40 Jahre Streik für die 35-Stunden-Woche 

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Zwei Berichte von Veranstaltungen in Stuttgart über den Streik 1984

Eigentlich wäre es Aufgabe der IG Metall und ver.di- Führung, das 40jährige Jubiläum des erfolgreichen Streiks für die 35-Stunden-Woche in die Betriebe und Mitgliedschaft zu tragen und öffentliche Veranstaltungen mit breiter Mobilisierung zu organisieren. Damit könnte gezeigt werden, was Gewerkschaften erkämpfen können. Warum passiert das nicht? Weil weder die IGM- noch die ver.di-Führung so einen Streik nochmal führen wollen. So bleibt es einzelnen Gliederungen der Gewerkschaften und der Linken überlassen, an diesen Streik zu erinnern und die Lehren zu diskutieren. 

In Stuttgart gab es von der Sozialistischen Organisation Solidarität (Sol) am 14. Mai eine öffentliche Veranstaltung. Am 3. Juni luden das Zukunftsforum Stuttgarter Gewerkschaften, ver.di Stuttgart und DIDF zu einer Veranstaltung ein. Im Folgenden finden sich zwei Berichte der beiden Veranstaltungen von Mitgliedern der Sol Stuttgart. Im DGB-Haus gibt es von der Rosa-Luxemburg-Stiftung zudem bis Anfang August eine Ausstellung zum Thema sowie am 29. Juni eine Tagung.

Veranstaltungshinweise:

Am Samstag, 29. Juni findet in Stuttgart eine ganztägige Tagung der Rosa Luxemburg in Zusammenarbeit mit der Zeitschrift „Sozialismus“, dem DGB Baden-Württemberg und dem ver.di Landesbezirk Baden-Württemberg zu „40 Jahre Kampf um die 35-Stunden-Woche Tagung – ein Blick zurück nach vorne“ statt. Mehr Informationen dazu hier: https://bw.rosalux.de/veranstaltung/es_detail/ZEID8 

Im Willi-Bleicher-Haus in Stuttgart gibt es bis 8. August 2024 eine Ausstellung zum Streik für die 35-Stunden-Woche. Mehr Infos dazu hier: https://bw.rosalux.de/veranstaltung/es_detail/E1O7T 

Die Eröffnungsrede bei der Ausstellung hielt Heidi Scharf, langjährige Funktionärin in der IG Metall und Mitglied von DIE LINKE. Die Rede kann hier heruntergeladen werden: https://cms.rosalux.de/fileadmin/ls_bw/dokumente/Heidi_Scharf_Er%C3%B6ffnungsrede_Ausstellung_35-Stunden-Woche.pdf 

Am 14. Mai veranstaltete die Sozialistische Organisation Sol eine Diskussionsveranstaltung. Dazu ein Bericht von Stuttgarter Sol-Mitgliedern:

„Der Streik für die 35-Stunden-Woche war ein Höhepunkt in meinem Leben“

Bericht von einer Veranstaltung der Sol-Stuttgart zum 40jährigen Jubiläum des Streiks für die 35-Stunden-Woche

Zwei Zeitzeug*innen berichteten bei einer Veranstaltung der Ortsgruppe Sol in Stuttgart Mitte Mai über ihre Erfahrungen und Einschätzungen aus dem Streik im Mai und Juni 1984. Peter Hensinger, Jahrgang 1948, war damals Rollenoffsetdrucker und Betriebsrat in der Druckerei Fink in einem Nachbarkreis von Stuttgart (1). Daneben war er Mitglied im Ortsverband der IG Druck und Papier (Drupa) und Mitglied der betrieblichen und örtlichen Streikleitung. Ursel Beck, Jahrgang 1954, war damals in der Vorgängerorganisation der Sol und über die Stuttgarter Jusos aktiv in der Streikbewegung u.a. als „fliegender Streikposten“.

Historischer Streik für Tabubruch 40-Stunden-Woche

Sieben Wochen haben damals die Metaller*innen und 13 Wochen die Arbeiter*innen in der Druck- und Papierindustrie für die Einführung der 35-Stunden-Woche gestreikt. Beide Zeitzeug*innen waren sich einig, dass dieser Streik ein historischer Streik war. Ursel Beck bezeichnete ihn bis heute als „größte und härteste Klassenauseinandersetzung in der Nachkriegszeit”. Die Generation der damals in der Arbeiter*innenbewegung Aktiven und auch viele Kolleg*innen, die sich im Streik erst aktivierten, wurden von diesem Streik geprägt.  Stuttgart war ein Schwerpunkt des Streiks. Sowohl Ursel als auch Peter erinnerten daran, dass Unternehmer*innen, Medien und Regierung, die 40-Stunden Woche zum Tabu erklärten. Sie zogen alle Register, die ihnen zur Verfügung standen, um ihr Ziel zu erreichen. Am Ende scheiterten sie. Sowohl in der Druckindustrie als auch in der Metallindustrie wurde die Arbeitszeit im ersten Schritt auf 38.5 Stunden reduziert. Obendrauf gab es eine Lohnerhöhung und eine (gesetzliche) Vorruhestandsregelung.

Kampagne der Kapitalist*innen und Gegenkampagne von IGM und Drupa

Nach einer massiven Kampagne der Unternehmer*innen in den Betrieben und einer starken Medienkampagne gegen die 35-Stunden-Woche, primär getragen durch den Axel-Springer-Verlag, war zunächst die Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder gegen die 35-Stunden-Woche. Unternehmer*innen und Regierung witterten deshalb die Chance, den Gewerkschaften eine Niederlage beizubringen und sie zu schwächen.  Als Reaktion darauf entwickelten IGM und Drupa eine offensive Mobilisierungs- und Kampfstrategie mit Diskussionen auf allen Ebenen, Flyern, Broschüren und dem Symbol der über der 35 aufgehenden Sonne.  Die für die 35-Stunden-Woche verbreiteten Argumente überzeugten.  Dadurch gelang es, dass bei den Drucker*innen 83% und bei den Metaller*innen im Streikbezirk Nordwürttemberg/Nordbaden 80,1% in der Urabstimmung für Streik stimmten. 

Arbeitsbelastung und Arbeitslosigkeit  

Peter berichtete, wie die Arbeitsbedingungen in den Druckereien halfen, die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung populär zu machen:  12-Stunden-Schichten waren die Regel an großen und komplizierten Maschinen, die im Schnitt fünf Jahre Einarbeitungszeit benötigten. Die Belastung für die Arbeiter*innen war enorm: Unter der Hand hieß es, dass 1/3 der Belegschaft gesund und 1/3 krank in Rente gehen – und 1/3 vor der Rente stirbt. Dazu kamen drohende Rationalisierungs- und Automatisierungsmaßnahmen wie Roboter und immer schnellere Maschinen sowie die steigenden Arbeitslosenzahlen in der Bundesrepublik Deutschland. Ursel erinnerte daran, dass die Arbeitslosigkeit vor dem Streik bei zwei Millionen lag. Das war eine Arbeitslosenquote von über 9,1%. 

Die Streikfront stand

Bei der Druckerei Fink wurde der erste Streiktag um fünf Uhr am Morgen begonnen, berichtete Peter Hensinger. Trotz der andauernden Schikane seitens der Geschäftsführung sowie deren Versuche, die Streikenden zu spalten und Streikbrecher*innen anzuwerben, blieb die Belegschaft solidarisch. Die meist aus zwei bis drei Facharbeiter*innen und sieben bis acht  Hilfsarbeiter*innen bestehenden Schichten solidarisierten sich und hielten zusammen. Als wichtigen Faktor dafür, dass die Streikfront geschlossen war,  erwähnte Peter,  dass sich die Streikenden jeden Tag aufs Neue zur Streikgelderfassung und gemeinsamen Planung und Zeitvertreib trafen. Dadurch sei trotz verhältnismäßig niedrigem Streikgeld viel Solidarität entstanden.  „Die Solidarität, die ich da erlebte, das war ein Höhepunkt in meinem Leben“, so Peter Hensinger. Weiteren Auftrieb erhielten die Streikenden durch einen Vorfall, bei dem ein Lieferwagen einen Streikposten lebensgefährlich verletzte. Die Streikposten vor dem Druckzentrum, in dem das passierte wurde dann durch eine große Blockade an der sich Metaller*innen, Gewerkschafter*innen aus anderen DGB-Gewerkschaften und auch die Stuttgarter Jusos und andere Linke beteiligten. Das führte dazu, dass die  Auslieferung der Notausgabe der Stuttgarter Zeitung verhindert wurde. 

Peter berichtet, dass die Drucker*innen mit dem bei der IGM angenommenen Kompromiss nicht einverstanden waren und von unten durchsetzten, dass weiter gestreikt wurde. Allerdings stand bei den Drucker*innen am Ende auch nicht die 35-Stunden-Woche, sondern nur die 38,5-Stunden-Woche. Allerdings im Gegensatz zu Metall für alle und nicht nur im Betriebsdurchschnitt. Peter und viele seiner Kolleg*innen waren enttäuscht und riefen dazu auf, bei der Urabstimmung zur Annahme des Schlichterspruchs mit Nein zu stimmen. Aber das Angebot wurde in der Urabstimmung akzeptiert. Peter berichtete wie die Chef*innen nach dem Streik versuchten Rache zu nehmen und die aktiven Gewerkschafter*innen und Betriebsrät*innen zu schikanieren.

Streik und Betriebsbesetzungen in der Metallindustrie

Parallel zu den Streiks der Druck- und Papierindustrie fand ein 7-wöchiger Streik der Metallindustrie statt.  Aber es ging nicht nur um Arbeitszeitverkürzung. Es ging den Streikenden darum, das Kräfteverhältnis zugunsten der Arbeiter*innenklasse zu verschieben. Das zeigte sich auch daran, dass die Ausperrungen der Unternehmer*innen die Wut in Betrieben steigerte und die Stimmung weiter radikalisierte. Die Belegschaft von Daimler in Sindelfingen kam der Aussperrung durch Streik zuvor. Dem IGM-Vorstand blieb nichts anderes übrig, als diese Streikausweitung zu akzeptieren. In zwei Metallbetrieben gab es Betriebsbesetzungen als Antwort auf Aussperrung.  250.000 Gewerkschafter*innen demonstrierten in Bonn gegen Aussperrung und dagegen, dass die Bundesagentur für Arbeit den kalt Ausgesperrten entgegen dem Gesetz, das Kurzarbeiter*innengeld verweigerte. Ursel Beck zitierte aus einem Bericht des damals zweiten Bevollmächtigten der IGM Schwäbisch Gmünd, Herrmann Rettich: „Aus den Kämpfen und Aktionen spricht eine große Sehnsucht nach einer freien Gesellschaft. Eine Sehnsucht nach Selbstbestimmung und nach Mitbestimmung.“ Bestärkt wurde die Aufbruchstimmung durch linke Betriebsrats-Listen und viele linke klassenkämpferische Gewerkschafter*innen. Dies brachte auch Peter Hensinger bei der Sol-Veranstaltung zum Ausdruck: „Der Zeitgeist war positiv. Wir wehren nicht nur Verschlechterungen ab, sondern wollen tatsächlich Verbesserungen. Die Stimmung war links, viele Kollegen und Kolleginnen waren SPD orientiert bis hin zu sozialistisch. Es gab ein Selbst- und Klassenbewusstsein“.

Kritik an Streiktaktik  

Diskussionspunkt waren auch die innergewerkschaftlichen Auseinandersetzungen um die Forderung nach 35-Stunden-Woche, die Streiktaktik und den Kompromiss am Ende.  

