Nach dem Anschlag in Solingen

Gegen rassistische Stimmungsmache und Einschränkung demokratischer Rechte

Der Anschlag von Solingen ist erschütternd. Drei Menschen wurden auf einem Stadtfest getötet, acht zum Teil schwer verletzt – von einem 26-jährigen Syrer, der Medienberichten zu Folge Ende 2022 als Geflüchteter nach Deutschland kam. Der Terroranschlag, zu dem sich nunder sogenannte „Islamische Staat“ bekannt hat, macht vielen Menschen nachvollziehbar Angst. Viele fürchten weitere Anschläge und fühlen sich im öffentlichen Raum unsicherer. Vielen graut es vor einem weiteren Erstarken der AfD und Rechtsextremen. Die Ausschreitungen aus Chemnitz von 2018 sind noch nicht lange her. Viele Muslime und Muslimas, Geflüchtete und Migrant*innen müssen sich sorgen, wieder unter Generalverdacht gestellt und im Alltag mehr Rassismus ausgesetzt zu werden – und sie müssen sich um ihre Rechte sorgen, gegen die wie üblich schon nach wenigen Tagen zum Angriff geblasen wird. Leider sind all diese Ängste berechtigt und sie werden durch die Wortmeldungen von allen Parteien (mit Ausnahme der Linken) verstärkt. Mehr Sicherheit wird das für niemanden schaffen. Dazu müsste man das Übel des Terrors an der Wurzel packen.

von Tom Hoffmann, Sol-Bundesleitung

Der nun einsetzende Überbietungswettbewerb, der von AfD über Unions- und Ampelparteien bis hin zur BSW-Führerin Sahra Wagenknecht geführt wird, ist gefährlich und zum Teil absurd und dumm. Während bei der AfD am Wochenende die Sektkorken geknallt haben dürften, treibt CDU/CSU, FDP, SPD und Grüne allein die Angst vor den anstehenden Landtagswahlen in Ostdeutschland. Doch das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass insbesondere CDU/CSU und Teile der FDP und SPD diesen Anschlag bewusst nutzen wollen, um von sozialen Problemen abzulenken, Geflüchtete unter Generalverdacht zu stellen, demokratische Rechte weiter einzuschränken und den Überwachungsstaat aufzubauen. Es scheint, dass insbesondere die Union einen großen Wurf fordert.

Das Bitterste: All das ist ein Aufbauprogramm für die ultrarechten Islamisten. Organisationen, wie der sogenannte „Islamische Staat“, haben überhaupt kein Problem mit mehr Abschiebungen oder rassistischer Stimmungsmache. Es ist Teil ihres Kalküls, weil sie wissen, dass das mehr junge Muslime und Muslimas in ihre Arme treiben wird und sie davon profitieren. Sie spielen dasselbe Spiel, wie die Rechtsextremen und Nationalist*innen, wenn sie einfache, arbeitende und arme Menschen entlang von Herkunft oder Religion spalten.

Gefährliche und dumme Debatte

Eine Kostprobe: Die AfD wiederholt wenig überraschend ihre Forderung nach einer „Migrationswende“. Interessanter ist der Ton und die Heftigkeit, die seit dem Wochenende von den etablierten Parteien angeschlagen wird. Friedrich Merz fordert unter anderem einen generellen Aufnahmestopp für Menschen, die aus dem Bürgerkriegsland Syrien und dem von den islamistischen Taliban regierten Afghanistan fliehen. Schon die Ampel hatte sich vorgenommen mehr Straftäter in diese Länder abzuschieben. Würde der Täter von Solingen aus Afghanistan kommen, würde er also in Kabul vielleicht bald eine Medaille ausgehändigt kriegen. Das allein zeigt, dass es richtig bleibt, grundsätzlich für die Gleichbehandlung von Straftätern einzustehen – eine Abschiebung könnte sonst nicht Bestrafung, sondern Freiheit zur Folge haben. Darüber hinaus will Merz mit Olaf Scholz sprechen und fordert laut Tagesschau in seinem Newsletter „dauerhafte Grenzkontrollen, kein Bleiberecht für Flüchtlinge, die aus sicheren Drittstaaten einreisen, Schluss mit erleichterten Einbürgerungen und keine doppelten Staatsbürgerschaften“.

Der Kanzler und andere Ampel-Politiker*innen wollen eine Verschärfung des Waffenrechts. Seit Wochen ist es der Vorschlag der Innenministerin, die erlaubte Klingenlänge von zwölf auf sechs Zentimeter zu reduzieren und Messerverbotszonen einzurichten – als ob das irgendeinen Attentäter von kalkuliertem Mord abhalten würde. Das Ziel ist ein anderes: Mehr pauschale Kontrollen, was vor allem (vermeintliche) Migrant*innen treffen wird.

