Von Leo Trotzki
Leider hat niemand erzählt, wie Lenin die Schule Marxens absolvierte. Nur einzelne äußerliche Eindrücke haben sich erhalten, und auch die sind sehr dürftig. „Ganze Tage“, schreibt Jassnewa, „saß er über Marx, machte Konspekte, Auszüge, Notizen. Dann konnte man ihn nur schwer von der Arbeit losreißen.“ Seine Konspekte des Kapital sind uns nicht erhalten geblieben. Nur gestützt auf seine Arbeitshefte späterer Jahre kann man die Arbeit des jungen Athleten an Marx rekonstruieren. Schon seine Gymnasialaufsätze begann Wladimir unweigerlich mit einem durchgearbeiteten Plan, um ihn dann nach und nach mit Argumenten und Zitaten auszustatten. In dieser Arbeitsmethode kam jene Eigenschaft zum Ausdruck, die Ferdinand Lassalle treffend „physische Kraft des Denkens“ nannte. Auch das Studium beinhaltet, wenn es nicht mechanisches Büffeln ist, einen schöpferischen Akt, aber umgekehrter Art. Das Konspektieren des Buches eines anderen ist die Bloßlegung seines logischen Skeletts, das der Argumente, Illustrationen und Abschweifungen entkleidet wird. Wladimir bewegte sich auf seinem schweren Weg mit freudiger Intensität vorwärts, konspektierte jedes gelesene Kapitel, manchmal jede Seite, und überdachte und überprüfte dabei die logische Struktur, die dialektischen Übergänge, die Termini. Während er sich das Resultat aneignete, assimilierte er die Methode. Er schritt die Stufen eines fremden Systems empor, als errichtete er sie von neuem. Alles wurde fest und sicher gelagert in diesem wunderbar organisierten Kopf mit der mächtigen Kuppel des Schädels.
Tiefe Überzeugung
An der russischen politökonomischen Terminologie, die er sich in der Samarer Periode angeeignet oder ausgearbeitet hatte, hielt Lenin sein ganzes übriges Leben lang fest. Und nicht nur aus Hartnäckigkeit – obwohl ihm intellektuelle Hartnäckigkeit im höchsten Maße eigen war –, sondern deshalb, weil er schon in frühen Jahren seine Wahl nach reiflicher Überlegung traf, nachdem er jeden Terminus von allen Seiten besehen und in seinem Bewusstsein mit einem ganzen Zyklus von Begriffen verbunden hatte. Der erste und der zweite Band des Kapital waren in Alakajewka und Samara die wesentlichsten Lehrbücher Wladimirs; der dritte Band war damals noch nicht herausgekommen: der alte Engels war eben erst dabei, die nachgelassenen Manuskripte von Marx zu ordnen. Wladimir studierte das Kapital so gründlich, dass er jedes mal, wenn er dieses Buch wieder zur Hand nahm, in ihm neue Gedanken entdeckte. Schon in der Samarer Periode hatte er, wie er sich später ausdrückte, gelernt, sich mit Marx zu „beraten“.
Angesichts der Bücher des Lehrers wichen Frechheit und Spottlust ganz von selbst aus diesem unersättlichen Geist, der zu höchstem Pathos der Anerkennung fähig war. Die Entwicklung der Marxschen Gedanken zu verfolgen, an sich selbst ihren unwiderstehlichen Ansturm zu erleben, in den eingeschalteten Sätzen oder Bemerkungen ganze Serien von zusätzlichen Schlussfolgerungen zu entdecken, sich jedes mal von der Treffsicherheit und Tiefe eines Sarkasmus zu überzeugen und sich vor dem gegen sich selbst rücksichtslosen Genius dankbar zu verneigen, das war für ihn nicht nur ein Bedürfnis, sondern ein Genuss. Marx hatte keinen besseren Leser, keinen, der aufmerksamer miterlebte, keinen besseren, keinen scharfsinnigeren, dankbareren Schüler.