Peter berichtete, dass die flexible Streiktaktik der Gewerkschaft Drupa darin bestand, nach Phasen von Streikwochen wieder zu arbeiten und dann wieder zu streiken. Das stieß auf Kritik in den Streikbelegschaften. Er berichtet, wie sich seine Belegschaft eine weitere Unterbrechung des Streiks verweigerte, weil sie nicht bereit waren, sich dem Psychoterror im Betrieb auszusetzen. Bei einer Streikversammlung wurde beschlossen, nicht zurückzugehen und der Gewerkschaftsführung blieb nichts anderes übrig, als das zu akzeptieren.

Ursel berichtete, dass es in der  IGM Unmut über die sogenannte Minimax-Streikstrategie gab, wonach nur einige Zulieferbetriebe in den Streik geholt wurden. Auf dem Höhepunkt des Streiks gab es 60.000 Streikende und 380.000 Ausgesperrte. Das führte zu einer Spaltung, weil sich die Ausgesperrten als Opfer des Streiks sahen und die Streikenden als Akteure. Viele Belegschaften und auch Angestellte, die nicht zum Streik aufgerufen wurden, verlangten, zum Streik aufgerufen zu werden. Das wurde aber von der IGM-Spitze abgelehnt.

Rolle der Gewerkschaftsführung 

Ursel  erklärte, dass die IGM-Führung einen Spagat zwischen offensivem Vorgehen und Bremsen machte. Das fing an bei der Diskussion um die  Forderung nach der 35-Stunden-Woche und ging bis zum Ende des Streiks.  Aufgrund der Entschlossenheit der herrschenden Klasse, Arbeitszeitverkürzung zu verhindern und der IGM eine Niederlage beizubringen, war die IGM-Führung aus Gründen des eigenen Machterhalts gezwungen, die Mitgliedschaft zu mobilisieren. Hinzu kam, dass in Folge der Radikalisierung Ende der 60er und in den 70er Jahren auf allen Ebenen in der Gewerkschaft auch linke Kolleg*innen in Vorstände gewählt wurden.  So wurde zum Beispiel bei der Veranstaltung von Peter Hensinger Detlef Hensche erwähnt, der damals zweiter Vorsitzender der Gewerkschaft Drupa war. Es gab also Druck von links innerhalb der Gewerkschaften auf die Führung.  Die Gewerkschaftsführung wollte die Auseinandersetzung jedoch nicht auf die Spitze treiben und pfiff kämpferische Belegschaften immer wieder zurück und vor allem wollten sie eine Ausweitung von Betriebsbesetzungen verhindern. Am Ende sollte nicht die 35-Stunden-Woche sondern ein Kompromiss stehen. Dies wurde dann auch durch ein Schlichtungsverfahren durchgesetzt. Eine der häufigsten Parolen im Streik war: „35 auf einen Schlag, Samstag ist kein Arbeitstag“.  Dadurch sollten möglichst viele Arbeitsplätze geschaffen werden und den Unternehmern die Möglichkeit genommen werden, die verkürzte Arbeitszeit durch Intensivierung der Arbeit auszugleichen.  Die stufenweise Einführung der 35-Stunden-Woche hatte diesen Effekt nicht. Und das war absehbar. Bis in die Tarifkommission hinein gab es Unmut über den Kompromiss.  In der Tarifkommission gab es 31 Stimmen gegen die Annahme des Schlichterspruchs. Eine Mehrheit von 87 Mitgliedern stimmte jedoch zu. In der Urabstimmung stimmten 54,52% für den Kompromiss. In den Streikbetrieben gab es eine hohe  Ablehnung.  Es sollte noch 10 Jahre dauern, bis die 35h-Woche endgültig in der Metall- und Druckindustrie ihren Einzug fand.

