Wer schützt uns vor dem Verfassungsschutz?

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Über die Reform der Verfassungsschutz-Richtlinien

In den letzten Monaten mussten sich verschiedenste Verfassungsorgane wie das Bundesverfassungsgericht, das Bundeskanzleramt und Bundesinnenministerium intensiv damit beschäftigen, was ihre eigene “Schutzbehörde” darf und was nicht und ob sie überhaupt auf dem Boden dessen steht, was sie vorgibt zu schützen. So mussten neue Gesetze erarbeitet werden, um die nachrichtendienstlichen Behörden in ihrem Agieren rechtlich abzusichern.

Entwicklungen, die das teilweise zur Folge hatte, sollten uns allen zu denken geben! Zugleich sind sie jedoch auch aufschlussreich, um aufzuzeigen, welche Rolle Nachrichtendienste bzw. der Verfassungsschutz innerhalb der kapitalistischen Staatsordnung einnehmen.

von Lars Becker, Sol-Mitglied und aktiv bei Jugend für Sozialismus

In der ersten Hälfte des Jahres 2022 entschied das Bundesverfassungsgericht (BVerfG): Einige Vorgehensweisen des Verfassungsschutzes in Bayern verstoßen gegen das Grundgesetz. So hat der Verfassungsschutz in Bayern etwa Wanzen in Privatwohnungen platziert, Handys geortet, verdeckte Mitarbeiter eingesetzt und Online-Durchsuchungen durchgeführt. Das heißt zum Beispiel Staatstrojaner eingesetzt, um so etwa Datenträger zu durchsuchen, jegliche Online-Aktivitäten zu überwachen und auszuwerten oder Online-Konten zu analysieren. Dabei gab es für den Einsatz dessen verhältnismäßig geringe Hürden. 

Mit der Verfassungsschutzreform von 2016 galt das Bayerische Verfassungsschutzrecht als besonders eingriffsstark. Selbst der damalige Bayerische Innenminister und Federführer der Reform, Joachim Herrmann (CSU), meinte, dass das Gesetz “in der Tat bis an die Grenzen dessen geht, was vom Rechtsstaat erlaubt ist”1. Drei Linke Aktivisten, die u.a. im VVN-BdA aktiv sind und davon ausgingen, überwacht zu werden, erhoben mit Unterstützung der Gesellschaft für Freiheitsrecht (GFF) Anklage und zogen vor das Bundesverfassungsgericht.

Auf die Anklage reagierte das BVerfG im April 2022 mit einem weit über hundert-seitigen Schreiben, in welchem es die Befugnisse der Bayerischen Verfassungsschutzbehörde auf den Prüfstand stellte und darüber hinaus noch Grundsätze für die Überwachung durch Geheim- beziehungsweise Nachrichtendienste in Deutschland ausarbeitete.

Schnell wurde deutlich, dass das Urteil auch Auswirkungen auf die Bundesbehörde und alle weiteren Landesbehörden haben wird, da viele dem Bayerischen Verfassungsschutz in seiner Härte in den folgenden Jahren nachgezogen sind. So wurden die Befugnisse des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) erst 2020 ausgeweitet. Es zeigte danach gegenüber der Bayerischen Behörde nur noch im Detail Abweichungen, zum Beispiel darin, dass es wohl keinen Zugriff auf Vorratsdatenspeicherungen hat.

Bedenken äußerte das Verfassungsgericht allerdings nicht gegenüber den Maßnahmen selbst, sondern vielmehr gegenüber einer mangelnden rechtlichen Absicherung. Daraufhin sollte es strengere Voraussetzungen für den Einsatz geben. Gleichzeitig beschlossen die Richter*innen jedoch, dass für den Einsatz von geheimen Ermittlungsmaßnahmen keine konkrete Gefahr mehr, sondern lediglich ein „hinreichender verfassungsschutzspezifischer Aufklärungsbedarf“2 vorliegen muss.

