.
Bekanntlich haben die Zionisten 1917 die britische Regierung für ihre Pläne gewonnen – und nicht nur, weil Außenminister Balfour ein frommer Christ war, der die Ortsnamen in Palästina seit seiner Kindheit aus der Bibel kannte, sondern auch, weil er ein Antisemit war, der die Schauermärchen glaubte, dass „die Juden“ hinter der Februarrevolution 1917 steckten und so mächtige Leute als Verbündete im Weltkrieg gewinnen wollte.
Es folgte nicht nur die Oktoberrevolution, sondern auch revolutionäre Bewegungen in vielen Ländern Europas und Asiens. Für den britischen Imperialismus, der nach der Niederlage des osmanischen Reichs arabische Gebiete von Palästina bis zum Irak als „Mandatsgebiet“ (eine schönfärberische Bezeichnung für Kolonie) bekommen hatte, war der Zionismus eine willkommene konterrevolutionäre Kraft gegen die arabischen revolutionären Bewegungen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der britische Imperialismus sich damals zugleich im Nahen Osten auf den Zionismus und im russischen Bürgerkrieg auf die widerlichsten antisemitischen Schlächterbanden in der Ukraine stützte, das eine Mal ging es gegen die arabische antikoloniale Revolution, das andere Mal gegen die sozialistische Arbeiterrevolution. Der Zionismus ist seit hundert Jahren ein Bollwerk imperialistischer Interessen im Nahen Osten, erst Englands (und Frankreichs), dann der USA. Dass die Sowjetunion unter Stalin 1948 die Gründung Israels unterstützte und in dem auf sie folgenden Krieg gegen die arabischen Nachbarländer Israels wichtiger Verbündeter war, ist richtig. Es ist aber kein Argument für den israelischen Staat, sondern Zeugnis für den Zynismus von Stalins Außenpolitik.
Neben dem Feindbild Islam sind diese imperialistischen Interessen der Grund für die Sympathien nicht nur von bürgerlichen Politikern, sondern neuerdings eben auch von Rechtspopulisten für den Staat Israel. So wie sich die Reichen und Mächtigen in der frühen Neuzeit für ihre kapitalistischen Geschäfte oft hinter jüdischen Strohmännern versteckten (die dabei natürlich nach Kräften ihre eigenen Interessen zu wahren versuchten), so verstecken sich diese Politiker hinter dem Strohmann Israel. Die unaufgeklärten Bauern und Handwerker der Frühen Neuzeit konnten dieses Manöver kaum durchschauen, wir heute haben keine Entschuldigung, wenn wir diesem Trick auf den Leim gehen. Wenn damals die Operation schief ging, fiel ihr der Strohmann und vielleicht seine Familie zum Opfer, schlimm genug.
Aber Israel ist ein Land mit über acht Millionen Menschen, die besseres verdient haben als Imperialisten und Islamhassern (aus dem eigenen Land oder dem „Abendland“) als Kanonenfutter zu dienen. Deshalb darf Ablehnung der imperialistischen Rolle des Staates Israels in der Region nicht Ablehnung des Selbstbestimmungsrechtes der mehrheitlich jüdischen Bevölkerung Israels bedeuten. Deshalb wir, ebenso wie SozialistInnen in Israel/Palästina für ein unabhängiges sozialistisches Palästina neben einem sozialistischen Israel als Teil einer freiwilligen sozialistischen Föderation der Region ein.
Ebenso kann der Umstand, dass momentan in rechten Kreisen Islamhass den Judenhass in den Hintergrund drängt, für uns kein Grund sein, den kompromisslosen Kampf gegen Antisemitismus aufzuweichen. Ob Antisemitismus in Zukunft stärker oder schwächer wird, hängt auch von unserem Kampf gegen ihn und dem Klassenkampf allgemein ab. Aber egal, ob er stark oder schwach ist: solange es Antisemitismus gibt, ist er eine Bedrohung für jüdische Menschen und (wie jede Teile-und-Herrsche-Ideologie) ein Hindernis beim gemeinsamen Klassenkampf. Speziell der Antisemitismus als Versuch, die Widersprüche des Kapitalismus wegzufantasieren und „den Juden“ in die Schuhe zu schieben, ist darüber hinaus ein Hindernis bei einem wirksamen Kampf gegen den Kapitalismus.