Polen: Die Regierung wechselt, die Krise bleibt

Abwahl der PIS durch die Mitte-”links”-Regierung wird keine Stabilität bringen

In einer Wahl mit historisch hoher Wahlbeteiligung von mehr als 74 Prozent verlor in Oktober die bisher regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), eine rechtspopulistische und nationalistische Partei, ihre absolute Mehrheit. Seit Dezember übernahm die breite Anti-PiS-Allianz unter der Führung der Bürgerkoalition und Donald Tusk die Regierung. Sie sprechen von Wiederherstellung von demokratischen Prinzipien und Rechtsstaatlichkeit, Einheit, Solidarität und „glücklichem“ Polen. Doch diese Regierung wird ebenfalls in erster Linie eine Vertretung des Kapitals sein und die Probleme der Arbeiter*innenklasse nicht lösen können.

von Aleksandra Setsumei, Aachen

Wer Nachrichten aus Polen verfolgt, kann sich vorstellen, wie schwer es der neuen Regierung fallen wird, überhaupt Maßnahmen durchzuführen. Die bisher oft bizarren Meldungen vom Sturm der Polizei auf die Zentrale der Staatsmedien oder die Besetzung von Gebäuden durch die PiS-Unterstützer*innen, Festnahmen von ehemaligen Ministern und ihre anschließende Freilassung, Diskussion über die Legitimität und Anerkennung der von PiS geschaffenen Kammer des Verfassungsgerichts oder berufenen Richtern – alles das offenbart, dass Ausmaß der politischen Krise in Polen. Diese ist ein Ausdruck der voranschreitenden Krise des polnischen Kapitalismus und der daraus resultierenden ökonomische Instabilität, sozialen Verwerfungen und der Verunsicherung durch die instabile Weltlage. Die historisch hohe Wahlbeteiligung und die historisch große Demonstration von einer Million Menschen in Warschau gegen die PiS, sind Anzeichen dafür, wie wichtig es vielen Menschen ist, über ihre Zukunft zu entscheiden. Doch in Anbetracht des Fehlens einer Alternative von links, konnten von der Stimmung der Unsicherheit, vorrangig nationalistische und konservative Kräfte profitieren.

Krisenbewusstsein

Das Bewusstsein in Polen ist von Verunsicherung geprägt, verursacht durch den Krieg in der Ukraine und die sich verschlechternde wirtschaftliche Lage. Der Überfall des russischen Imperialismus auf die Ukraine, einen direkten Nachbarstaat, versetzte die Polinnen und Polen in einen tiefen Schock. Angesichts der Geschichte von Überfällen, Teilungen und Besetzungen Polens, ist die Furcht vor einem Angriff einer fremden Macht, tief im historischen Bewusstsein verankert. Die Angst vor einem Überfall Russlands auf Polen hat seit 2022 massiv zugenommen und die konkrete Unterstützung der Ukraine inklusive mit Waffen, wird von vielen Menschen als eine Verteidigungsmaßnahme angesehen.

Gleichzeitig ist die Hilfe, eine Belastung für den polnischen Haushalt. Für die Staatsanleihen muss Polen deutlich höhere Zinsen zahlen als beispielsweise Griechenland. Die Sanktionen gegen Russland und der Import ukrainischer Waren, führen zu einem Preisfall, beispielsweise von Getreide. Dies bringt die polnische Wirtschaft ins Wanken, die durch Inflation und den Rückgang des privaten Konsums bereits angeschlagen ist.

Die wirtschaftlichen Probleme treffen die Arbeiter*innenklasse massiv. Wie in anderen Ländern sind die hohen Lebenshaltungskosten ein zentrales Problem. 2023 stieg die Inflation auf mehr als elf Prozent, auch 2024 werden mehr als sechs Prozent Preissteigerung erwartet. Zwar stiegen 2023 die Löhne ebenfalls, doch die Erhöhungen lagen weit unter der Inflationsgrenze. Die Anzahl der Menschen, die unter extremer Armut leiden, steigt. Zusätzlich spitzen sich andere soziale Krisen zu, etwa im Bereich Wohnen.

Diese Situation stellt für linke Kräfte eine Herausforderung dar. Die Gewerkschaften sind schwach, deren Organisationsgrad ist niedrig. Zudem gibt es einen Mangel von echten linken Parteien, die sich von den kapitalistischen Strategien der “Krisenbekämpfung” abgrenzen und ein vom Kapital unabhängiges Klassenprogramm aufstellen. Dies erlaubt nationalistischen Kräften, die Stimmung für sich zu nutzen.