Hinzu kam eine weitere erfolgreiche Klage vor dem BVerfG, die im November 2022 bekannt gegeben wurde, in welcher das Gericht zu dem Urteil kam, dass die bisher in Paragraph 20 Bundesverfassungsschutzgesetz reglementierte Übermittlungspflicht von Informationen an die Polizei, wenn dies “zur Verhinderung und Verfolgung von Staatsschutzdelikten erforderlich ist”, ebenso verfassungswidrig ist. Konkret ging es um Daten, die heimlich gewonnen wurden (zum Beispiel durch V-Leute oder Online-Durchsuchungen). Übermittlungen seien in diesen Fällen nur zulässig, wenn auch die Polizei mit ihren Befugnissen die Daten hätte erheben dürfen und eine „hinreichend konkretisierte Gefahr”3 besteht. 

Die zuvor angewandte Übermittlungspflicht verstieße gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Bis Ende 2023 gab das BVerfG dem Gesetzgeber Zeit, die rechtlichen Grundlagen für die angewandten nachrichtendienstlichen Überwachungsmethoden nachzubessern. Eigentlich war jedoch schon ab dem Urteil im April 2022 klar, dass das Bundesamt mit einer Reform nachziehen muss.

Und als wäre das alles noch nicht genug: Ende 2022 wurde ein hochrangig Beamter des Bundesnachrichtendienstes (BND), Carsten L., festgenommen, da dieser geheime Dokumente einer laufenden Operation des BND im Kontext des Ukrainekriegs an den russischen Geheimdienst weitergegeben haben soll. 

Vor seinen beruflichen Tätigkeiten beim BND war L. bei der Bundeswehr beschäftigt, wo der Militärische Abschirmdienst (MAD) gegen ihn wegen eines Rechtsextremismusverdachts ermittelte. Folgen hatte dieses Verfahren jedoch nicht, der Verdacht wurde ausgeräumt. Dem Anschein nach jedoch zu Unrecht: So habe L. im Kolleg*innenkreis des BND davon gesprochen, dass man Flüchtlinge “standrechtlich erschießen” solle. Auch von Freund*innen soll er politisch als “sehr, sehr konservativ” und “sehr national” eingestuft worden sein. Allerdings bewege er sich immer noch “innerhalb des demokratischen Spektrums”4. 

Zumindest solange dezidierter Ausländerhass innerhalb des sogenannten “demokratischen Spektrums” liegt.

Faesers (geplante) Anschwärz-Reform

Das alles zum Anlass, brachten das Bundeskanzleramt und das Bundesinnenministerium unter Nancy Faeser (SPD) quasi in letzter Minute zwei Gesetzesnovellen auf den Weg, die den Beschluss des BVerfG einarbeiten sollten. Ansonsten wären die Nachrichtendienste nicht mehr zur Übermittlung von gesammelten Informationen an Behörden wie der Polizei berechtigt, da sie ohne rechtliche Grundlage dastehen würden. Beide Entwürfe wurden sowohl von Expert*innen als auch aus den Reihen der eigenen Koalition stark kritisiert.

So sollte Faesers Gesetzesentwurf die Befugnisse von Beamten des Verfassungsschutzes auf beängstigende Art und Weise vervielfachen: Sollte der Verdacht gegenüber einer Person bestehen, dass diese “extremistische” Ansichten vertreten könnte, so hätten “Verfassungsschützer*innen” daraufhin die Erlaubnis gehabt, Privatpersonen eben jenen Verdacht zuzuflüstern. Die Voraussetzungen dafür schienen lächerlich gering: Die Maßnahmen müssten einer sogenannten “Deradikalisierung” dienen oder dazu dienen, “das Gefährdungspotenzial zu reduzieren”5. Damit machte man das Verfassungsschutzgesetz jedoch keinen Schritt transparenter – im Gegenteil!

Man versuchte (dem Anschein nach) den Einfluss des Verfassungsschutzes auf die Gesellschaft weiter auszuweiten, während man die stärkere Reglementierung von Datenweitergaben zwischen staatlichen Nachrichtendiensten und Behörden und den Schutz vor “Verfassungsfeinden” in den eigenen Reihen zum Anlass nahm.

