Was ist eine marxistische Position zum Krieg in der Ukraine?

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Ein Kommentar zu Paul Masons verworrener Position 

Der brutale Krieg in der Ukraine nach dem Einmarsch Putins hat, wie alle Kriege, die Arbeiter*innenklasse  auf das Schärfste vor entscheidende Fragen gestellt.

Von Tony Saunois, Generalsekretär des Komitees für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI)

Krieg und Revolution sind die größten Prüfungen für Marxist*innen und die Arbeiter*innenklasse. Leider haben viele Sozialist*innen, als sie mit einem dieser beiden entscheidenden historischen Prozesse konfrontiert wurden, die Prüfung nicht bestanden. Viele haben ein unabhängiges Programm für die Arbeiter*innenklasse aufgegeben und schließen sich den Ideen der herrschenden Klasse an. Die Reaktion vieler Linker auf den derzeitigen blutigen Krieg in der Ukraine ist nicht anders. Einige haben vor dem Druck der grausamen ideologischen Propaganda ihrer jeweiligen herrschenden Klassen und der Reformist*innen kapituliert, die den Kapitalismus nicht herausfordern wollen. Dieser Weg wurde in der Geschichte schon oft von “sozialistischen” Führungen beschritten, die sich als unfähig erwiesen, dem opportunistischen Druck des Kapitalismus standzuhalten. 

Dies war der Fall im Vorfeld des Weltkriegs 1914, als die Führer*innen der damaligen sozialdemokratischen Arbeiter*innenparteien die Arbeiter*innenklasse verrieten und die Bourgeoisie in ihrem eigenen Land unterstützten.

Andere, vor allem kleine Gruppen, tappen in die Falle von plumper ultralinker Politik. Sie beschränken sich darauf, dogmatisch Parolen zu wiederholen, ohne das politische Bewusstsein der Massen zu berücksichtigen. Infolgedessen sind sie nicht in der Lage, einen Dialog mit der Arbeiter*innenklasse zu eröffnen und Unterstützung für ein revolutionäres sozialistisches Programm zu gewinnen.

In den Anfangsphasen vieler Kriege sind diejenigen, die ein prinzipienfestes, unabhängiges sozialistisches Programm aufrechterhalten können und es geschickt so erklären, dass die Erklärung der Stimmung der Arbeiter*innenklasse entspricht, oft eine winzige Minderheit. Dies war im Krieg 1914-18 der Fall, als die anfänglichen Kriegsgegner*innen auf eine Minderheit reduziert wurden und sich 1915 eine winzige Handvoll von ihnen auf der Zimmerwalder Konferenz versammelte. Selbst unter diesen kleinen Kräften kam es zu Spaltungen und Abspaltungen.

Zu Beginn eines jeden Krieges ist es für revolutionäre Sozialist*innen notwendig, gegen den Strom zu schwimmen. Häufig müssen die Massen die blutigen Folgen des Krieges erleben, bevor die zentralen Fragen geklärt und die wirklichen Klasseninteressen der Beteiligten deutlich werden. Wie Leo Trotzki es ausdrückte: “Der Krieg beginnt nicht mit der Revolution – er endet mit ihr”. Kapitalistische Kriege werfen viele Fragen auf. Doch die zugrundeliegenden Klassengegensätze in der Gesellschaft werden während eines Krieges nicht aufgelöst. Je länger der Krieg dauert, desto schärfer und polarisierter treten sie wieder zutage. 

Der derzeitige Krieg in der Ukraine hat, wie alle anderen Kriege auch, zu viel Verwirrung geführt und Debatten und Differenzen in der Linken, einschließlich der extremen Linken, ausgelöst. In Deutschland ist die Partei “Die Linke” gespalten in diejenigen, die im Allgemeinen die Reaktion der deutschen Regierung unterstützen – abgesehen von ihrem neuen 100-Milliarden-Euro-Aufrüstungsprogramm – und diejenigen, die entweder pazifistisch sind oder die westlichen Mächte und die NATO kritisieren, aber weniger kritisch gegenüber Putin sind. In den USA hatte das Internationale Komitee der Democratic Socialist of America (DSA) ursprünglich eine Erklärung veröffentlicht, die einseitig die NATO und den US-Imperialismus verurteilte und sich nicht mit dem Putin-Regime und der russischen Invasion befasste. Dies führte zunächst zur Suspendierung des IK der DSA und zu einem Positionswechsel. In Spanien hat sich PODEMOS der Position der spanischen Regierung unterworfen. 

Die “offizielle” Linke, insbesondere die ehemaligen sozialdemokratischen Parteien, sind im Wesentlichen in die Fußstapfen der sozialdemokratischen Arbeiter*innenparteien der Vergangenheit getreten und haben opportunistisch vor dem Druck und den Forderungen der herrschenden Klassen des westlichen Imperialismus kapituliert. Andere, wie die kommunistischen Parteien Indiens oder Chiles, haben zwar Kritik an der NATO geübt, sich aber auf Forderungen nach “Frieden” und einer “diplomatischen Lösung” beschränkt. Einige unbedeutende kleine Gruppen, die immer noch an der Vorstellung festhalten, dass Putins kapitalistisches Russland in gewisser Weise immer noch der ehemaligen UdSSR mit ihrer verstaatlichten Planwirtschaft, die von einer stalinistisch-bonapartistischen Bürokratie regiert wurde, ähnelt, neigen dazu, Russland als Mittel gegen den westlichen Imperialismus zu unterstützen. Die Nachricht vom Zusammenbruch der ehemaligen UdSSR und der kapitalistischen Restauration in den Jahren 1991/2 hat sie offenbar immer noch nicht erreicht! Das CWI wird einige der Ideen und Programme, die von diesen Organisationen vertreten werden, näher erläutern. 