PiS

Auf dieser Grundlage konnte PiS 2023 die Wahlen als stärkste Partei gewinnen. Damit ist PiS die erste Partei in Polen, die seit dem Zusammenbruch des Stalinismus drei Mal hintereinander die stärkste Kraft bei den Parlamentswahlen wurde. Trotz der vielen Skandale und der Unfähigkeit der Regierenden, konnte die Partei den Kern ihrer Wählerschaft verteidigen. Da sie aber keine Koalitionspartner*innen finden konnte, hat sie de facto die Wahlen verloren. Aber das gute Ergebnis zeigt: Die PiS ist nicht geschlagen. Ihr Nährboden ist in erster Linie die Diskreditierung der anderen bürgerlichen Parteien. PiS konnte sich lange Zeit als die Anti-Bürgerplattform-Kraft behaupten, die in weiten Schichten weiterhin aufgrund der Umsetzung von fiesen neoliberale Maßnahmen und ihrer Arroganz verhasst ist.

Während der Regierungszeit hat sich die PiS durch eine Reihe von sozialen Maßnahmen Loyalität von Schichten der Arbeiter*innenklasse erkauft. Da der Kapitalismus in seinem jetzigen Stadium keinen Raum für Verbesserungen für die Arbeiter*innenklasse bietet – zumindest ohne dass dafür die Arbeiter*innenklasse mobilisiert wird, was die Rechten nicht machen – konnte die PiS nur einzelnen Schichten der Arbeiter*innenklasse etwas anbieten. Im Endeffekt glich die PiS-Politik einer bizarren Version der Identitätspolitik, in der traditionelle polnische Familien bevorzugt wurden. Maßnahmen wie Kindergeld oder die Rücknahme der Rentenreform, haben aber Millionen von Polinnen und Polen das Leben besser gemacht. So konnte sich die PiS bei Einigen das Image einer sozialen Kraft aufbauen.

Das zeigt, wie groß die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung der Partei und ihrer eigentlichen Politik ist. PiS hatte versprochen, gegen die mächtigen Konzerne aus Deutschland und den USA vorzugehen. In Wirklichkeit war kaum eine Regierung in Europa so eifrig, die Interessen des Kapitals zu berücksichtigen. Die Maßnahmen der PIS machten Polen immer mehr zu einem Land von billigen Arbeitskräften und niedrigen Steuern für Unternehmer*innen. Reihenweise verschafften die Rechten den Konzernen Vorteile oder Steuerbefreiungen und setzten ihren politischen Einfluss ein, um eine internationale Besteuerung zu verhindern. Die wirtschaftlichen Hilfemaßnahmen während der Pandemie haben ebenfalls die große Industrie begünstigt und selbst das Sonntagsverkaufsverbot wurde so umgesetzt, dass davon die großen Unternehmen am meisten profitieren. Schließlich beweist der Umgang der Regierung mit Streiks von Lehr- und Pflegekräften ein mal mehr, wie arbeiter*innenfeindlich die Rechtspopulist*innen sind, selbst wenn sie sich selbst als Vertreter*innen der kleinen Leute darstellen wollen.

Diese Politik verband PiS mit Hetze gegen alle, die nicht zu ihrer Zielgruppe gehören, allen voran gegen LGBTIQ+-Menschen und Migrant*innen – aber auch Frauenrechte wie zum Beispiel das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche wurden von ihnen nicht geschont. Daraus folgte eine massive Polarisierung, die nicht entlang von Klasseninteressen verlief, sondern entlang von Werten: für oder gegen LGBTIQ+, für oder gegen Frauenrechte, für oder gegen demokratische Rechte. Dabei ging die Diskussion kaum über die bürgerliche Interpretation von diesen Rechten hinaus. So haben sich viele liberale Kräfte für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch ausgesprochen, aber natürlich nicht in Erwägung gezogen, dass echte Wahlfreiheit nur dann existieren kann, wenn Menschen nicht aufgrund von ihrer ökonomischen Lage erst mal nachrechnen müssen, ob sie sich überhaupt Kinder leisten können. In der Realität sind viele dieser liberalen Kräfte auch die Kräfte, die gegen „Sozialschmarotzer“ hetzen wie beispielsweise gegen die sagenumwobenen Mütter, die sich durch das Kindergeld ein Leben finanzieren. Einerseits konnte sich die PiS durch ihr Vorgehen eine Schicht von treuen Unterstützer*innen erarbeiten, andererseits schuf sie so eine verhärtete Opposition, die sie schließlich jetzt besiegt hat.