Im Konkreten könnte die Einflussnahme der Nachrichtendienste auf die Gesellschaft wie folgt aussehen: Ein Verfassungsschutzbeamter wird auf einen palästinasolidarischen Jugendlichen aufmerksam und entwickelt den Verdacht, dieser könnte antisemitische oder gar islamistische Positionen teilen. Daraufhin hätte der “Verfassungsschützer” – ohne nennenswerte Hürde – das Recht gehabt, dem Fußballtrainer, dem Ausbildungsmeister, seinen Eltern, seinen Lehrkräften, wem auch immer es bedarf, um “das Gefährdungspotenzial zu reduzieren”, seinen Verdacht zu übermitteln.

Diese Vorgehensweise könnte fatale Auswirkungen auf das Leben dieser in den Verdacht geratenen Menschen haben. Wie wirst du dieses Stigma als (vermeintliche*n) Extremist*in jemals wieder los? Was für Konsequenzen zieht dein Chef oder deine Vermieterin aus diesen Anschuldigungen? Wie beeinflussen diese Anschuldigungen einer offiziellen staatlichen Behörde deine familiären Beziehungen?

So schockierend diese angestrebte Reform auch sein mag: dieses Mittel des Verfassungsschutzes ist nicht unbedingt neu. Bisher war dies jedoch nur im Kontext “[des Schutzes] der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des Bestandes oder der Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder zur Gewährleistung der Sicherheit von lebens- oder verteidigungswichtigen Einrichtungen”6 möglich. Zudem brauchte der “Verfassungsschützer” die Erlaubnis des zuständigen Innenministeriums.

Doch eben diese Hürde wollte die Ampelregierung mit ihrer Gesetzesnovelle kippen und hätte damit dem Inlandsgeheimdienst die Erlaubnis gegeben, auch weit vor Eintreten einer “konkreten Gefahr” tätig werden zu dürfen. “Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung”? Ade!

Wo ist der Aufschrei?

Trotz dieser extremen Ausweitung der Befugnisse des Verfassungsschutzes, der über die letzten Jahrzehnte mehr als genug Skandale durchlebte, seine eigene Nazi-Vergangenheit nie öffentlich aufarbeitete beziehungsweise durch Schreddern und Geheimhaltung von Akten aktiv verhinderte – und dabei von der herrschenden Politik gedeckt wurde, fehlte es in der medialen Landschaft an… Interesse? Zumindest aber an Aufmerksamkeit. Beängstigender als die angestrebte Reform selbst war fast nur, dass niemand darüber sprach. Es war schwer, anfangs überhaupt einen themenspezifischen Artikel in den etablierten Nachrichtenportalen zu finden, der sich nicht hinter einer Paywall befand – dem profitorientierten Journalismus sei Dank!

In den öffentlich-rechtlichen Medienhäusern suchte man ebenfalls vergebens.

Das alles im selben Jahr, in dem die Repressionen gegen Klimaaktivist*innen hochgezogen wurden, Neukölln wochenlang einem polizeilichen Belagerungszustand glich, muslimische und als muslimisch gelesene Menschen einem medialen, staatlichen und polizeilichen Generalverdacht des Antisemitismus ausgesetzt sind, viele Menschen mit palästinensischem beziehungsweise arabischen Migrationshintergrund das Gefühl haben, ihre Meinung nicht mehr frei äußern zu können, (scheinbar) wahllos Demonstrationen im Kontext zu Israel/Palästina verboten wurden, Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft Angst davor haben, abgeschoben zu werden, wenn sie in der Öffentlichkeit ihre kritische Meinung zum Krieg gegen Gaza kundtun, regierende Politiker*innen kollektiv von Menschen mit arabischem Hintergrund eine Distanzierung von der Hamas forderten und immer mehr Landesregierungen das Einbürgerungsverfahren an ein Bekenntnis zum Existenzrecht Israels knüpfen wollen; das Samidoun-Verbotsverfahren durchgezogen wurde und öffentliche Fahndungen gegen Antifaschist*innen verübt wurden. Der bürgerliche Staat ließ im vergangenen Jahr sichtlich seine repressionalen Muskeln spielen, was in erster Linie Menschen aus der migrantischen Community zu spüren bekommen haben.

Für uns als Sozialist*innen sind solche nachrichtendienstlichen Reformen, auch wenn sie kaum bis gar nicht in der Öffentlichkeit stattfinden, allerdings von höchster Bedeutung. Die Geschichte der BRD – und aller anderen Staaten in Klassengesellschaften – zeigt, dass ihre gesetzlichen Vertreter*innen und Hüter*innen vor allem ein Problem mit aktivistischen Linken haben, die den Anspruch haben, die Welt zu einer (grundlegend) besseren zu machen. Das zeigt sich vom KPD-Verbotsverfahren in den Anfangsjahren der BRD, über die Berufsverbote in den 60er/70er Jahren; die geheimdienstliche Überwachung der Linksfraktionen in Bundes- und Landtagen, in denen selbst vor eindeutig reformistischen Politiker*innen kein Halt gemacht wurde; in der Extremismusthese (auch “Hufeisen-Theorie” genannt) des Verfassungsschutzes, welche den Kommunismus mit dem Nationalsozialismus gleichsetzt – schließlich befänden sich beide an den “extremen Rändern” des politischen Spektrums – oder auch in Verfassungsschutzberichten, in denen ein merklicher Fokus auf vermeintlich linksextreme Aktivist*innen, Gruppierungen oder Bands gelegt wurde, während bspw. von NSU-Aufarbeitungen jegliche Spur fehlte.

Was jetzt?

Die Gesetzesnovelle von Faesers Innenministerium kam nur mit Änderungen durch. Grund zur Erleichterung? Nicht so wirklich.

So kam es nicht durch den Bundestag, dass Verfassungsschutzagent*innen Privatpersonen ihren Verdacht über einen möglichen Extremisten zuflüstern dürfen. Immerhin.

Dennoch beruhen die oben genannten Maßnahmen aller deutschen Nachrichtendienste – Bundesnachrichtendienst, Militärischer Abschirmdienst und Verfassungsschutz – nun umso mehr auf rechtlich abgesicherter Grundlage. Das BVerfG bezeichnete diese in seiner Stellungnahme sogar als “für grundsätzlich wichtig und richtig und notwendig”7 (Wortlaut von Joachim Herrmann).

Nach dem “höchstrichterlichen Urteil”, wie Beschlüsse des BVerfG häufig genannt werden, wären Nachrichtendienste nun gesetzlich abgesichert, gesammelte Informationen über Einzelpersonen an Polizei und Staatsanwaltschaft weiterzuvermitteln, sollte eine “konkretisierte Gefahr” beziehungsweise “dringende Gefahr” von ihnen ausgehen. Zwar ist es nach Wortlaut auch so in der neuen Reform übernommen worden, Rechtsexpert*innen wie Mark Zoller und Ralf Poscher (beides Juristen und Universitätsprofessoren) meinen jedoch, dass die Reform “in entscheidenden Passagen [immer noch] nicht verfassungskonform” sei, “die Regelungen insgesamt zu weit” gingen und es sich eher um eine klare Ausweitung als um eine Einschränkung der Vorschriften zur Datenübermittlung handele8.

So gibt es beispielsweise immer noch keine unabhängige Vorabkontrolle bei Datenübermittlungen an zum Beispiel die Polizei. Ob es sich nun bei zukünftigen Fällen nur um eine “drohende” oder bereits “konkrete Gefahr” handeln mag, was juristisch durchaus einen unterschied macht, obliegt immer noch der Einschätzung der vermeintlichen Verfassungsschützer*innen.

Was den Verdacht auf “Verfassungsfeinde” oder “Landesverräter*innen” in den eigenen Reihen der Nachrichtendienste angeht, so haben die Behörden nun ein Recht auf verdachtsunabhängige Kontrollen und Durchsuchungen von Personen, Taschen und Fahrzeugen.

Same shit, different day

Über die Zeit des Verfahrens ist wieder Vielerlei aufgekommen, was seit Jahrzehnten von Linken unter anderem am Verfassungsschutz kritisiert wird.

Die Behörden sind durchsetzt von Rechten in den eigenen Reihen, die selbst nicht auf dem Boden der Verfassung stehen, die sie vorgeben zu schützen und die – trotz oder wegen – ihrer politischen Gesinnung bei Kolleg*innen als “kompetent” und “guter Vorgesetzter” gelten können und sich “hoher Beliebtheit” erfreuen4.