In diesem Artikel werden wir uns auf die Argumente von Paul Mason konzentrieren, der in Großbritannien bekannt ist und international ein gewisses Publikum als Vertreter der “Linken” hat. Unter der “false flag” des “Marxismus” versucht er, der prokapitalistischen Politik von Leuten wie dem britischen Labour-Parteichef Sir Keir Starmer oder dem deutschen SPD-Vorsitzenden Olaf Scholz einen “theoretischen” linken Deckmantel zu geben. In seinen Schriften zu diesem Krieg hat Mason seine politische Reise nach rechts fortgesetzt, indem er als Apologet dieser pro-kapitalistischen Politiker auftritt.

Der Charakter des Krieges und die Notwendigkeit eines unabhängigen Programms

Die Aufgabe von revolutionären Sozialist*innen besteht darin, die Klassenkräfte zu verstehen, die an einem Krieg beteiligt sind. Es ist auch notwendig, ein unabhängiges Programm zu vertreten, das im Interesse der Arbeiter*innenklasse in allen beteiligten Ländern liegt. Die kapitalistischen Klassen aller Länder werden durch ihre eigenen wirtschaftlichen, politischen und strategischen Interessen motiviert. Sie kümmern sich nicht um die Interessen der Arbeiter*innenklasse oder der Masse der Bevölkerung. Der derzeitige Krieg in der Ukraine weist in dieser Hinsicht alle diese Merkmale auf. Für die Arbeiter*innenklasse bieten kapitalistische Kriege keine Lösung und keinen Ausweg. In allen Kriegen gibt es Aggressoren und Verteidiger. Welche Seite den Krieg “begonnen” und zuerst geschossen hat, ist nicht die entscheidende Frage, um die Klasseninteressen in diesem Konflikt zu verstehen. Die Aufgabe der Arbeiter*innenklasse und von Marxist*innen besteht darin, die Klassendynamik und die Interessen der beteiligten Kräfte zu verstehen und ein Programm zu verteidigen, das den Interessen der Arbeiter*innenklasse entspricht. 

Im Ukraine-Konflikt gibt es viele Faktoren, die berücksichtigt werden müssen. Viele davon wurden leider von den meisten kapitalistischen Kommentator*innen und einigen Linken ignoriert oder in den Hintergrund gedrängt. Putin hat in der Ukraine militärisch interveniert mit dem Ziel, Russlands Einflussbereich in der Region und weltweit auszuweiten. Ideologisch wird er von großrussischem Chauvinismus und der Ablehnung des Rechts der Ukraine, als unabhängige Nation zu existieren, angetrieben. Sein Regime ist ein autoritäres bonapartistisches Regime, das auf einer korrupten Form des oligarchischen Kapitalismus beruht. 

Sein Vorstoß in die Ukraine ist Teil des Versuchs, ein “neues Russland” – Noworossija – zu errichten, um ein größeres Bündnis russisch dominierter Staaten oder Kleinstaaten aufzubauen. Putin ist auch durch den verzweifelten Widerstand gegen die NATO-Osterweiterung motiviert, die sein Regime als Bedrohung für den Aufbau von “Noworossija” und die Interessen der herrschenden Elite ansieht.

 Die ukrainischen Massen zahlen einen schrecklichen Blutzoll als Folge der Invasion. Putin hat auf die brutalen Taktiken zurückgegriffen, die er in Syrien und bei der Zerstörung von Aleppo oder Grosny in Tschetschenien 1999 angewandt hat, als seine Streitkräfte sich festgefahren hatten und auf dem Schlachtfeld auf mehr Schwierigkeiten stießen als erwartet. Wie Trotzki bei der Analyse der Invasion Finnlands im Jahr 1939 feststellte: “Die Verteidigung des ‘Eigenen’ gegen eine fremde Invasion oder eine Offensive gegen ein anderes Land ist von immenser und möglicherweise entscheidender Bedeutung für die Stimmung in der Armee und der Nation”. (Die Weltlage und die Perspektiven, Februar 1940).

Wie Robespierre es ausdrückte, “mögen die Menschen keine Missionare mit Bajonetten”. Putin hat die Entschlossenheit der Mehrheit der Ukrainer*innen unterschätzt, sich gegen eine ausländische Intervention zu wehren. Eine weit überlegene militärische Stärke und eine hochentwickelte Technologie reichen nicht aus, um einen schnellen Sieg zu erringen, wenn man es mit einer militärischen und zivilen Bevölkerung zu tun hat, die entschlossen ist, sich einem ausländischen Eindringling zu widersetzen. 

Revolutionäre Sozialist*innen unterstützen voll und ganz das Recht der ukrainischen Arbeiter und des ukrainischen Volkes, sich zu verteidigen und gegen ausländische Invasoren zu kämpfen. Die ukrainische Regierung ist jedoch ein pro-kapitalistisches Regime, das die Interessen der ukrainischen Oligarch*innen ausdrückt.

Selenskij wurde eigentlich mit einem Programm gewählt, das die Korruption und die Oligarch*innen bekämpfen und mit den pro-russischen, abtrünnigen “Republiken” Donezk und Luhansk verhandeln sollte. Seit seiner Wahl hat Selenskij es jedoch versäumt, seine Versprechen zu erfüllen. 

Auch wenn Selenskijs Regierung kein faschistisches Regime ist, wurden faschistische Kräfte, wie das Asow-Bataillon, in das staatliche Militär integriert. Seit 2014 hat die Regierung den Unterricht von Minderheitensprachen wie Russisch und Ungarisch in Schulen und staatlichen Einrichtungen stark eingeschränkt. Diese Maßnahmen unterdrückten die russischstämmige Bevölkerung und andere, insbesondere in Donezk und Luhansk. Im Jahr 2020 führte die Regierung Selenskij einige der schlimmsten arbeitnehmer*innenfeindlichen Gesetze in ganz Europa ein, was Proteste internationaler Gewerkschaftsorganisationen wie der Industrial Global Union hervorrief. 

Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit. Die westlichen imperialistischen Mächte haben auf diese Krise mit hemmungsloser Heuchelei reagiert. Ihre Kräfte haben sich vereint um die NATO gegen die russische Militärintervention gestellt. Doch die Gräben zwischen diesen Mächten beginnen sich zu öffnen. Die heuchlerische Anprangerung der russischen Brutalität, ohne auch nur einen Kommentar zu den von ihnen im Irak, in Afghanistan, in Belgrad und anderswo begangenen Gräueltaten zu machen, offenbart die Doppelmoral des westlichen Imperialismus. 

Die westlichen imperialistischen Mächte wollen die russische chauvinistische Expansion eindämmen, die sie als Bedrohung für ihre verschiedenen Interessen ansehen. Sie haben ihre Zusagen gegenüber der Führung der ehemaligen UdSSR gebrochen und die NATO-Mitgliedschaft seit 1991 nach Osten ausgeweitet, was von der in Russland regierenden Putin-Clique als Bedrohung der russischen Interessen angesehen wird.

Diese Faktoren sind keine Rechtfertigung für Putins Einmarsch in die Ukraine. Sie sind jedoch wichtig, um zu einer korrekten Analyse der Klasseninteressen der beteiligten Kräfte zu gelangen. 

Die Verteidigung der demokratischen und nationalen Rechte des ukrainischen Volkes bedeutet nicht, dass alle anderen Faktoren, die mit dem Konflikt zu tun haben, einfach beiseite geschoben werden können. Revolutionäre Sozialist*innen müssen ein unabhängiges Programm verteidigen, das im Interesse der Arbeiter*innenklasse und der Massen aller an diesem Konflikt beteiligten Länder ist. Welches ist das revolutionäre sozialistische Programm, das für einen Krieg dieses Charakters notwendig ist?

Mason – Marxismus oder “Starmerismus”? 

Paul Mason veröffentlichte am 12. März ein Traktat “Ukraine: Umrisse einer marxistischen Position”. Im Februar veröffentlichte er “Lernen, Lenin zu verabschieden””.

Mason hat früher gutes Material veröffentlicht, in dem er den Kapitalismus angreift, allerdings nie mit einem Programm zum Bruch mit dem Profitsystem. In seinen Schriften über den Krieg hat Paul Mason nicht nur seine politische Reise nach rechts fortgesetzt, sondern auch Lenin verworfen und eine Argumentation vertreten, die eher “Starmerismus” als Marxismus genannt werden könnte. 

Paul Mason konstruiert ein paar Strohmänner. Er schreibt: “Wenn man davon ausgeht, dass ‘die Menschheit ein soziales Konstrukt ist’ und dass ‘Geschichte ein Prozess ohne Subjekt ist’, kann man die toten Zivilist*innen in Mariupol betrachten und sie als ‘Neonazis’ einstufen, man kann Osteuropas Schritte in Richtung NATO-Mitgliedschaft in den 1990er Jahren  als ‘Einkreisung’ bezeichnen, man kann ein ganzes Volk von 41 Millionen Menschen in die Kategorie ‘Marionetten des Westens’ einordnen”. 

Wer argumentiert das? Putin? Paul Mason gibt keine Quelle an. 

Der Widerstand gegen Putins Intervention in der Ukraine bedeutet nicht, dass wir unsere Augen vor den Folgen der NATO-Osterweiterung oder der Rolle und den Interessen des westlichen Imperialismus verschließen sollten. Paul Mason rühmt sich auf “Twitter”, dass er Teil eines Kampfes war, der “entscheidend dazu beigetragen hat, dass die Labour-Partei weiterhin “pro-Trident und pro-NATO ist…”. Masons politische Reise nach rechts hat ihn weit von der sektiererischen Version des Trotzkismus der Gruppe „Workers Power” entfernt, die er in seiner Jugend verteidigte. 

Während des Krieges hatte ein Teil der Bevölkerung in der Ukraine und im Westen die Erwartung und Hoffnung, dass die Nato dem ukrainischen Volk etwas Schutz und Unterstützung bieten könnte. Diese Hoffnungen schwinden jedoch von Tag zu Tag – vor allem in der Ukraine, da die Nato es aus ihrer Sicht versäumt, entschlossen einzugreifen. 

Trotz aller vorübergehenden Illusionen, die in die NATO bestehen, haben Sozialist*innen die Verantwortung, die Wahrheit zu sagen und die Realität dessen, was solche Institutionen darstellen, geduldig zu erklären. Der imperialistische Charakter der NATO zeigte sich deutlich bei ihrer Intervention auf dem Balkan im Kosovo 1999 und in Libyen 2011.  Die katastrophalen Folgen, die darauf folgten, verdeutlichen das Wesen dieses Militärbündnisses kapitalistischer Mächte. Die Duldung ausländischer Interventionen durch die NATO-Mitgliedsstaaten zeigt sich in der stillschweigenden Akzeptanz der faktischen türkischen Kontrolle über Nordzypern seit der Invasion von 1974. 

Mason sagt uns, dass sich für diejenigen, die in NATO-Ländern oder in mit der NATO verbündeten Staaten leben, “auch eine riesige Chance bietet – die NATO als reines Verteidigungsbündnis umzugestalten … und die professionellen, von der Rechten dominierten Sicherheits- und Militärmaschinen des Westens zu demokratisieren”.

Mason ist in dieser Hinsicht nicht allein. Das “Büro der Vierten Internationale“ (früher das Vereinigte Sekretariat der Vierten Internationale) hat kommentarlos ein Interview mit einem selbsternannten “Anarcho-Syndikalisten” in der Ukraine veröffentlicht, der einfach sagt, dass ein Beitritt zur NATO oder zur EU und den USA “keine schlechte Sache zu sein scheint”. Kaum eine Position, die man normalerweise mit Anarcho-Syndikalismus in Verbindung bringen würde! 