Neue Regierung wird keine Stabilität bringen

Als die neue Regierung antrat, wurde sie international mit Erleichterung begrüßt. Und definitiv kann man davon ausgehen, dass sie für die Kapitalist*innen in Polen und weltweit, berechenbarer und zuverlässiger sein wird. Mit Donald Tusk ist ein weitsichtigerer und erfahrener Vertreter des Kapitals in der Führung. Doch alleine das wird die Krise, der Polen und die Welt gegenübersteht, nicht lösen. Die Regierung protzt damit, was sie alles besser machen wird, aber sie wird von Tag 1 an sabotiert: Auch wenn die PiS keine Mehrheit im Parlament hat, behält sie weiterhin den Posten des Präsidenten mit dem Veto-Recht und kontrolliert politisch das Verfassungsgericht. Das bedeutet die Fortführung von rechtlichen Streitigkeiten und einen weitgehend eingeschränkten Handlungsspielraum.

Hinzu kommt, dass die Koalition vor allem in ihrem Anti-PiS-Kurs vereint ist, aber in vielen anderen Bereichen weit auseinanderliegende Vorstellungen hat. Es ist eine Koalition aus drei Wahlbündnissen, der neoliberalen Bürgerkoalition, dem konservativen Dritten Weg, und der linksliberalen “Linken”vereinigung. Es herrscht Einigkeit vor allem darüber, die PiS zur Rechenschaft zu ziehen und ihre Justizreformen zurückzunehmen. Viele andere erwartete Reformen wie die Liberalisierung des Abtreibungsrechtes oder die Öffnung der Ehe für LGBTIQ+-Menschen sind umstritten. Vor allem deshalb wird die neue Regierung sich vor allem darauf fokussieren, PiS zur Rechenschaft zu ziehen und so die Erwartungen ihrer Wähler*innen zu befriedigen. Sicherlich liegt es in ihrem Interesse, diese Auseinandersetzung laut und kontrovers zu führen, um ja nicht die Diskussion über Verbesserungen zu starten, die allen zugute kommt. Denn eine weitere Einigkeit besteht in den regierenden Parteien, nämlich die, der Arbeiter*innenklasse nichts zu schenken. Die unmittelbaren Beschwerden der regierenden Abgeordneten über die Haushaltslöcher, die durch die PiS-Regierung verursacht worden seien, sind Hinweise für bewusste Vorbereitungen von Kürzungen. Wir können davon ausgehen, dass die maroden Finanzen des Staates als Vorwand für baldige Sparmaßnahmen genutzt werden, auch wenn der Erhalt der ausstehenden EU-Gelder Raum für einzelne Maßnahmen ermöglichen könnte. Doch insgesamt wird die Regierung keines der sozialen Probleme der Bevölkerung lösen.

Und wo ist die Linke?

Zurzeit existiert in Polen keine relevante linke Kraft, die in der Lage ist, eine Alternative zu der kapitalistischen Krise anzubieten. Die offizielle politische Linke besteht aus dem “Links”bündnis, das zwei Parteien umfasst, die Neue Linke und die Razem-Partei. Die Neue Linke ist links höchstens in ihrem Name, denn obwohl sie auf dem Papier gute Arbeit, ein gutes Gesundheitssystem etc. fordern, spielt dies in ihrer Realpolitik kaum eine Rolle. In Realität unterstützen sie vollständig die Politik der Bürgerkoalition mit einigen linken Werteprojekten wie dem Abtreibungsrecht. Sie tragen außerdem dazu bei, dass die Linke vor allem als identitätspolitische Vertretung von Frauen gesehen wird.