Während der Staat nun seine Befugnisse gegenüber seinen eigenen Mitarbeitenden verdachtsunabhängig ausweitet, ermittelt er immer noch gegen sich selbst im Falle von “verfassungsfeindlichen” – sprich weit überwiegend rechtsradikalen – Angestellten. Dabei hat er sich über die letzten Jahrzehnte hinweg zu mehr als nur unfähig (man könnte fast meinen ungewillt) in dieser Hinsicht erwiesen. Dass Mitarbeitende wie Carsten L. rechtsradikale Ansichten vertreten, ist in den meisten Fällen schon vorher bekannt, nur scheint es niemanden zu interessieren. So wurde L. wenige Wochen vor seiner Festnahme sogar noch befördert. 

Wichtig wurde dieser Fall für den deutschen Staat erst, als dieser Mitarbeiter die geopolitischen Interessen der BRD und NATO verletzte und es Hinweise darauf von “ausländischen Partnerdiensten”ebd. gab.

Gerade wegen dieser intensiven Verstrickungen von Rechten und “rechtsstaatlichen Organen” sowie der Ungewilltheit in der Aufarbeitung (gedeckt durch bürglerliche, pro-kapitalistische Parteien), haben wir es heutzutage immer noch mit einer so starken politischen und gewaltbereiten Rechten zu tun.

Dagegen müssen wir aktiv werden! Wir müssen uns in antifaschistischen Organisationen und Gewerkschaften organisieren und die Nazivergangenheit der deutschen Geheimdienste aufarbeiten. In diesem Zuge müssen alle gesammelten und geheim gehaltenen Akten von Rechtsextremen inner- und außerhalb der Nachrichtendienste und anderer staatlicher Behörden offengelegt werden. Dies würde ermöglichen, ein viel besseres Verständnis für die rechte, zum Teil geheim agierende Szene zu erhalten und sie dadurch viel effektiver und nachhaltiger bekämpfen zu können – zum Schutze aller von ihnen als feindlich deklarierte Menschengruppen.

Auch wurde deutlich, dass eine Behörde über Jahrzehnte hinweg gegen geltendes Recht verstoßen kann, bis – man könnte meinen zufällig – Einzelkläger*innen die nötige Energie und Ressourcen aufweisen können, dagegen vor dem Bundesverfassungsgericht vorzugehen.

Doch während Strafen bei Einzelpersonen im Falle eines Rechtsverstoßes relativ klar definiert sind, gilt dies für den Staat und seine Behörden nicht. Wer genau soll auch bei Rechtsverstoß des “Rechtsstaats” zur Verantwortung gezogen werden, wenn Unrecht über Jahrzehnte auf Papier und in der Praxis galt? 

Federführende bei verfassungswidrigen Verschärfungen der Befugnisse von Nachrichtendiensten in den letzten Jahren, wie Joachim Herrmann (CSU), haben wohl eher wenig staatliche Repressalien zu befürchten.

Und selbst wenn die sogenannte “judikative Kontrollinstanz” zum Schluss kommen sollte, dass geltendes Recht gegen Grundrecht verstößt, so kann dieser Rechtsstaatsmechanismus, wie im eben oben genannten Beispiel, von den Regierenden auch dafür verwendet werden, die Befugnisse der eigenen Behörden noch weiter auszuweiten. Das Urteil, das diese womöglich verfassungswidrige Reform wieder für verfassungswidrig erklären könnte, kann Jahre auf sich warten lassen. So sollte uns ein weiteres Mal verdeutlicht werden, dass wir kein Vertrauen in diesen Staat und seine pro-kapitalistischen Vertreter*innen haben sollten.

Doch wir sollten nicht dabei stehen bleiben, nur die Heuchelei der bürgerlichen Demokratie und ihrer Repräsentant*innen aufzuzeigen. Bürgerliches Recht ist nicht zuletzt immer Auslegungssache und verschiedene “Rechtsexpert*innen” oder Gerichte können zu verschiedenen Urteilen kommen. Wichtig ist es also auch, klar zu benennen, was die Aufgaben von Organen wie dem Verfassungsschutz im bürgerlichen Staat sind.