Die NATO so zu reformieren, dass sie ein Instrument im Dienste der arbeitenden Menschen wird, ist so, als würde man einen fleischfressenden Dinosaurier dazu drängen, über Nacht zum Veganer zu werden. Glaubt Paul Mason ernsthaft, dass diese bürgerlichen Institutionen – die zur Verteidigung der Interessen der kapitalistischen Staaten aufgebaut wurden und existieren – so reformiert werden können, dass sie ihren Charakter ändern? Glaubt er wirklich, dass die herrschenden kapitalistischen Klassen dies zulassen würden?

Paul Mason sagt ziemlich unbeherrscht, wir sollten die “Auflösungsrhetorik der NATO, die von den ‘campistischen’, stalinistischen und ausgesprochen Pro-KP-China-Gruppen auf der Linken kommt, nicht tolerieren”.

Marxist*innen sind gegen die NATO und kapitalistische Militärbündnisse. Wird die herrschende Klasse die NATO auflösen? Nein – die kapitalistischen Klassen werden das nicht tun. Doch würde eine sozialistische Regierung mit der NATO brechen, einem reaktionären, kapitalistischen Militärbündnis, das vom US-Imperialismus dominiert wird? Sicherlich ja – wenn sie nicht aus der Nato ausgeschlossen würde, bevor sie dies tun könnte. Die von Mason angestrebte Reform solcher Institutionen ist ein Wunschtraum.

Dies ist nicht gleichzusetzen mit den Ideen der “Campist*innen”, auf die sich Mason bezieht – also derjenigen, die die ehemalige UdSSR unkritisch verteidigt haben. Der Begriff Campist*innen wurde ursprünglich von einigen Gruppierungen entwickelt, die fälschlicherweise behaupteten, die ehemalige UdSSR sei “staatskapitalistisch” gewesen (im Gegensatz zu dem Mafia-Kapitalismus, den Putin heute beherrscht). Sie lehnten die “zwei Lager” des Kapitalismus im Westen und den “Staatskapitalismus” der UdSSR ab (die sich ihrer Meinung nach nicht grundlegend unterschieden). Das CWI lehnte diese Ideen seinerzeit ab.   

Mason spiegelt die politischen Verrenkungen wider, die viele Kommentator*innen der “Linken” während dieses Konflikts unternommen haben. Die Ukraine führe einen legitimen Krieg zur Selbstverteidigung gegen einen Angriffskrieg, sagt er. Ernsthafter Marxismus argumentiert tatsächlich, dass das ukrainische Volk ein unbestreitbares Recht hat, sich selbst zu verteidigen und als unabhängige Nation zu existieren. 

Aber welche Schlussfolgerung zieht Mason, der den Marxismus nie richtig verstanden hat, daraus? Was er tut, ist Marx völlig fremd. Er schlägt ein “Programm” vor, das keinen Klasseninhalt hat. Er fordert, die Linke solle “die Ukraine unterstützen” und “ihre Regierungen” auffordern, Waffen in die Ukraine zu schicken, den Schuldenerlass und den Aufruf für “internationale freiwillige Kämpfer*innen” zu unterstützen. Doch für Marxist*innen sind die kapitalistischen Regierungen des Westens nicht “unsere” Regierungen! Masons Methode bedeutet, unfreiwillig Unterstützung zu leisten, zum Beispiel für Johnson in Großbritannien oder die polnische Regierung. 

Die Ukraine unterstützen? Aber die Frage ist, welche Ukraine? Aufgrund des Krieges ist Selenskij im Westen und in der Ukraine derzeit äußerst beliebt. Die Enthüllungen über mutmaßliche russische Gräueltaten haben seiner Popularität zweifellos Auftrieb gegeben. In der Ukraine herrscht in weiten Teilen der Bevölkerung zweifelsohne eine Stimmung der “nationalen Einheit”. Das bedeutet, dass die Sozialist*innen dort ein unabhängiges Programm mit viel Feingefühl und Geschick präsentieren müssen. Dennoch ist es notwendig zu erklären, dass wir die Ukraine der Oligarch*innen und die pro-kapitalistische Regierung Selenskijs nicht unterstützen und davor warnen.

Revolutionäre Sozialist*innen unterstützen voll und ganz das Recht des ukrainischen Volkes, sich selbst zu verteidigen und gegen die russische Invasion und jegliche Bedrohung durch ethnische Säuberungen zu kämpfen. Es ist notwendig, auf die Notwendigkeit des Aufbaus demokratisch geführter bewaffneter Verteidigungsmilizen der ukrainischen Arbeiter*innen und der breiten Bevölkerung hinzuweisen. Wir müssen davor warnen, dem rechten Regime von Selenskij zu vertrauen, und die Massen davor warnen, Vertrauen in seine Regierung oder die Oligarch*innen zu setzen. Dem muss entgegengesetzt werden, was Selenskiy anfangs vor dem Krieg tat, als er dem faschistischen Asow-Bataillon erlaubte, offiziell eine eigene Einheit als Teil der ukrainischen Armee zu bilden. Diese Kräfte und der ukrainische Staat werden sich gegen die ukrainischen Arbeiter*innen wenden, wenn diese beginnen, ihre eigenen unabhängigen Gewerkschaften und Organisationen aufzubauen. Es handelt sich um dieselbe Regierung, die bereits die Privatisierung durchgesetzt und die demokratischen Rechte der ukrainischen Arbeiter*innen angegriffen hat. 