„Der Marxismus war bei ihm nicht Überzeugung, sondern Religion“, schreibt Wodowosow, „bei ihm … fühlte man einen Grad von Überzeugtheit, der … mit wirklichem wissenschaftlichem Wissen unvereinbar ist.“ Wissenschaftlich ist nur die Soziologie, die das Recht des Philisters, zu schwanken, unangetastet lässt. Gewiss, Wodowosow gibt zu: Uljanow „interessierte sich sehr für Einwände gegen den Marxismus, studierte sie und dachte darüber nach“, aber das alles „nicht, um die Wahrheit zu suchen“, sondern nur, um in den Einwänden den Fehler zu entdecken, von dessen Vorhandensein er von vornherein überzeugt war. An dieser Charakteristik ist eines richtig: Uljanow hatte sich den Marxismus als Ergebnis der vorhergehenden Entwicklung des menschlichen Denkens zu eigen gemacht; er wollte von der erreichten höchsten Stufe nicht auf eine niedrigere herabsteigen; er verteidigte mit unbändiger Energie, was er durchdacht und täglich überprüft hatte; und er war misstrauisch gegen die Versuche selbstzufriedener Hohlköpfe und belesener Mittelmäßigkeiten, den Marxismus durch eine andere, handlichere Theorie zu ersetzen.
Auf dem Gebiet der Technik oder der Medizin werden Rückständigkeiten, Dilettantismus und Hokuspokus mit Recht verachtet. Auf dem Gebiet der Soziologie geben sie sich durch die Bank als Freiheit des wissenschaftlichen Geistes. Für wen eine Theorie nur eine Spielerei des Verstandes ist, der kommt leicht von einer Offenbarung zur anderen, und noch öfter gibt er sich mit einem Potpourri aus allen Offenbarungen zufrieden. Unvergleichlich anspruchsvoller, strenger und solider ist der, für den die Theorie eine Anleitung zum Handeln ist. Ein Salonskeptiker kann sich über die Medizin ungestraft lustig machen. Der Chirurg kann in einer Atmosphäre wissenschaftlicher Ungewissheit nicht leben. Je notwendiger für den Revolutionär eine Theorie ist, auf die er sich bei seinem Handeln stützen kann, desto unversöhnlicher beschützt er sie. Wladimir Uljanow verachtete Dilettantismus und hasste Hokuspokus. Am höchsten schätzte er am Marxismus die disziplinierende Macht der Methode.
Marxismus und russische Revolution
1893 erschienen die letzten Bücher von W. Woronzow (W.W.) und N. Danielson (Nikolaj-on). Beide Narodniki-Ökonomisten bewiesen mit beneidenswerter Hartnäckigkeit, daß eine bürgerliche Entwicklung in Russland unmöglich sei, und das zur selben Zeit, da der russische Kapitalismus sich zu einem besonders stürmischen Aufschwung anschickte. Die damaligen, farblos gewordenen Narodniki haben die verspäteten Offenbarungen ihrer Theoretiker wohl kaum mit solcher Aufmerksamkeit gelesen wie der junge Samarer Marxist. Die Kenntnis der Gegner war für Uljanow nicht nur für die literarische Widerlegung notwendig. Er suchte vor allem die innere Überzeugung für den Kampf. Gewiss, er studierte die Wirklichkeit polemisch und richtete nunmehr alle Beweise gegen die überlebte Volkstümelei; aber niemandem lag reine Polemik so fern wie dem künftigen Verfasser von 27 Bänden polemischer Werke. Er hatte das Bedürfnis, das Leben zu kennen, wie es wirklich ist.
Je näher Wladimir an die Probleme der russischen Revolution heranging, desto mehr lernte er bei Plechanow und desto größer wurde seine Hochachtung für die von ihm geleistete kritische Arbeit. Die neuesten Fälscher der Geschichte des Bolschewismus sprechen von einer „Urzeugung des Marxismus auf russischem Boden, ohne direkten Einfluss einer ausländischen Gruppe und Plechanows“ (Pressnjakow) – man müsste hinzufügen: auch von Marx selbst, diesem Emigranten par excellence – und machen Lenin zum Begründer dieses daheim geborenen, wahrhaft russischen „Marxismus“, aus dem sich später die Theorie und Praxis des „Sozialismus in einem einzelnen Land“ entwickeln soll.
Die Lehre von einer Urzeugung des Marxismus als unmittelbare „Widerspiegelung“ der kapitalistischen Entwicklung Russlands ist schon an und für sich die übelste Karikatur des Marxismus. Die wirtschaftlichen Prozesse spiegeln sich nicht im „reinen“ Bewusstsein in all seiner naturbelassenen Unwissenheit, sondern in einem historischen Bewusstsein, das bereichert ist durch alle Errungenschaften der menschlichen Vergangenheit. Der Klassenkampf der kapitalistischen Gesellschaft konnte Mitte des 19. Jahrhunderts nur deshalb zum Marxismus führen, weil er die dialektische Methode als Krönung der klassischen Philosophie in Deutschland, die politische Ökonomie von Adam Smith und David Ricardo in England, die revolutionäre und sozialistische Doktrin in Frankreich, die in der großen Revolution entstanden waren, bereits fertig vorfand. Der internationale Charakter des Marxismus ist somit schon in den Quellen seines Ursprunges begründet. Die Entwicklung des Kulakentums an der Wolga und der Metallurgie im Ural waren absolut unzureichend, um selbständig zum gleichen wissenschaftlichen Ergebnis zu kommen. Die „Gruppe der Befreiung der Arbeit“ ist nicht zufällig im Ausland entstanden: der russische Marxismus erblickte das Licht der Welt nicht als automatisches Produkt des russischen Kapitalismus wie der Rübenzucker und das gebleichte Baumwollzeug (wofür man übrigens ebenfalls die Maschinen einführen musste), sondern in kompliziertem Zusammenspiel aller bisherigen Erfahrung des russischen revolutionären Kampfes und der im Westen entstandenen Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus. Die marxistische Generation der neunziger Jahre stand auf dem von Plechanow gelegten Fundament.
Wissenschaftliches Neuland
Um den historischen Beitrag Lenins richtig zu schätzen, ist es wirklich nicht notwendig, die Sache so darzustellen, als hätte er schon in jungen Jahren mit seinem Pflug jungfräuliches Neuland umackern müssen. „Verallgemeinernde Arbeiten“, schreibt nach Kamenjew und anderen auch Jelisarowa, „gab es fast nicht: Man musste die ursprünglichen Quellen studieren und auf sie gestützt seine Schlussfolgerungen aufbauen. Diese große und noch nicht in Angriff genommene Arbeit nahm in Samara Wladimir Iljitsch auf sich.“ Nichts ist beleidigender für die wissenschaftliche Gewissenhaftigkeit Lenins als die Ignorierung der Arbeit seiner Vorgänger und Lehrer. Es ist nicht wahr, dass Anfang der neunziger Jahre der russische Marxismus keine verallgemeinernden Arbeiten besaß. Die Publikationen der „Gruppe der Befreiung der Arbeit“ waren schon eine gedrängte Enzyklopädie der neuen Richtung. Nach sechs Jahren eines glänzenden und heroischen Kampfes gegen die Vorurteile der russischen Intelligenz verkündete Plechanow auf dem internationalen Sozialistenkongress in Paris: „Die revolutionäre Bewegung in Russland kann nur als revolutionäre Bewegung der Arbeiter triumphieren. Einen anderen Ausweg gibt es bei uns nicht und kann es nicht geben.“ Diese Worte enthielten die wichtigste Verallgemeinerung der ganzen vorhergehenden Epoche, und aus dieser „Emigranten“-Verallgemeinerung lernte Wladimir Uljanow an der Wolga.
Lenin und Plechanow
Wodowosow erinnert sich: „Über Plechanow sprach Lenin mit tiefer Sympathie, vor allem über Unsere Meinangsverschiedenheiten.“ Diese Sympathie musste sehr deutlich zum Ausdruck gekommen sein, wenn Wodowosow sie mehr als dreißig Jahre im Gedächtnis bewahren konnte. Die größte Stärke von Unsere Meinungsverschiedenheiten besteht darin, dass die Fragen der revolutionären Politik in diesem Buch in untrennbarem Zusammenhang mit der materialistischen Geschichtsauffassung und mit der Analyse der wirtschaftlichen Entwicklung Russlands behandelt werden. Die ersten Stellungnahmen Uljanows in Samara gegen die Narodniki stehen somit in inniger Verbindung mit seiner begeisterten Äußerung über die Arbeit des Begründers der russischen Sozialdemokratie. Nach Marx und Engels war Wladimir mehr als allen anderen Plechanow verpflichtet.