Streikkultur

Peter Hensinger erinnerte  daran, dass die Kolleg*innen im Streik eine ungeheure Kreativität entwickelten und Kultur eine große Rolle im Streik spielte. Peter Hensinger selbst spielte in einer Rockband und komponierte einen Streiksong. Er berichtete, dass er ihn unter großem Beifall bei einer  Streikversammlung vorgetragen hatte. Bei der Sol-Veranstaltung gab er ihn nochmal zum Besten.  Darin heißt es am Schluß:

„Uns gehört diese Welt 

Wir sind nicht Knechte reicher Herrn 

Unsere Kraft den Reichtum schafft 

Den der Bonze an sich rafft 

Ohne Euch gehört uns die Fabrik 

Kein Bonze sitzt uns im Genick 

Die Stoppuhr kommandiert kein Band 

Wir planen selbst – mit klarem Verstand“ 

Neuaufbau der organisierten Arbeiter*innenbewegung notwendig 

Diskutiert wurde bei der Veranstaltung auch die Frage, warum Gewerkschaften heute so extrem angepasst sind an die kapitalistischen Verhältnisse, obwohl die multiplen Krisen die Systemfrage aufdrängen. Als Wendepunkt in der Entwicklung wurde die Rückkehr des Kapitalismus im Osten gesehen. Dieser Sieg der Kapitalist*innenklasse hat ihr eine ideologische Offensive erlaubt, die zur Demoralisierung unter den Linken geführt hat. Das hat es der SPD-Führung erlaubt aus der ehemaligen Arbeiter*innenpartei eine waschechte Unternehmer*innenpartei zu machen und die Gewerkschaftsführung konnte weit nach rechts abdriften ohne Widerstand von der Basis zu befürchten. Sol-Mitglieder betonten bei der Veranstaltung, dass es wichtig ist, die Arbeiter*innenbewegung auf antikapitalistischer Grundlage neu aufzubauen. Die Sol kämpft deshalb in den Gewerkschaften für eine klassenkämpferische Ausrichtung und sieht die Notwendigkeit einer starken sozialistischen Arbeiterpartei, die auch in die Gewerkschaften wirkt.  

Die Sehnsucht der Menschen nach einer freien, besseren Welt bleibt nach wie vor bestehen. Es liegt an uns allen, sie aufzugreifen und in sozialistische Programmatik und Streik wie 1984 zu verwandeln.

Am 3. Juni luden das Zukunftsforum Stuttgarter Gewerkschaften mit dem ver.di-Bezirk Stuttgart und DIDF zu einer Veranstaltung mit Zeitzeugen ein. Dazu ein Bericht von Stuttgarter Sol-Mitgliedern:  

„Wer aussperrt gehört eingesperrt und enteignet“  

40 Jahre Streik für die 35-Stunden-Woche – Zeitzeug*innen berichten 

Einen Hauch der Stimmung aus dem Streik von 1984 kam am 3. Juni bei einer Veranstaltung vom Zukunftsforum Stuttgarter Gewerkschaften, ver.di Stuttgart und DIDF im Stuttgarter Gewerkschaftshaus auf. Just an dem Ort, an dem es 1984 viele hitzige Debatten bei Versammlungen und Treffen gab. An dem Ort, an dem am 27. Juni 1984 tausend Streikposten bei der Sitzung der Tarifkommission den Großen Saal besetzten, um eine Ablehnung des Schlichterspruchs durch die Tarifkommission zu fordern. 

Zeitzeug*innen, allesamt heute Rentner*innen, berichteten mit großem Engagement über den Streik damals und über die konkrete Situation in ihrem Betrieb. Welche Bedeutung der Streik für sie hatte, zeigte sich auch daran, dass einige Material von damals mit dabei hatten und andere beklagten, dass sie nicht an die Unterlagen im Betrieb mehr rankommen bzw. sie wohl auch inzwischen vernichtet seien.  