Mason fügt eine Fußnote hinzu, von der er hofft, dass sie ihn von dem Pro-NATO-Haken befreit, an den er sich selbst gehängt hat. Er sagt, sein Ansatz bedeute nicht, “unkritisch die Selenskij-Regierung zu unterstützen, oder ihre Privatisierungsstrategie, oder Bündnisse mit ukrainischen Oligarchen, oder ihre antidemokratischen Gesetze”. 

Mason schmuggelt auch die Forderung ein, den Widerstand in eine Bewegung für soziale Gerechtigkeit umzuwandeln. Er erkennt also an, dass es ein Problem mit Selenskijs Regierung gibt. Bravo! Aber in Wirklichkeit will Paul Mason jede Kritik an Selenskiys Regierung zum Schweigen bringen oder zumindest auf die Zeit nach dem Krieg verschieben.

Aber Sozialist*innen haben die Verantwortung, die Wahrheit nicht zu verstecken. Wir müssen hier und jetzt vor dem Charakter der Selenskiy-Regierung oder jeder anderen kapitalistischen Regierung warnen. 

Goodbye Lenin?

Mason sagt “Goodbye Lenin” und argumentiert in einem Schwung sarkastischer Nebenbemerkungen: “Wir können auf unseren Händen sitzen und Lenin zitieren, oder wir können die systemische Natur des Konflikts akzeptieren und eine Seite darin einnehmen…”

Die Wahrheit ist, dass Paul Mason sich schon vor langer Zeit von Lenin verabschiedet hat. Vielleicht nimmt Mason jetzt seinen letzten Abschied. Aber was ist der Inhalt seines Abschieds?

Auch Putin hat Lenin eine Absage erteilt. Insbesondere verurteilte Putin Lenin als führende Persönlichkeit der revolutionär sozialistischen Bewegung aufgrund der von Lenin in der “ukrainischen Frage” vertretenen Position und dafür, dass er die Ukraine als Nation “zu Unrecht ins Leben gerufen” habe.

Will Mason sich von Lenins kompromissloser Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts der Völker verabschieden? Mason vermeidet es, auch nur zu erwähnen, was Lenin und die Bolschewiki nach der sozialistischen Revolution von 1917 in Bezug auf die Ukraine getan haben. Es waren Lenin und die Bolschewiki, die das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, einschließlich der Ukraine, gegen den großrussischen Chauvinismus verteidigten. Es waren Lenin und die Bolschewiki, die nicht “die Hände in den Schoß legten”, sondern dafür sorgten, dass dieses Recht nach der Revolution im Jahr 1919 in Kraft gesetzt wurde. Selbst das Sprachrohr des britischen Kapitalismus, die Financial Times, sah sich kürzlich gezwungen, diese Tatsache einzugestehen. 

Dazu schrieb Lenin: “Wir wollen einen freiwilligen Zusammenschluss der Nationen – einen Zusammenschluss, der jeden Zwang einer Nation durch eine andere ausschließt – einen Zusammenschluss, der auf vollkommenem Vertrauen, auf einer klaren Anerkennung der brüderlichen Einheit, auf absolut freiwilliger Zustimmung beruht … nur die ukrainischen Arbeiter und Bauern selbst können und werden auf ihrem gesamtukrainischen Sowjetkongress entscheiden, ob die Ukraine mit Russland verschmolzen werden soll oder ob sie eine getrennte und unabhängige Republik bleiben soll, und im letzteren Fall, welche föderalen Bindungen zwischen dieser Republik und Russland hergestellt werden sollen.” (Lenin, Brief an die Arbeiter und Bauern der Ukraine, Dezember 1919).

 Die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Ukraine durch die Sowjetregierung in Russland führte zu einer Annäherung der ukrainischen und der russischen Arbeiter*innenklasse. Das Misstrauen, das aufgrund der Unterdrückung durch den großrussischen Chauvinismus im zaristischen Russland bestand, begann zu schwinden. Die politische Konterrevolution der stalinistischen Bürokratie mit den chauvinistischen und bürokratischen Methoden der Clique um Stalin machte diesen Prozess jedoch wieder zunichte. Sie führte zu wachsendem Misstrauen und Feindseligkeit gegenüber dem bürokratischen Regime im Kreml unter Stalin. Die Ukraine, in der die Linke Opposition beträchtlichen Rückhalt genoss, wurde von Stalins Säuberungen mit am schlimmsten getroffen. Millionen Menschen starben durch Verfolgung, Zwangskollektivierung und Hungersnot. Dies hinterließ eine schreckliche Narbe im Gedächtnis der ukrainischen Bevölkerung. Die veränderte Situation unter Stalin veranlasste Trotzki 1939, für eine unabhängige sozialistische Sowjetukraine einzutreten, als Teil eines Kampfes zum Sturz der stalinistischen Bürokratie und zur Wiederherstellung einer Arbeiter*innendemokratie.

In seinem Beitrag “Ukraine: Umrisse einer marxistischen Position” schweigt sich Paul Mason über den historischen Kontext der nationalen Frage in der Ukraine aus (obwohl er reich an Lehren für den heutigen Konflikt ist). Zu einem anderen Aspekt der gegenwärtigen Situation – den demokratischen Rechten der ethnisch russischen Bevölkerung, die sich mehrheitlich im Osten des Landes befindet, und anderer Minderheiten – hat Mason nichts zu sagen.

Der Konflikt in den selbsternannten “Volksrepubliken” Donezk und Luhansk hat mehr als 15 000 Menschenleben gefordert, seit die von Russland unterstützten Separatist*innen 2014 Regierungsgebäude in ihre Gewalt brachten und Kämpfe zwischen den Streitkräften in Donezk und Luhansk und den rechtsextremen nationalistischen ukrainischen Milizen und den ukrainischen Staatskräften ausbrachen.

Ethnische Russ*innen in der gesamten Ukraine wurden von den ukrainischen Nationalist*innen unterdrückt, einschließlich der Beschneidung ihrer Sprachrechte. Die Menschen in diesen Gebieten wurden von Putin auch als Schachfiguren für sein strategisches Ziel der Errichtung und Ausweitung von Noworossija benutzt.

Die in diesen Gebieten vorherrschenden nationalistischen Kräfte, vor allem reaktionäre rechte Kräfte, nutzten die Sehnsüchte der ethnischen Russ*innen aus, die unter der Unterdrückung und Diskriminierung durch die ukrainischen nationalistischen Regime in Kiew gelitten hatten. Sie wurden ihrerseits auch von Putins Regime in Russland manipuliert. 

Die Bestrebungen der Menschen in diesen Gebieten wurden von keiner der beteiligten Kräfte auf demokratische Weise geprüft. Einige streben zweifellos die Unabhängigkeit an, mit Verbindungen zu Russland, andere wollen Teil Russlands sein, während einige möglicherweise innerhalb der Ukraine bleiben möchten. Seit 2014 haben sich die nationalistischen Kräfte in Donezk, Luhansk und dieser Region von Moskau gespalten und losgetrennt. In wichtigen Städten wie Charkiw schien 2014 eine Mehrheit der ethnisch russischen Bevölkerung für die Unabhängigkeit oder den Beitritt zur Russischen Föderation zu sein. Die antirussischen Aktionen und Stimmungen des ukrainischen Regimes nährten die von den ethnischen Russ*innen empfundene Unsicherheit und verstärkten den Appetit auf Unabhängigkeit oder Eingliederung in Russland. Die heutige Situation ist jedoch nicht eindeutig, und im Vorfeld des aktuellen Konflikts haben demografische Veränderungen in der Bevölkerung stattgefunden. 

Doch die Menschen in diesen Gebieten haben auch ein demokratisches Recht, über ihre Zukunft und die Form des Staates oder Staatswesens zu entscheiden, die sie errichten wollen, frei von den Bajonetten von Putins Russland oder Selenskiys reaktionären rechtsnationalen ukrainischen Kräften.

Das Schweigen zu diesen Fragen ist kein Programm für Marxist*innen.

Eine verworrene Charakterisierung des Krieges

Die verworrene Analyse von “Umrisse einer Marxistischen Position” zeigt sich in der Charakterisierung des Krieges durch Paul Mason. Er räumt gnädig ein: “Dieser Krieg hat einen zwischenimperialistischen Aspekt…”, fährt aber fort: “Er ist zweitrangig gegenüber dem allgemeinen Systemkonflikt, dessen Teil er ist”. Es handelt sich, so Mason, um einen “systemischen” Konflikt zwischen zwei verbündeten kapitalistischen Diktaturen [Russland und China] und dem liberal-demokratischen Westen.

Ein systemischer Konflikt? Aber alle beteiligten Kräfte sind kapitalistisch, wenn auch in unterschiedlicher Form. Sie sind unterschiedliche Formen kapitalistischer Regime, ja, aber beide sind Teil eines kapitalistischen Systems. Putins Regime ist ein brutal-autoritäres Regime mit mafiösem Charakter, das von kapitalistischen Oligarchen geführt wird. Eine andere Weltmacht mit großem Interesse an diesem Krieg, China, ist unter Xi ein bösartiges diktatorisches Regime, das über eine besondere Form des Staatskapitalismus herrscht. Beide Regime sind jedoch kapitalistisch, als Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. 

Was sagt Mason zum westlichen Kapitalismus? Er räumt ein, dass es nicht in Stein gemeißelt ist, dass er für immer “liberal-demokratisch” bleiben wird. Aber er sagt uns, dass er ist, was er ist, abgesehen von den “Extremen” von Trump, Zemmour und Orban.


Darüber hinaus bringen die “westlichen politischen und wirtschaftlichen Eliten eine aktive Vorliebe für Rechtsstaatlichkeit, Wissenschaft, demokratische Prozesse und universelle Menschenrechte zum Ausdruck und halten daran fest.” Mason versucht wirklich, sich der bürgerlichen Gesellschaft anzudienen, indem er solche falschen Behauptungen aufstellt. Marxist*innen verteidigen alle demokratischen Rechte, die von den arbeitenden Menschen erkämpft und gewonnen wurden. Doch demokratische Rechte und Menschenrechte im Kapitalismus sind relative Fragen. Von der Arbeiter*innenklasse und den Massen errungene Rechte werden und wurden von der herrschenden Klasse wieder zurückgenommen, wenn ihre Interessen oder ihr System entscheidend in Frage gestellt werden. 

Masons Verteidigung des “liberalen” Westens wird zu einer Zeit geschrieben, in der weltweit demokratische Rechte verletzt, eingeschränkt und in einigen Fällen abgeschafft werden, auch in den wichtigsten westlichen imperialistischen Mächten. Überall werden autoritärere und undemokratischere Maßnahmen eingeführt. Der ehemalige Tory-Premierminister in Großbritannien, David Cameron, brüstete sich damit, dass er die “Menschenrechtskultur” abschaffen würde! 

Sind die kapitalistischen Regierungen der USA, Großbritanniens und der anderen westlichen Mächte nicht von systemischer Korruption durchsetzt? Wurden die universellen Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit im Irak, in Afghanistan, Libyen oder anderswo geachtet? Hat der US-Imperialismus demokratische Rechte respektiert, als er Putschversuche unterstützte, um Chavez und Maduro in Venezuela zu stürzen, wie er es in den 1970er und 1980er Jahren in ganz Lateinamerika tat? Wenn ihr System oder ihre entscheidenden Interessen bedroht sind, sind die herrschenden wirtschaftlichen und politischen Eliten der westlichen Mächte durchaus bereit, selbst den Anschein, demokratische Rechte zu verteidigen, fallen zu lassen. 