So dienen Nachrichten- und Geheimdienste vor allem dazu, den aktuellen bürgerlich-kapitalistischen Status Quo aufrechtzuerhalten. In diesem Sinne handeln sie nie als neutrale Instanzen, die “die Demokratie” gegen sogenannte “Feinde der demokratischen Grundordnung – von links und rechts” verteidigen. Nach der aktuellen Ideologie des Staates und seiner Sicherheitsbehörden, könnte diese “demokratische Grundordnung” sowieso nur auf kapitalistischer/marktwirtschaftlicher Grundlage basieren.

Immer wenn es den Herrschenden, denen die Nachrichtendienste letztlich unterliegen, passt, lehnen sie sich liebend gerne nach rechts und bedienen sich an ihren menschenfeindlichen Positionen, die in der Theorie auch der bürgerlichen Verfassung und Menschenrechte zuwider laufen, siehe z.B. das Recht auf Asyl.

Hin und wieder kommt es zwar vor, dass sich bürgerliche Politiker*innen von rechts distanzieren/vor rechten Parteien “warnen”, oder der Verfassungsschutz Rechtsradikalen ihre Grenzen aufweist, sprich eine Razzia oder ähnliches veranlasst. Das zeigt: In gewissen Situationen haben auch bürgerliche Politiker*innen Angst, die Kontrolle über den Staatsapparat zu verlieren und somit auch über ihre “ruhigen und geregelten” Verhältnisse. Das bedeutet aber nicht, dass wir uns im Kampf gegen rechts auf sie verlassen können. Denn ihre “ruhigen und geregelten” Verhältnisse bedeuten schon jetzt  massenhafte Armut und Verelendung für weite Teile der Bevölkerung. Ihnen geht es darum, den Kapitalismus am Laufen zu halten.

So merkt Nancy Faeser (SPD), Bundesinnenministerin und damit auch führende Person des BfV, z.B. an: “Wir brauchen in vielen Branchen dringend Fachkräfte aus dem Ausland. Die besten Köpfe gewinnen wir aber nur, wenn sie sich auch in Deutschland willkommen fühlen.”9

Und Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), meint: “Eine politische Bewegung, die die Wende rückwärts zu Nationalismus beschwört, ist schädlich für dieses Land: für die Wirtschaft und für Ansehen und Erfolg Deutschlands im globalen Kontext.”ebd.

Ihre Ablehnung von Rechts ist also nicht unsere und der Verfassungsschutz ist nicht unser Verbündeter im Kampf gegen Nazis, im Gegenteil!

Er gehört abgeschafft. Wir können uns im Kampf gegen rechts nicht auf eine Behörde verlassen, die jahrelang rechte Netzwerke aktiv und passiv unterstützte.  Wir müssen stattdessen selbst aktiv werden. Was es braucht, sind breite antifaschistische Strukturen und Bündnisse, die den Kampf gegen rechts aufnehmen. Diese sollten die lokale Bevölkerung miteinbeziehen, eigene Recherchearbeit betreiben, rechte Strukturen aufdecken und sie bekämpfen. In manchen Orten gibt es bereits Ansätze für solche Strukturen. Diese müssen positiv aufgegriffen werden und als Beispiel dienen, um zusammenzukommen und sich zu organisieren. Gewerkschaften hätten die Mittel, diese Strukturen zu unterstützen und weiter auszubauen. Außerdem könnten lokale Antifa-Bündnisse bundesweit vernetzt werden, um Informationen und Strategien auszutauschen und zu diskutieren. Gleichzeitig könnte diese Organisierung auch als Grundlage dienen, um so den Kampf gegen rechts mit dem Kampf für soziale Forderungen zu verbinden. Allzu oft fallen Menschen auf die Rattenfängerparolen der Rechten rein, aber soziale Verbesserungen können wir nur gemeinsam erkämpfen und nicht gegen zum Beispiel migrantische Kolleg*innen.

