Verteidigung zum 100. Todestag
Lenin – Demagoge, Wegbereiter für den Stalinismus, rücksichtsloser Diktator… Attribute dieser Art werden dem Marxisten und revolutionären Anführer angeheftet.
Von Angelika Teweleit, Sol-Bundesleitung
Obwohl Wladimir Putin bei seinem Angriffskrieg auf die Ukraine Lenin aufgrund seiner Losung des Selbstbestimmungsrechts aller Völker und Nationen scharf verurteilt hat, hindert das westliche Historiker*innen nicht daran, ihn als Nachfolger von Lenins Politik zu bezeichnen. Dabei würde Lenin heute vom Oligarchen Putin verfolgt, denn er wäre sein gefährlichster Gegner.
Der als Lenin bekannt gewordene Wladimir Iljitsch Uljanow, geboren 1870, war zusammen mit Leo Trotzki eine Schlüsselfigur in der Russischen Revolution von 1917. Bereits während seines Studiums zum Rechtsanwalt begann er, den Marxismus eingehend zu studieren. Aufgrund seiner revolutionären Tätigkeiten wurde er verfolgt, in der Verbannung in Sibirien setzte er sein Studium und Aktivitäten fort. Mehrmals musste er ins Exil und hielt sich zeitweise in der Schweiz, in Deutschland und in England auf, wo er mit sozialistischen und revolutionären Kreisen in Verbindung trat und sein Verständnis für revolutionäre Theorie, Strategie und Taktik schärfte.
Bolschewiki
Wie kaum ein anderer erkannte er die Notwendigkeit des Aufbaus einer revolutionären Partei mit klarem marxistischen Programm als notwendige Voraussetzung für eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft. 1898 war er Mitbegründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR), deren 1903 gebildete Mehrheitsfraktion (Bolschewiki) er führte. Diese 1912 zur Partei gewordenen Bolschewiki konnten sich Jahre durch geduldige Arbeit in den Betrieben und Arbeiter*innenvierteln, das Eingreifen in Klassenkämpfe sowie viele Diskussionen und teils sehr scharfe Debatten über Theorie, Strategie und Taktik auf die revolutionären Ereignisse von 1917 vorbereiten, wie es keine andere Partei international tat.
Ganz anders, als behauptet wird, hatten die Ziele und Methoden der Bolschewiki und Lenins nichts gemein mit denen, die Stalin nach Lenins Tod anwendete und als „Leninismus“ verkaufte. Lenins letzter Kampf war der gegen den Aufstieg der konterrevolutionären stalinistischen Bürokratie.
Demokratischer Zentralismus
Um Lenin und den Marxismus zu diskreditieren, wird oft behauptet, der Stalinismus habe seinen Ursprung bereits im Prinzip des „demokratischen Zentralismus“, nachdem die Partei der Bolschewiki aufgebaut war. Wie wenig das den Tatsachen entspricht, wird deutlich, wenn man Lenin selbst liest: „Nach unserer tiefen Überzeugung müssen die sozialdemokratischen Arbeiterorganisationen einheitlich sein, aber in diesen einheitlichen Organisationen soll eine breite und freie Erörterung der Parteifragen, eine freie und kameradschaftliche Kritik und Beurteilung der Erscheinungen des Parteilebens erfolgen.“ (Lenin: Appell an die Partei, 1906). So hat Lenin oft die Mehrheit der Partei erst nach ausgiebiger Diskussion für seine Position gewonnen, so auch 1917. Auch diese Debatten waren notwendige Voraussetzung für die Machtübernahme der Arbeiter*innenklasse im Oktober 1917.