Mason setzt seine politische Reise mit der erstaunlichen Behauptung in Tweets und anderen Medien fort, dass die westlichen imperialistischen Mächte der USA und Europas “ehemalige imperialistische” Staaten seien. 

Es stimmt, dass der Imperialismus heute nicht mehr derselbe ist wie vor hundert Jahren. Die alten “Imperien” mit formalen Kolonien, die von Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Spanien, Belgien usw. beherrscht wurden, gibt es nicht mehr wie in der Vergangenheit. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Mächte, die USA und andere, nicht imperialistisch sind.

Masons oberflächliche Behauptung kommt zu einem Zeitpunkt in der Geschichte, an dem der deutsche Imperialismus unter der Führung der sozialdemokratischen Partei gerade einen massiven Rüstungsetat beschlossen hat, um die größte Militärmaschinerie in der EU zu bilden, und damit mit einer Politik bricht, die seit 1945 andauerte. 

Außerdem scheint Mason zu implizieren, dass der Globalisierungsprozess den Imperialismus im Westen beendet hat – und das zu einem Zeitpunkt, an dem die Globalisierung eigentlich auf dem Rückzug ist. 

Die Theorie des “gerechten Krieges”

Mason schleppt dann seine fehlerhafte “‘Theorie des gerechten Krieges’ innerhalb des Marxismus” in die Diskussion ein. Er beruft sich fälschlicherweise auf entscheidende historische Ereignisse aus einer völlig anderen historischen Epoche, um diese Position zu rechtfertigen.


Marx und die Erste Internationale, so Mason, wurden zu den Hauptorganisatoren der französischen Republik im Krieg mit Preußen nach dem September 1870 und unterstützten die Unionsseite im amerikanischen Bürgerkrieg. Beide Beispiele sind jedoch weder vergleichbar noch zutreffend. Damals stellte sich die Frage nach der Entwicklung des Kapitalismus und der Vereinheitlichung des Nationalstaates, um feudale oder halbfeudale Systeme zu ersetzen. Dies trifft auf die Ukraine heute nicht zu. 

Schon damals betonte Marx stets die Notwendigkeit, dass die Arbeiter*innenklasse eine unabhängige Position mit einem eigenen Programm einnehmen müsse. Marx und die Erste Internationale waren zunächst gegen den Deutsch-Französischen Krieg, als der französische Kaiser Napoleon III. Preußen angriff, um den französischen Einfluss in Europa, der durch Preußen geschwächt worden war, wieder zu stärken. Preußen, so argumentierte Marx, befand sich zu diesem Zeitpunkt in einem Verteidigungskampf. Die Ereignisse änderten sich jedoch, als die französische Armee zusammenbrach und die preußischen Truppen nach Frankreich vordrangen und Paris belagerten. Während dieser Ereignisse kam es zum Ausbruch der Pariser Kommune. Es waren die Kommunard*innen, die Marx angesichts der preußischen Aggression und der von der herrschenden Klasse Frankreichs durchgeführten bösartigen Konterrevolution unterstützte. Mason erwähnt die Pariser Kommune nicht einmal, wenn er diese historischen Ereignisse mit dem aktuellen Konflikt in der Ukraine in Verbindung bringt. 

Marx betrachtete den amerikanischen Bürgerkrieg als einen revolutionären Krieg zwischen zwei Gesellschaftssystemen – dem aufstrebenden Kapitalismus im Norden und den Sklavenstaaten im Süden. Er hielt einen Sieg des Nordens für das beste Ergebnis. Eine solche Entwicklung würde zu einer Stärkung der Arbeiter*innenklasse führen und die Aussicht auf eine Verschärfung des Kampfes zwischen der amerikanischen Arbeiter*innenklasse und dem Kapitalismus eröffnen. Marx unterstützte den Sieg Lincolns bei den Präsidentschaftswahlen, was ihn jedoch nicht daran hinderte, eine unabhängige Position einzunehmen, die eine scharfe Kritik an Lincoln beinhaltete. 

Die Verwirrung in der Theorie des “gerechten Krieges” setzt sich fort, wenn Mason sagt, dass sie während der Zeit der Volksfront in den 1930er Jahren und in Großbritannien 1939 wieder auftauchte, als die meisten Menschen “erkannten, dass sie ein Interesse am Sieg der Demokratien über den Faschismus hatten”. 

Was in der von Paul Mason vorgetragenen Argumentation nicht berücksichtigt wird, ist der Unterschied zwischen der Ablehnung des Faschismus (oder reaktionärer Militärinterventionen) und dem Misstrauen gegenüber den bürgerlichen Politiker*innen und herrschenden Eliten sowie der Verteidigung der Notwendigkeit eines unabhängigen Programms und Kampfes der Arbeiter*innenklasse und der Volksmassen.

Die Volksfronten in den 1930er Jahren, die von einer Politik der Beschwichtigung “demokratischer” Teile der Kapitalist*innenklasse angetrieben wurden und die soziale Revolution ausbremsten, wurden mit Ausnahme Frankreichs alle blutig besiegt, weil es keine revolutionären Massenparteien mit einem unabhängigen Programm der Arbeiter*innenklasse gab. 

Der Weltkrieg 1939-45 wurde von den Massen in den Ländern der Alliierten Mächte anders wahrgenommen als der Konflikt von 1914-18. Trotzki vertrat die Ansicht, dass die revolutionären Sozialist*innen dies in ihrer Propaganda während des Krieges berücksichtigen mussten, eine Politik, die insbesondere die Revolutionär-Kommunistische Partei (RCP) in Großbritannien entwickelte. Dies bedeutete jedoch nicht, der Regierung Churchill Vertrauen zu schenken oder die Kritik an ihr zu dämpfen. Es bedeutete, sich ihrem Programm und der Kriegsführung in einer geschickten Weise entgegen zu stellen, die den Forderungen und Bedürfnissen der Arbeiter*innenklasse entsprach. In diesem Zusammenhang, als die deutsche Militärinvasion drohte, fand die Forderung der Trotzkist*innen nach der Bildung demokratischer Verteidigungskräfte in Britannien ein großes Echo. Die damalige Regierung sah sich gezwungen, diese Forderung auf verzerrte Weise aufzugreifen und  die “Home Guard” zu formieren. 