Doch wir müssen auch erkennen, dass der Kapitalismus immer wieder Rassismus, Diskriminierung und Spaltung in sich trägt und diese Mechanismen benötigt, um zu überleben.

Deshalb müssen wir uns massenhaft zusammentun und gegen Nazis, den Verfassungsschutz und das kapitalistische System als Ganzes auf die Straße gehen und uns darüber hinaus antifaschstisch, gewerkschaftlich und sozialistisch organisieren.

Nur mit einem Kampf für eine sozialistische Gesellschaft, in welcher es darum geht miteinander die gesellschaftlichen Prozesse demokratisch auszuhandeln, wodurch Menschen mit verschiedenster Herkunft und unterschiedlichsten Hintergründen viel mehr in Berührung kommen und gesellschaftliche Spaltungsmechanismen wie Rassismus und andere Formen der Diskriminierung nicht mehr nötig sind, kann die Gefahr von rechts nachhaltig bekämpft werden.

Deshalb: schließ dich uns an und werde aktiv gegen Kapitalismus, rechte Hetze und Nazi-Strukturen in der Gesellschaft und im Verfassungsschutz – für den Sozialismus und eine effektive Bekämpfung von rechten Gewalttätern und Brandstiftern!

Referenzen:

1: Schnell, Lisa. “Bayerns Verfassungsschutz darf auf Vorratsdaten zugreifen”. Süddeutsche Zeitung, 2016, https://www.sueddeutsche.de/bayern/innere-sicherheit-bayerns-verfassungsschutz-darf-auf-vorratsdaten-zugreifen-1.3067677. Letzter Zugriff: 22. Dezember 2023.

2: Bundesverfassungsgericht (BVerfG). “Bayerisches Verfassungsschutzgesetz teilweise verfassungswidrig” bundesverfassungsgericht.de, 2022, https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2022/bvg22-033.html. Letzter Zugriff: 22. Dezember 2023.

3: Bundesverfassungsgericht. “Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Übermittlung mit nachrichtendienstlichen Mitteln erhobener personenbezogener Daten”. bundesverfassungsgericht.de, 2022, https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2022/bvg22-085.html. Letzter Zugriff: 22. Dezember 2023

4: Götschenberg, M., & Heil, G. “Mutmaßlicher Spion beim BND – Schwere Mängel bei Sicherheitsüberprüfung”. tagesschau.de, 2023, https://www.tagesschau.de/investigativ/rbb/bnd-landesverrat-russland-mitarbeiter-carsten-l-101.html. Letzter Zugriff: 22. Dezember 2023

5: Steinke, R. “Lizenz zum Anschwärzen”. Süddeutsche Zeitung, 2023, https://www.sueddeutsche.de/politik/verfassungsschutz-befugnisse-faeser-agenten-folgen-buerger-1.6294133. Letzter Zugriff: 22. Dezember 2023

6: Bundesjustizministerium. “§ 19 BVerfSchG – Einzelnorm”. Gesetze im Internet, https://www.gesetze-im-internet.de/bverfschg/__19.html. Letzter Zugriff: 22. Dezember 2023

7: Sehl, M. “Das große Aufräumen beginnt”. LTO, 2022, https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/bverfg-1bvr161917-verfassungsschutz-bayern-bund-ueberwachung-kontrolle-v-leute-online-durchsuchung/. Letzter Zugriff: 22. Dezember 2023

8: Meister, A., Kulbatzki, J., & Pitz, L. “‘Notdürftige Reparatur’ und nicht verfassungskonform”. Netzpolitik.org, 2023, https://netzpolitik.org/2023/bnd-und-verfassungsschutz-notduerftige-reparatur-und-nicht-verfassungskonform/#netzpolitik-pw. Letzter Zugriff: 22. Dezember 2023

9: Hagen, U. . “‘Schädlich für Deutschland’: Unternehmer warnen vor der AfD”. Frankfurter Rundschau, 2023, https://www.fr.de/wirtschaft/schaden-gefahr-deutschland-unternehmer-afd-bdi-wahlen-wirtschaftsstandort-deutschland-sachsen-thueringen-brandenburg-zr-92739851.html. Letzter Zugriff: 27. Dezember 2023