Sahra Wagenknecht erklärte wiederum, „wer unkontrollierbare Migration zulässt, bekommt unkontrollierbare Gewalt“. Sie wiederholt damit das, was sie in der Vergangenheit bereits gemacht hat: Sie stellt einen kausalen Zusammenhang zwischen Migration und Terrorismus bzw. Kriminalität her, schürt weitere Ängste vor Zuwanderung und spaltet die einfachen Menschen anstatt zu erklären, dass die sozialen Ursachen von Terrorismus und Kriminalität gemeinsam bekämpft werden müssen und der Kapitalismus das grundlegende Problem ist. Sie leistet damit Beihilfe zur Hetze der AfD oder von Unions-Politikern wie Friedrich Merz, weil sie deren Argumentation bekräftigt. Es ist eine Schande, dass diejenigen Linken, die sich dem BSW bisher angeschlossen haben, dazu schweigen und ihren Kurs offensichtlich mittragen.

Wagenknecht und andere weisen daraufhin, dass der Täter schon längst nach Bulgarien hätte abgeschoben werden sollen, wo er zuerst die EU betreten hat, und fordern Asylverfahren an den EU-Außengrenzen und Ausweitung der Drittstaatenregelung. Aber was würde das heißen? Verhindert man so Terror? Diese Maßnahmen würden pauschal alle Geflüchteten betreffen, von denen eine verschwindend kleine Anzahl mit der Absicht einreist, Terroranschläge zu begehen. In Deutschland leben heute 1,3 Millionen Geflüchtete aus Syrien und Afghanistan. Die überwältigende Mehrheit der Betroffenen hat keine Anschläge begangen und mit Terrorismus nichts am Hut – außer dass viele von ihnen vor Terror geflohen sind. Es ist zudem zynischer Nationalismus die Logik des Dublin-Abkommens zu verfolgen, welches Politiker*innen in der Mitte der EU sehr gelegen kommt, weil man das Problem „nach außen“ delegieren kann. Was hätte den Attentäter dann an einem Anschlag in Bulgarien gehindert?

Demokratische Rechte in Gefahr

Ungewöhnlicherweise hat sich auch der Bundespräsident früh in die Debatte eingeschaltet und explizit auf das geplante BKA-Gesetz verwiesen, welches nun kommen müsse. Der Entwurf des Innenministeriums enthält unter anderem bei Terrorverdacht “die Befugnis zum verdeckten Betreten von Wohnungen als Begleitmaßnahme für die Online-Durchsuchung und Quellen-Telekommunikationsüberwachung”, sowie KI-gestützte Auswertungen von Bildmaterial zur Gesichtserkennung. Demokratische Rechte und Freiheiten werden also geschliffen, die auch gegen Linke und Oppositionelle genutzt werden können. Wer sich vor den Gefahren einer zukünftigen AfD-Regierungsbeteiligung sorgt, sollte sich auch überlegen, wer schon seit Jahren Stück für Stück an einem autoritäreren und undemokratischeren Staat arbeitet.

Diese bekannten Rezepte – mehr Abschiebungen und Asylrechtseinschränkungen, mehr Überwachung, weniger demokratische Rechte, mehr Spaltung – können Terrortaten nicht verhindern und haben das in der Vergangenheit nicht getan. Das ist den meisten, die diese Vorschläge gerade machen, auch bewusst. Die Debatte ist kalkuliert, die Toten werden instrumentalisiert. Wir schrieben schon 2015 nach den Anschlägen von Paris:

Für die Seehofers, de Maizières und andere Sicherheitsfanatiker sind solche Terroranschläge ein gefundenes Fressen. Sie missbrauchen sie um ihre eigenen politischen Ziele durchzusetzen, die in keinem Zusammenhang mit den Ereignissen von Paris stehen. Unabhängig davon, ob einige der Attentäter tatsächlich als Flüchtlinge (getarnt) nach Europa gekommen sind, so hat der Islamische Staat es nicht nötig, seine Terror-Kader auf einem klapprigen Kutter übers Mittelmeer oder zu Fuß auf der Balkanroute nach Europa zu bringen. Einen blödsinnigeren Gedanken gibt es kaum.“ Bis jetzt ist völlig unklar, ob die Tat von Solingen langfristig geplant wurde und inwieweit der IS versucht, sie im Nachhinein für sich zu reklamieren.

Terror erzeugt Terror

Das heißt nicht, dass man nichts gegen Terror machen kann. Terror hat Wurzeln, die es zu bekämpfen gilt. Aber das heißt zu verstehen, dass Terror viele Gesichter hat. Es ist kein Zufall, dass der IS versucht, die Tat „als Rache für Muslime in Palästina und überall“ zu erklären. Laut der Medizin-Zeitschrift „The Lancet“ könnten seit dem 7. Oktober in Gaza über 186.000 Menschen gestorben sein, acht Prozent der Gesamtbevölkerung. Sie beinhaltet gegenüber den offiziellen Zahlen auch diejenigen, die noch unter Trümmern liegen oder in Folge der Hungerkrise starben. Im Westjordanland sind seit dem 7. Oktober 640 Menschen getötet worden. Der Staatsterror der Netanjahu-Regierung wird trotz aller Beteuerungen und Kritik auch von der Bundesregierung mit Waffen unterstützt und nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Diejenigen, die hierzulande dagegen protestieren wollen, werden mit Polizeigewalt und Schikanen überzogen und allein für ihren Protest in die Nähe von Islamisten und Antisemiten gerückt. Auch das ist ein Aufbauprogramm für rechte, islamistische Gruppen.