Ein sozialistisches Programm für den Kampf

Die Notwendigkeit eines revolutionären sozialistischen Programms in einer Kriegssituation ist entscheidend, um zu vermeiden, dass man vor dem opportunistischen Druck der Vertreter*innen des Kapitalismus und den episodischen Stimmungen, die sich entwickeln können, kapituliert. In jedem Krieg wird sich eine verständliche Stimmung gegen den Krieg und für den Frieden entwickeln. Dies ist auch im Ukraine-Konflikt der Fall. Kriege werden jedoch aus Gründen geführt, die die politischen, wirtschaftlichen und strategischen Interessen der verschiedenen beteiligten Kräfte und Klassen widerspiegeln. Als Marxist*innen besteht eine unserer Aufgaben darin, diese Interessen in Klassenbegriffen aufzuzeigen.

Der Wunsch nach Frieden und einer “diplomatischen” Lösung reicht nicht aus, um die Ursachen des Krieges zu beseitigen. Es ist notwendig, sich mit den Ursachen und Interessen der an einem Konflikt beteiligten Mächte auseinanderzusetzen. Der Wunsch nach “Frieden” und einem Ende des Alptraums dieses Konflikts ist verständlich, aber er allein reicht nicht aus. Einige in der Linken haben diesen Wunsch einfach artikuliert, ohne sich mit der Realität der Interessen der am Konflikt beteiligten Kräfte auseinanderzusetzen. Die Democratic Socialists of America (DSA), die während der Ukraine-Krise hin und her schwankten, welche Position sie einnehmen sollten, veröffentlichten am 26. Februar 2022 eine Erklärung, in der sie die russische Intervention verurteilten und forderten: “Sofortige Diplomatie und Deeskalation zur Lösung der Krise”. In der DSA-Erklärung heißt es weiter, dass die russische Invasion “gemäß der Charta der Vereinten Nationen illegal” sei. 

Die kapitalistischen Diplomatie spiegelt die Interessen der herrschenden Klasse eines jeden Landes wider, nicht die der Arbeiter*innenklasse und der Masse der Bevölkerung. Sie sind nicht von der Notwendigkeit motiviert, die Interessen der Arbeiter*innenklasse in allen Ländern zu verteidigen, sondern die der Herrschenden.  

Die Vereinten Nationen sind ein zwischenstaatliches Gremium. Sie wird hauptsächlich von den Interessen der USA und des westlichen Imperialismus dominiert. Wenn die USA und der westliche Imperialismus in der UNO nicht die von ihnen geforderte Mehrheit bekommen, schieben sie sie einfach beiseite. Die herrschenden Klassen oder Regime scheren sich nicht um die UNO oder die bürgerliche Legalität, wenn sie mit ihren eigenen vermeintlichen Interessen kollidiert. UN-“Legalität” bedeutete Bush und Blair nichts, als sie Bagdad auslöschten. Für Putin bedeutete sie nichts, als seine Truppen in die Ukraine einmarschierten. 

Jede Einigung zwischen Russland und der Ukraine wird den Konflikt, insbesondere im Donbass und in der Ostukraine im Allgemeinen, nicht lösen. Jede Vereinbarung auf dem Papier, wie die Minsker Vereinbarungen von 2014 zeigen, wird den Konflikt vor Ort nicht lösen oder die zugrunde liegenden Ursachen des Konflikts beseitigen. Auf der Grundlage der Fortsetzung von Putins und Selenskijs oligarchischem Kapitalismus in Russland und der Ukraine sowie der Rolle der Nato und des westlichen Imperialismus wird es keine echte, langfristige Lösung der Krise geben.

Der Ausgang des Krieges in der Ukraine ist zum jetzigen Zeitpunkt ungewiss. Unabhängig davon, wie er ausgeht, wird er jedoch die eigentliche Ursache des Konflikts nicht beseitigen. Die Verteidigung eines unabhängigen revolutionären sozialistischen Programms ist unerlässlich, um einen Weg nach vorn für die Arbeiter*innen der Ukraine und Russlands zu finden. 

Ein solches Programm muss Folgendes beinhalten:

*Sofortige Beendigung des Krieges und Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine
*Für eine bewaffnete Selbstverteidigung der Bevölkerung in der Ukraine über ethnische Grenzen hinweg unter demokratischer Kontrolle der arbeitenden Bevölkerung
*Für den Aufbau unabhängiger Arbeiter*innenorganisationen, Gewerkschaften und politischer Arbeiter*innenparteien in der Ukraine und in Russland.
*Für volle demokratische Rechte sowohl in Russland als auch in der Ukraine – Versammlungsfreiheit, eine freie Presse, das Recht, unabhängige Gewerkschaften und politische Parteien zu gründen und die Freilassung aller politischen Gefangenen
*Für eine demokratische Arbeiter*innenregierung in der Ukraine
*Nieder mit dem Putin-Regime und für eine demokratische Arbeiter*innenregierung in Russland
*Für das demokratische Recht der ukrainischen Bevölkerung, ihre Unabhängigkeit aufrecht zu erhalten. Gleichzeitig Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts der russischen Minderheit und aller anderen ethnischen Minderheiten in der Ukraine. Volle sprachliche und kulturelle Rechte für Ukrainer*innen, Russ*innen und andere Minderheiten
*Kein Vertrauen in westliche Mächte und deren Militärbündnisse, einschließlich der NATO

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