Christa Hourani vom Zukunftsforum Stuttgarter Gewerkschafter erinnerte in Ihrer Begrüßung und Einleitung zu der Veranstaltung, dass der Streik für die 35-Stunden-Woche eine große gesellschaftliche Ausstrahlung hatte und der letzte Machtkampf zwischen Kapital und Gewerkschaften war, der über den Streik hinaus gewirkt hat. Die Gewerkschafter*innen aus ganz Europa hätten damals auf die IG Metall geschaut. Am 19. Juni hätte es auch einen Solidaritätsstreik für den Streik für die 35-Stunden-Woche gegeben. Bei der Veranstaltung wurde von mehreren Zeitzeug*innen darauf hingewiesen, dass sich der Streik hierzulande mit dem Streik der britischen Bergarbeiter überschnitten hätte und es eine große Unterstützung für die Bergarbeiter gab. Der Bergarbeiterstreik war Thema bei Streikversammlungen, es wurden Solidaritätsadressen geschrieben und Geld für die ohne Streikgeld streikenden Bergarbeiter gesammelt.

Hohe Kampfmoral

Aus allen Beiträgen der Zeitzeug*innen ging hervor, dass es eine hohe Kampf- und Streikbereitschaft gegeben hatte. Christa Hourani wies darauf hin, dass nur in zwei IGM-Bezirken überhaupt eine Urabstimmung für Streik durchgeführt wurde und ein Streik geplant wurde. Dabei hatten 12 von 17 IGM-Bezirken die Urabstimmung beantragt. Roland Saur, damals bei Bosch in Stuttgart-Feuerbach beschäftigt, erklärte die Kampfbereitschaft und das hohe Klassenbewusstsein mit der Radikalisierung seit Ende der 60er Jahre, dem Mai 68 in Frankreich, den wilden Septemberstreiks und den Streiks in den 70er Jahren bis zum erfolgreichen Streik gegen Abgruppierung 1978. Es gab aber immer noch eine starke rechte Fraktion in der IGM, die in den Betriebsräten und im IGM-Apparat die Kontrolle hatte. Sie versuchten die Linken zu isolieren, bis hin zu Gewerkschaftsausschlüssen. Roland Saur war selbst auch eine Zeitlang ausgeschlossen, weil er zu links war. Gert Aldinger erinnerte sich daran, dass der damalige Porsche-Betriebsratsvorsitzende gegen die 35-Stunden-Woche und gegen den Streik war. Er hätte immer gesagt, die lachende Sonne in dem Emblem im Kampf für die 35-Stunden-Woche wäre der „lachende Japaner“. 

Propaganda von oben und Gegenkampagne von unten

In mehreren Beiträgen wurde auf das extreme Trommelfeuer von Arbeitgeber*innen, Medien und Regierung hingewiesen. Peter Hensinger, damals in der betrieblichen und örtlichen Streikleitung, erklärte dazu: „Die tägliche Hetze in der Tagesschau hat in den Belegschaften das Gegenteil bewirkt“. Siggi Deuschle, damals bei Daimler in Sindelfingen beschäftigt, berichtete, dass es in der Breite der Gesellschaft anders war. Beim Bäcker und Metzger und überall waren die Streikenden und ihre Ehepartner*innen mit Gegenwind konfrontiert. Dem wurde aber durch eine Öffentlichkeitskampagne, durch Infostände, Solidaritätskomitees Abhilfe geschaffen. Ein ehemaliger Kollege von SEL wies darauf hin, dass es der sozialistische Gewerkschafter Jakob Moneta (von 1962 bis 1978 Chefredakteur der Mitgliederzeitung „Metall“) war, der ein Massenflugi mit der Überschrift „Auf ein Wort liebe Mitbürger“ schrieb in dem er hervorragend und leicht verständlich für die 35-Stunden-Woche und Streikunterstützung warb. Dieses Flugblatt wurde massenhaft von Gewerkschafter*innen, Solikomitees und Linken verteilt und zeigte Wirkung.