Razem dagegen ist die einzige relevante Partei in Polen, die man als links bezeichnen kann. Razem hätte ein Ansatzpunkt für die Bildung einer Massenarbeiter*innenpartei sein können. Allerdings konnte die Partei nicht der Katalysator für diese Entwicklung sein und befindet sich nun auf einem absteigenden Ast. Sie hat über die Jahre Aktivist*innen und Wähler*innen verloren. Vor allem aber ist bezeichnend, dass Razem die niedrigste Unterstützung von allen Parteien unter Arbeitenden hat, niedriger als die der extrem rechten Partei Konfederacja! Die Wähler*innenbasis der Partei besteht größtenteils aus gut gebildeten Kleinbürger*innen. Wir haben in der Vergangenheit kritisiert, dass Razem in einem Wahlbündnis mit den anderen sich links nennenden Parteien zur Wahl stellt. Inzwischen geht sie weiter, indem sie die neue Regierung unterstützen. Dabei befindet sich Razem in einer unangenehmen Lage, denn die Koalition hat eine komfortable Mehrheit ohne die Abgeordneten von Razem. In den Verhandlungen, an denen sie teilnahm, konnte sie keine ihrer Programmpunkte durchsetzen – und hatte zumindest genug Verstand, nicht den Vertrag zu unterzeichnen und Teil der Regierung zu werden. Gleichzeitig hat Razem angekündigt, die Regierung in jeder Frage unterstützen zu wollen – mit der Begründung, dass das Fernhalten der PiS von der Regierung ihr zentrales Ziel sei.

Linke Arbeiter*innenorganisationen aufbauen!

Damit steht für Polinnen und Polen keine Partei zur Verfügung, die eine mutige, sozialistische Alternative zu dem Establishment anbieten könnte. Gleichzeitig wurde das Land in den letzten Jahren von massiven und erfolgreichen Bewegungen erschüttert, zum Beispiel die Bewegung gegen die Verschärfung des Abtreibungsrechtes. Diese Bewegungen waren einerseits monothematisch, trugen aber gleichzeitig Elemente einer sozialen Revolte gegen den Status quo und die Regierenden in sich. Dies sah man zum Beispiel an dem weit verwendeten Slogan „verpisst euch“, der nicht nur eine Änderung des Verhaltens, sondern auch den Sturz der Regierung forderte.

Leider haben diese Bewegungen es nie geschafft, eine demokratische Diskussion über ein notwendiges Programm, Forderungen und Strukturen einzuleiten und sind so verpufft. Dies ist ebenfalls darauf zurückzuführen, dass die Linken in diesen Bewegungen keinen Klassenstandpunkt vertraten, keine Verankerung in der Arbeiter*innenklasse hatten und vor allem nicht daraufhin arbeiteten, sich von den bürgerlichen Parteien abzuheben, sondern im Gegenteil, aktiv zu dem bürgerlichen Anti-Pis-Block dazugehören wollten.

Das Ergebnis ist, dass die politische Linke nun in einer Situation ist, in der die Regierung, die sie unterstützt, wahrscheinlich Angriffe auf die Arbeiter*innenklasse durchführen wird und sie politisch überhaupt nicht darauf vorbereitet ist. Da sie außerdem den Slogan „PiS vs. Alle anderen“ mitgetragen hat, hat sie sich selbst in der Polarisierung zerreiben lassen und nun kaum eine Basis für den weiteren Aufbau.

Wenn sich daran etwas ändern soll, müssen die wenigen linken Kräfte in erster Linie eine Klassenperspektive diskutieren und nach vorne stellen. Das bedeutet, in jeder Diskussion jenseits von moralisierenden Argumenten Programmpunkte im Interesse der Arbeiter*innenklasse aufzustellen. Dazu gehört die laute Ablehnung der bürgerlichen Regierung, die im Endeffekt vorrangig die Interessen des Kapitals vertreten wird. Stattdessen müssen die Linken soziale Themen wie gute Arbeit, ein gutes Gesundheitssystem und die Lösung der Wohnungskrise besetzen. Gleichzeitig kann eine linke Kraft nur erfolgreich sein, wenn sie ihre Basis in der Arbeiter*innenklasse aufbaut. Deshalb müssen Aktivist*innen in Gewerkschaften arbeiten und eine Plattform für linke Aktionen schaffen, die einen Ansatzpunkt für neue Organisationen der Arbeiter*innenklasse werden kann. Nur eine solche Organisation kann ein Ping-Pong-Wechsel von nationalistischer, konservativer und neoliberaler Politik, die jeweils zu Lasten der arbeitenden Bevölkerung geht, durchbrechen.