Marxismus in Russland
Ende 1922 schrieb Lenin nebenbei über den Beginn der neunziger Jahre: „Der Marxismus begann sich als Richtung auszubreiten, indem er der beträchtlich früher in Westeuropa von der „Gruppe der Befreiung der Arbeit“ verkündeten sozialdemokratischen Richtung entgegenkam.“ Diese Zeilen, die die Entwicklungsgeschichte einer ganzen Generation resümieren, enthalten ein Stückchen Autobiographie von Lenin selbst: nachdem er mit der marxistischen Richtung als ökonomische und historische Doktrin begonnen hatte, wurde er unter dem Einfluss der Ideen der „Gruppe der Befreiung der Arbeit“, die in hohem Maße die Entwicklung der russischen Intelligenz bestimmte, Sozialdemokrat. Nur Arme im Geiste können sich einbilden, dass sie Lenin dadurch ehren, dass sie seinem leiblichen Vater, dem Wirklichen Staatsrat Uljanow, revolutionäre Anschauungen zuschreiben, die er niemals hegte, und gleichzeitig die revolutionäre Rolle des Emigranten Plechanow verschweigen, den Lenin selbst als seinen geistigen Vater betrachtete.
In Kasan, in Samara, in Alakajewka fühlte sich Wladimir vor allem als Schüler. Aber ebenso wie der Pinsel großer Künstler schon in deren Jugend die eigene Handschrift erkennen lässt, selbst wenn sie die Bilder alter Meister kopieren, so entfaltete Wiadimir Uljanow als Schüler eine solche Kraft des Forschens und der Initiative, dass es schwerfällt, den Grenzstrich zu ziehen zwischen der Bewältigung des Fremden und dem, was er selbständig erarbeitete. Im letzten Jahr seiner Vorbereitung in Samara verschwindet diese Grenze endgültig: der Schüler wird zum Forscher.
Der Streit mit den Narodniki erstreckte sich natürlich auch auf die Einschätzung der konkreten Prozesse: entwickelt sich der Kapitalismus in Russland weiter oder nicht? Die Tabellen der Fabrikschornsteine und der Industriearbeiter erhielten eine tendenziöse Bedeutung, ebenso wie die Tabellen der Klassenscheidung innerhalb der Bauernschaft. So wurde die Wirtschaftsstatistik zur Wissenschaft der Wissenschaften. Die Zahlenkolonnen bargen den Schlüssel zur Enträtselung des Schicksals Russlands, seiner Intelligenz und seiner Revolution. Die von den Militärbehörden periodisch durchgeführten Pferdezählungen waren dazu berufen, Antwort zu geben auf die Frage, wer stärker ist: Marx oder die russische Dorfgemeinschaft.
Das statistische Material der ersten Arbeiten Plechanows konnte nicht sehr reichlich sein: die Semstwo-Statistik, die einzige, die für das Studium der Ökonomie des Dorfes von Wert war, entwickelte sich erst im Laufe der achtziger Jahre; überdies waren ihre Publikationen für einen in diesen Jahren fast restlos von Russland abgeschnittenen Emigranten schwer zugänglich. Dennoch wurde die allgemeine Richtung der wissenschaftlichen Bearbeitung der statistischen Daten von Plechanow vollkommen richtig gewiesen. Die ersten Statistiker der neuen Schule beschritten seinen Weg. Der amerikanische Professor I.A. Gurwitsch, der aus Russland stammte, veröffentlichte 1888 und 1892 zwei Untersuchungen über das russische Dorf, die Wladimir Uljanow sehr schätzte und von denen er lernte. Er selbst ließ niemals eine Gelegenheit vorübergehen, um seiner Dankbarkeit für die Arbeit seiner Vorgänger Ausdruck zu verleihen. […]
Wladimir hatte offenbar vom Vater die Fähigkeit geerbt, sich leicht mit Menschen verschiedener sozialer Kategorien und mit verschiedenem Niveau zu unterhalten. Ohne dass er sich langweilte oder sich Gewalt antun musste und oft ohne vorgefasstes Ziel, mit unbezähmbarer Neugier und einem fast untrüglichen Instinkt, verstand er es, aus jedem zufälligen Gesprächspartner das herauszuholen, was er selbst brauchte. Daher hörte er so fröhlich zu, wo die anderen sich langweilten, und keiner in seiner Umgebung erriet, dass hinter dem schnarrenden Geplauder eine große unterbewusste Arbeit steckte. Eindrücke wurden gesammelt und sortiert, die Speicher des Gedächtnisses füllten sich mit unschätzbarem Material, die kleinen Tatsachen dienten zur Überprüfung großer Verallgemeinerungen. So verschwanden die Schranken zwischen dem Buch und dem Leben, und Wladimir begann schon damals, den Marxismus zu verwenden, wie der Zimmermann Säge und Axt.
Quelle: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1936/junglenin/kap15.htm