Solidarität war groß geschrieben

Roland Saur berichtete, dass die Linken in den Gewerkschaften in ihrem Umfeld auch einen Solifonds aufgebaut hatten, mit dem die vielen linken streikenden Kolleg*innen, die aus der IG Metall ausgeschlossen waren und kein Streikgeld bekamen, finanziell unterstützt wurden. Peter Hensinger berichtete, dass das Streikgeld auch für viele Druckerkolleg*innen nicht reichte, um über die Runden zu kommen. Das hätte aber der Streikbereitschaft keinen Abbruch getan. Ein Kollege hätte stattdessen seinen fetten Mercedes verkauft, um finanziell Luft zu bekommen. In den Druckereien sei die Stimmung kämpferisch und links gewesen. „Wir hatten uns davor gute Rahmentarifverträge und gute Löhne erkämpft. Darauf konnten wir aufbauen“, so der damalige Streikleiter.

„Wer aussperrt gehört eingesperrt und enteignet“

Durch die Berichte von Kolleg*innen von Bosch, Porsche, SEL und Daimler wurde nochmal deutlich, wie katastrophal die Minimax-Streiktaktik war. Siggi Deuschle, der früher bei Daimler in Sindelfingen beschäftigt war, erklärte, dass Daimler Sindelfingen als der größte Betrieb in der Region bei allen Streiks davor Streikbetrieb war. „Die Belegschaft brannte darauf endlich mal wieder zu streiken“. Umso größer war die Enttäuschung und Wut, als sie nicht zum Streik aufgerufen wurden. Das sollte sich aber ändern. Denn am dritten Streiktag gab es eine Kundgebung in Sindelfingen. Die Funktionär*innen verteidigten ihre Minimax-Taktik. 

„Die Stimmung war aber so explosiv und die Kolleg*innen zwangen den damaligen Ersten Bevollmächtigten der IG Metall, Klaus Zwickel, dazu, sofort den Streik auszurufen, um einer heißen Aussperrung zuvorzukommen. Das tat er dann auch widerwillig. Ihm blieb gar nichts anderes übrig. Allerdings wurden wir Facharbeiter ausgenommen. Interessanterweise wurden dann als erstes die Vertrauensleute ausgeschlossen, damit wir unseren Einfluss in den Betrieben nicht länger ausüben konnten. Wir haben uns dann jeden Tag vors Tor gestellt. Wir hatten ein Transparent auf dem stand: „Wer aussperrt gehört eingesperrt und enteignet“. Das war die Stimmung.“, so Siggi Deuschle.

Der Kollege Harald Kalmbach, damals aktiver Gewerkschafter bei SEL berichtete, dass die Belegschaft die Aussperrung am 22. Mai 1984 zusammen mit der Belegschaft des Daimler-Werks in Stuttgart-Zuffenhausen mit einer Protestaktion vor dem Werk und einem anschließenden Marsch durch das Werk beantwortete. Auf dem Höhepunkt der Streikbewegung waren aber zehnmal mehr Kolleg*innen ausgesperrt als streikten. Christa Hourani wies darauf hin, dass bei Filter-Knecht in Lorch und Werner und Pfleiderer in Dinkelsbühl die Belegschaft den Betrieb besetzte, als Antwort auf die Aussperrung. Siggi Deuschle erinnerte daran, dass es auch Protestaktionen vor den Arbeitsämtern gab, gegen den sogenannten Franke-Erlass, nachdem die kalt Ausgesperrten kein Kurzarbeitergeld erhalten sollten. Und schließlich gab es in Bonn eine Demonstration gegen die Kohl-Regierung von 250.000 Metaller*innen, die mit 3.300 Bussen und 21 Sonderzügen nach Bonn mobilisiert wurden.