Israels Krieg gegen Gaza liefert reaktionären, islamistischen Gruppen ihr „Menschenmaterial“, welches diese in ihrem Sinne verheizen können. Dieselbe Wirkung hatten die Kriege im Irak und in Afghanistan, welche westliche Imperialisten geführt haben.

2015 schrieben wir:

Der Terror und der Krieg werden aber vom Empfänger zurück nach Europa und in andere westliche Staaten gesandt. Wir sind Zeuge einer Spirale von Gewalt, Terror, Krieg und Gegengewalt, Gegenterror, Gegenkrieg. Wer jetzt mit dem Finger (nur) auf Daesh (den IS) zeigt oder gar „die Muslime“ anklagt, ja sogar den Mord an 127 unschuldigen Menschen dazu missbraucht, Stimmung gegen Flüchtlinge zu machen, beteiligt sich an der Vorbereitung des nächsten Terroranschlags.

Wer jetzt den Politikerinnen und Politikern bei ihren Trauerreden zuhört, sollte sich fragen, warum gibt es solche Reden und Fernsehsondersendungen nicht, wenn in der Türkei linke Jugendliche von einem Sprengsatz aus dem Leben gerissen werden, wenn ein Drohnenangriff des US-Militärs wieder einmal „versehentlich“ eine Hochzeit oder ein Krankenhaus in die Luft gejagt hat, wenn in Beirut, Aleppo oder Bagdad Bomben hoch gehen?“

Es wird mit zweierlei Maß gemessen, was die Berichterstattung und politische Empörung angeht. Laut einer Chronik der Tagesschau sind seit 2006 20 Menschen durch islamistisch motivierte Anschläge in Deutschland getötet worden. Allein seit 2014 hat die Polizei in Deutschland 116 Menschen erschossen. Nazis haben seit 1990 mindestens 219 Menschen umgebracht. Zwischen 2018 und 2020 gab es über 19.000 hitzebedingte Tote, insbesondere von Älteren. Wieso gibt es da nicht die gleiche Empörung und Forderungen, „dass sich jetzt endlich was ändern muss“?

Die Wurzel bekämpfen

Wer Terror bekämpfen will, muss mit Krieg, Imperialismus, Staatsterror, Diskriminierung und Armut – also mit Verhältnissen, welche Terror erzeugen – Schluss machen. Pro-kapitalistischen Politiker*innen können wir dabei nicht vertrauen. Sie entdecken das Thema „Innere Sicherheit“, wann immer es ihrer Agenda passt. Wer die Sicherheit der arbeitenden Mehrheit im Sinn hat, manövriert aber zum Beispiel nicht das Gesundheitswesen an den Rande des Kollaps, was allein für tausende Tote jährlich verantwortlich sind. Der spricht nicht davon, dass Deutschland wieder „kriegstüchtig“ werden muss, um in Zukunft Absatzmärkte und Einflusssphären gegen andere kapitalistische Nationen zu verteidigen.

Die Sol kämpft für eine sozialistische Welt, in der sich niemand Sorgen machen muss, dass ihr Haus zerbombt wird oder seine Familie Hunger leiden muss, weil damit Konzerninteressen gedient ist. Eine Welt, in der der obszöne Reichtum der Super-Reichen und Banken und Konzerne genutzt wird, um ausreichend Wohnungen, gut bezahlte Arbeitsplätze, gut ausgestattete Schulen, Krankenhäuser und Verwaltungen zu finanzieren. Doch das wird es im Kapitalismus nicht geben. Es braucht die Überführung der großen Banken und Konzerne in öffentliches Eigentum und eine demokratische geplante Wirtschaft, um die Unsicherheit und den immer wieder entstehenden Mangel für so viele Menschen zu beenden, der das Profitsystem ausmacht.

Das rassistische und nationalistische Gift spaltet die Arbeiter*innenklasse und schafft damit Bedingungen, unter denen die vom Kapital schon länger geforderten Angriffe auf Sozialleistungen, Arbeitszeiten oder Rechte der Lohnabhängigen leichter durchgesetzt werden können. Deshalb ist es nötig, dass Linke und Gewerkschafter*innen sich in dieser Debatte mit einem Klassenstandpunkt einbringen.Das bedeutet die rassistische Stimmungsmache sowie weitere Verschlechterungen im Asylrecht und bei demokratischen Rechten zurückzuweisen und aufzuzeigen, dass es stattdessen den gemeinsamen Kampf aller Lohnabhängigen und sozial Benachteiligten für gleiche Rechte für alle, höhere Löhne, bezahlbaren und ausreichend Wohnraum und massive Investitionen in die öffentliche Infrastruktur braucht.Denn daran hat die Mehrheit der Bevölkerung ein Interesse, unabhängig von deren Passeinträgen, Herkunft, Hautfarbe oder Religion. Diese gemeinsamen Interessen zu erkennen und dafür einzustehen, ist auch das beste Mittel gegen Rassismus und rechten Islamismus.