Lenin in der Russischen Revolution
Im Februar 1917 stürzten Arbeiter*innen und Bäuer*innen den Zaren durch Massenstreiks, weil sie genug von Krieg und Hungersnot hatten. Aus der Bewegung hatten sich nach dem Vorbild der russischen Revolution von 1905 Sowjets (Räte) von Arbeiter*innen, Bäuer*innen und Soldaten gebildet. Gleichzeitig wurde eine provisorische Regierung unter Führung des Bürgertums gebildet. Die Menschewiki, die Minderheitsströmung aus der alten russischen Sozialdemokratie, von denen sich die Bolschewiki endgültig 1912 getrennt hatten, waren in diese Regierung eingetreten. Zu diesem Zeitpunkt erklärten auch führende Köpfe der Bolschewiki wie Stalin und Kamenev ihre Unterstützung für die provisorische Regierung. Sie gingen davon aus, dass im rückständigen russischen Reich zunächst die Zeit für eine bürgerlich-demokratische Revolution gekommen war und nicht für eine sozialistische Revolution unter Führung der zahlenmäßig schwachen Arbeiter*innenklasse. Für Lenin war jedoch klar, dass das russische Bürgertum zu schwach war, um diese Aufgabe zu erfüllen. Leo Trotzki (der zwar viele Positionen Lenins teilte, aber zunächst nicht in der Organisationsfrage, weshalb er sich erst 1917 den Bolschewiki anschloss) hatte schon 1905 die „Theorie der permanenten Revolution“ entwickelt. Diese beinhaltete die Analyse, dass die vom internationalen Kapital abhängige russische Bourgeoisie noch mit dem alten feudalistischen System verbunden war. Für die Masse der arbeitenden Bevölkerung – Bäuer*innen und Arbeiter*innen – würde sich unter Führung des Bürgertums nichts ändern. Die provisorische Regierung konnte daher den Erwartungen und Wünschen der Massen nicht gerecht werden.
Lenin kämpfte bei seiner Ankunft aus dem Schweizer Exil in Petrograd im April 1917 erfolgreich für eine von den Bürgerlichen unabhängige Position der Bolschewiki: keinerlei Unterstützung für die provisorische Regierung, stattdessen alle Macht den Räten aus Arbeiter*innen, Bäuer*innen und Soldaten. Lenin erkannte auch die vorher nur von Trotzki vertretene These an, dass die Arbeiter*innenklasse, trotz ihrer zahlenmäßigen Schwäche (im Vergleich zu den Bäuer*innen), aufgrund ihrer zentralen gesellschaftlichen Position und Kollektivität in den Fabriken die Macht in die eigenen Hände nehmen und sozialistische Maßnahmen durchsetzen musste.
Bolschewiki erlangen Mehrheit
Die provisorische Regierung unter Kerenski erwies sich als unfähig und unwillig, den Forderungen der Massen nachzukommen. Die Bauern erhielten kein Land, die Unterdrückung der Völker des Zarenreichs wurde fortgesetzt wie auch die Teilnahme am Ersten Weltkrieg. Es bewahrheitete sich, was Lenin in einem Brief an den Bauernkongress im Mai 1917 geschrieben hatte: „Die Erfahrung wird den Massen bald zeigen, dass die Rettung Russlands, das sich ebenso wie Deutschland und die anderen Länder am Rande des Abgrundes befindet, dass die Rettung der durch den Krieg zermarterten Völker nicht durch Kompromisse mit den Kapitalisten erreicht werden kann. Die Rettung aller Völker ist nur möglich durch den direkten Übergang der Staatsmacht in die Hände der Mehrheit der Bevölkerung.“ Hier ist wichtig, zu erkennen, was das Ziel Lenins und der Marxist*innen weltweit war: keine Diktatur eines Mannes oder einer Clique, wie es behauptet wird, sondern „Übergang der Staatsmacht in die Hände der Mehrheit der Bevölkerung“!
Auf der Grundlage eines Programms, was die Nöte der Massen aufgriff, mit zentralen Forderungen nach „Brot, Land und Frieden“ konnten die Bolschewiki im Verlauf der Revolutionsmonate eine Mehrheit in den Sowjets gewinnen, die vorher noch von den Menschewiki und Sozialrevolutionären dominiert waren und in denen die Bolschewiki eine kleine Minderheit dargestellt hatten.
Oktober 1917
Im Oktober 1917 gab es keinen Putsch, wie es oft behauptet wird, sondern einen geplanten Aufstand zur vollständigen Übernahme der Macht an die Vertreter*innen aus der Masse der arbeitenden Bevölkerung. Die endgültige Machtübernahme der Sowjets bedeutete zunächst das demokratischste Staatsgebilde, was es je gab. Die durch und durch demokratischen Prinzipien hatte Lenin in der Broschüre „Staat und Revolution“ ausgeführt, in denen er sich auf die Schriften von Marx und Engels und die Erfahrungen aus der Pariser Kommune 1871 bezog: jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit aller Funktionsträger*innen, Rechenschaftspflicht und keine Privilegien, die Abschaffung eines stehenden Heeres.