Streikbereitschaft für besseren Abschluss war da

Aus den Beiträgen der Zeitzeug*innen ging hervor, dass die Streikbereitschaft da war, den Streik zu verlängern und auszuweiten. Denn die 35-Stunden-Woche sollte ja auf einen Schlag durchgesetzt werden. Es gab entsprechend in den Metall- und Druckbetrieben enormen Druck von unten den Kompromiss des Schlichterspruchs mit einer 38,5-Stunden-Woche nicht anzunehmen. Das zeigte sich bei der Sitzung der Großen Tarifkommission, die am 27. Juni 1984 über den Kompromiss abstimmen sollte. Über tausend Streikposten, GewerkschafterInnen und Linke besetzten den Sitzungssaal und verlangten die Ablehnung. Am Ende behielt der Apparat die Oberhand. Die Sitzung der Tarifkommission wurde abgebrochen und am nächsten Tag in geheimer Sitzung fortgesetzt. Die Tarifkommission beschloss bei 31 Gegen- und 87 Fürstimmen die Annahme des Kompromisses und leitete die Urabstimmung darüber ein. Ein Kollege berichtete dass es eine massive Beeinflussung durch die Gewerkschaftsfunktionär*innen gab, den Abschluss anzunehmen. Klaus Zwickel sagte: „Wer dem Abschluss nicht zustimmt, hat ein Brett vor dem Kopf“. Andere erklärten: „Wer dem nicht zustimmt, gehört zu einer K-Gruppe“.

Demnach wären fast die Hälfte der Abstimmungsberechtigten IGM-Mitglieder Unterstützer*innen einer K-Gruppe gewesen. Denn nur 54% stimmten in der Urabstimmung dafür. Ein Kollege hatte einen Urabstimmungszettel von damals dabei, in dem schon ein angekreuzter Kreis war. Dahinter stand ganz groß „Ja“ und darunter stand: die Tarifkommission empfiehlt mit Ja zu stimmen. Zwei Zeitzeug*innen berichteten, dass die Vertrauensleute in ihrem Betrieb Aufrufe verteilt hatten, mit Nein zu stimmen. Peter Hensinger berichtete, dass der Abschluss bei der IGM auch auf die Drucker*innen übertragen werden sollte. Dagegen gab es aber so viel Unmut, dass die Drupa den Streik fortsetzte. Nach sechs Wochen weiter streiken, gab es aber einen ähnlichen Abschluss wie bei der IG Metall. Die Verbesserung bestand darin, dass die 38,5-Stunden-Woche für alle galt und nicht nur im Betriebsdurchschnitt, wie in der Metallindustrie.

Streik war Erfolg

Alle im Saal waren sich einig, dass das Ergebnis des Streiks trotzdem ein Erfolg war. Das von Arbeitgeber*innen, Kohl-Regierung und Medien erklärte Tabu der 40-Stunden-Woche wurde gebrochen. Kolleg*innen berichteten, wie es konkret in der Produktion Neueinstellungen gegeben hat und wie die Entlastung durch Arbeitszeitverkürzung spürbar war. Danach hätte es aber eine weitere Arbeitsverdichtung gegeben. Und es wäre richtig gewesen, wenn die aus Stuttgart gekommene Forderung nach einer Leistungs- und Personalbemessung mit als Forderung aufgenommen worden wäre. Dies wurde jedoch vom IGM-Vorstand abgelehnt.  

Auch die besondere Rolle der Frauen und Migrant*innen wurde bei der Veranstaltung hervorgehoben. Roland Saur berichtete, dass die Migrant*innen bei Bosch in der Tarifauseinandersetzung der radikalere Teil der Belegschaft waren und Bosch deshalb nach dem Streik eine zeitlang keine Migrant*innen mehr neu einstellte.  

In der Diskussion meldete sich einer der wenigen jungen anwesenden Kolleg*innen. Er ist im Werk Untertürkheim beschäftigt und klagte, dass die Arbeitsbelastung in der Fertigungsmontage so hoch sei, dass man das nicht lange schaffe. „Wir brauchen eine Arbeitszeitverkürzung auf 32/30-Stunden“. Peter Hensinger argumentierte in die gleiche Richtung: „Wir brauchen die 30-Stunden-Woche und den Zeitgeist von damals“. Die Gewerkschaftsführung vertrete heute Wettbewerbsfähigkeit. Es gäbe keine Kapitalismuskritik mehr in den Gewerkschaften und eine Entpolitisierung: „Wir brauchen aber wieder eine positive Perspektive“.


(1) Redemanuskript von Peter Hensinger zum Nachlesen:

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