Keine Partei außer der semi-faschistischen „Schwarzen Hundertschaft“ wurde anfangs verboten. Doch der neue Arbeiter*innenstaat musste sich dann gegen den Einmarsch von 21 imperialistischen Armeen wehren und im Inneren gegen die Kräfte, die ebenfalls mit Waffengewalt die alte Herrschaft wieder einsetzen wollten – inklusive der Menschewiki und Sozialrevolutionäre. Für Lenin und Trotzki war immer klar, dass Maßnahmen, wie Zensur und Parteienverbote, nur aus der Situation des Bürgerkriegs geboren waren und danach wieder aufgehoben werden mussten.
Internationale Revolution
Die Arbeiter*innenregierung ging an die Verteilung des Landes und die Enteignung der Banken und Großindustrie. Sie handelte einen Separatfrieden aus und inspirierte Millionen von Arbeiter*innen weltweit. Niemand innerhalb der Bolschewiki zweifelte in dieser Zeit daran, dass die Revolution in Russland allein nicht Bestand haben konnte und weitere sozialistische Revolutionen international nötig waren und auch stattfinden würden. Deshalb sah auch Lenin eine der wichtigsten Aufgaben darin, 1919 eine neue Kommunistische Internationale aufzubauen, nachdem die Zweite Internationale ihren Segen dafür gegeben hatte, dass Arbeiter*innen sich im Ersten Weltkrieg millionenfach gegenseitig töten mussten.
Der Funke der erfolgreichen Oktoberrevolution sprang über, wie zum Beispiel auch nach Deutschland. Die Kommunistische Internationale hatte Millionen Unterstützer*innen. Doch es gelang nirgends, eine erfolgreiche sozialistische Revolution durchzuführen, vor allem aufgrund des Mangels einer programmatisch klaren revolutionären sozialistischen Organisation, wie es die Bolschewiki waren.
Kampf gegen Bürokratie
Das bedeutete, dass die Sowjetunion isoliert blieb. Auf der Basis von Bürgerkrieg und Hungersnöten konnte keine gesunde Arbeiter*innendemokratie entstehen. Stattdessen entwickelte sich eine Bürokratie, die sich von den Zielen der Bolschewiki entfernte.
Im Dezember 1922 schrieb Lenin vom Krankenbett: „Jetzt aber müssen wir … sagen, dass wir einen Apparat als eigenen bezeichnen, der uns in Wirklichkeit noch durch und durch fremd ist und ein bürgerlich-zaristisches Gemisch darstellt, das wir beim besten Willen in den fünf Jahren nicht überwinden konnten, in denen uns die Hilfe anderer Länder fehlte und wir uns vorwiegend militärisch ‘betätigten’ und die Hungersnot bekämpften“. Diesen Kampf konnte er selbst nicht weiter führen, denn er erlag im Alter von erst 53 Jahren den Folgen seines vierten Schlaganfalls am 21. Januar 1924.
Stalin entwickelte unter dem Deckmantel eines vermeintlichen Leninismus die Theorie vom „Sozialismus in einem Land“ und errichtete ein Terror-Regime, um jegliche Opposition im Keim zu ersticken. Leo Trotzki führte den Kampf gegen die Bürokratisierung der UdSSR sowie der Kommunistischen Internationale fort.
Bei dem Bemühen, Lenin als Wegbereiter Stalins und Diktator darzustellen, geht es darum, Sozialismus als Gesellschaftsalternative zu diskreditieren. Angesichts der sich enorm verschlimmernden Krisen dieses Systems ist eine solche Verfälschung aus Sicht der Mächtigen und Verteidiger ihres Systems immer noch nötig. Doch revolutionäre Massenbewegungen, wie wir sie im so genannten Arabischen Frühling oder in den letzten Jahren zum Beispiel in Sri Lanka, Sudan, Myanmar und anderen Ländern gesehen haben, werden in der nächsten Zeit an der Tagesordnung sein. Bisher wurden dabei nur kapitalistische Regime durch andere ersetzt.
Man stelle sich eine Situation vor, wenn wie im Oktober 1917 die Arbeiter*innenklasse in einem Land die Macht übernähme. Dies wäre ein Funke, der international überspringen würde. Um das zu erreichen, braucht es ein klares sozialistisches Programm, welches von einer aktiven Mehrheit der Arbeiter*innenklasse in einer revolutionären Bewegung unterstützt wird. Ein solches Programm kann sich nur verwirklichen, wenn international Organisationen bzw. Parteien aufgebaut werden, die es verbreiten, zu jedem Zeitpunkt in Kämpfen weiter entwickeln und zur Anwendung bringen. Dieser Aufgabe widmet sich, wie auch schon Lenin, das Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI).