Eskalation im Nahen Osten
Vorbemerkung: Dieser Artikel erschien am 25. September in englischer Sprache auf www.socialistworld.net. Seitdem ist die Lage mit der Tötung des Hisbollah-Generalsekretärs Hassan Nasrallah durch einen israelischen Luftschlag weiter eskaliert.
Die rechtsgerichtete israelische Regierung hat sich daran gemacht, Teile des Libanon in Schutt und Asche zu legen, wie sie es bereits im Gazastreifen getan hat, nachdem sie beschlossen hatte, ihren Krieg gegen die Hisbollah auf eine weitaus höhere Stufe zu eskalieren.
von Judy Beishon, Komitee für eine Arbeiter*inneninternationale
Der ominöse erste Schritt des israelischen Regimes in der von ihm als „neue Phase“ bezeichneten Kriegsphase war die Platzierung von verstecktem Sprengstoff in über 3.000 Pagern und Funkgeräten, die in den Gesichtern und Händen von Hisbollah-Mitgliedern und allen anderen, die sich in ihrer Nähe aufhielten, explodierten – einschließlich Kindern und medizinischem Personal. Über 40 Menschen wurden getötet und die meisten der Personen, die die Geräte in der Hand hielten, wurden verletzt, viele verloren Augen und Finger.
Auf diese barbarische Aktion folgten massive Bombardierungen, die hauptsächlich Gebiete im Süden des Libanon betrafen, aber auch den Osten, den Norden und Teile der Hauptstadt Beirut nicht verschonten. Allein in den ersten Tagen wurden bei den Raketenangriffen über 500 Menschen getötet und über 1.600 verletzt. Dies ist bereits die höchste Zahl von Todesopfern an einem Tag seit dem libanesischen Bürgerkrieg 1975-90.
Die israelischen Sicherheitskräfte haben viele Libanes*innen per SMS aufgefordert, ihre Häuser zu evakuieren, da sie sonst bombardiert würden. Wie der Krieg gegen den Gazastreifen bereits gezeigt hat, werden solche Nachrichten jedoch nicht verhindern, dass die Zahl der Todesopfer unter der Zivilbevölkerung eskaliert. Nirgendwo ist man wirklich sicher. Dennoch ist es zu einem massiven Exodus von Libanes*innen gekommen, die aus ihren Häusern im Süden fliehen und nicht wissen, wohin sie gehen können und was bei ihrer Rückkehr noch übrig sein wird.
Israelische Minister sagen, dass sie eine Bodeninvasion nicht ausschließen, die das Ausmaß des Krieges und des Leids noch vergrößern würde. Die Hisbollah würde diese Entwicklung zweifelsohne ausnutzen, da ihre Kämpfer den israelischen Streitkräften dann viel größere Verluste zufügen könnten.
Seit Beginn des Gaza-Krieges hat die Hisbollah Raketen auf Israel abgefeuert, mit der Begründung, sie unterstütze die Palästinenser*innen in Gaza. Dies hat dazu geführt, dass an der israelisch-libanesischen Grenze im vergangenen Jahr bereits ein gewisses Maß an Krieg herrschte. Durch die militärische Eskalation Israels hat sich dieser niedrige Kriegszustand nun zu einem vollen Krieg ausgeweitet, was wiederum die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass die Hisbollah versuchen wird, ihre militärische Antwort zu verstärken. Außerdem wird in der Region und weltweit befürchtet, dass sich ein noch größerer Krieg im gesamten Nahen Osten entwickeln könnte, der sich auf die Weltwirtschaft und die internationalen Beziehungen auswirkt und zu massiver Instabilität mit dem Potenzial für weitere Konflikte führt.
Die militärischen Fähigkeiten der Hisbollah haben im bisherigen Verlauf des Krieges einige Rückschläge erlitten. Neben Hunderten von getöteten oder verstümmelten Kämpfern und der plötzlichen Sabotage ihrer Kommunikationseinrichtungen wurden zwei führende Hisbollah-Kommandeure in Beirut getötet. Die Hisbollah verfügt jedoch nach wie vor über einen beachtlichen Militärapparat mit beträchtlichen Kampfkapazitäten und wird oft als eine der stärksten nichtstaatlichen Streitkräfte der Welt und wahrscheinlich als die stärkste in der mit dem Iran verbündeten „Achse des Widerstands“ im Nahen Osten bezeichnet.
Weder die einfachen Menschen im Libanon noch die in Israel haben etwas von dieser schrecklichen Eskalation – seien es die rücksichtslosen Bombardierungen durch die israelischen Streitkräfte oder die von der Hisbollah wahllos auf Israel abgefeuerten Raketen, die israelische Zivilist*innen treffen und von der israelischen Rechten als Rechtfertigung für die Anwendung überwältigender Gewalt benutzt werden – zu gewinnen. Weder in Gaza noch in einem anderen Teil des Nahen Ostens haben die einfachen Menschen etwas davon.
Im Libanon werden es vor allem die Arbeiter*innen und die Armen sein, die durch weitere Tote, Verletzte und Massenvertreibungen den Preis dafür zahlen. Und die sich verschlechternden Kriegsbedingungen im Libanon führen zu einem noch härteren Kampf, um sich das tägliche Leben leisten und bewältigen zu können – in einem Land, das in den Jahren vor dem Krieg eine enorme wirtschaftliche, politische und soziale Krise erlebt hat, und zwar durch die Hände einer herrschenden Elite, die Reichtum, konfessionelle Spaltung und Korruption nutzt, um sich selbst weiter zu bereichern, während sie das Elend für die Armen vergrößert.
Die rechtsgerichtete israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu erklärt, dass der Einsatz überwältigender militärischer Macht der einzige Weg ist, um Sicherheit im Norden Israels zu erreichen und die Rückkehr von 60.000 evakuierten Israelis zu ermöglichen. Doch ebenso wenig wie die Hightech-Waffen der israelischen Verteidigungskräfte (IDF) die Hamas nach fast einem Jahr Krieg im Gazastreifen entscheidend besiegen konnten, können sie die Hisbollah-Miliz auslöschen, die stärker und größer ist als die der Hamas und viel mehr Waffen importieren kann. Und wie bei der Hamas wird es für jeden getöteten Hisbollah-Kämpfer andere Jugendliche geben, die so wütend über die israelische Offensive sind, dass sie bereit sind, an ihrer Stelle zu kämpfen.
Auch wenn ein Großteil der israelischen Bevölkerung anfangs bereit sein mag, die Bombardierung des Libanon zu unterstützen, zumal ihre pro-kapitalistischen Politiker*innen im Parlament kaum eine Alternative anbieten, wird diese Unterstützung zweifellos nachlassen, wenn dieser Krieg das soziale und wirtschaftliche Gefüge Israels – das bereits durch den Krieg im Gazastreifen geschädigt wurde – weiter beeinträchtigt und der israelischen Bevölkerung keine größere physische Sicherheit bringt. Sollte es zu einer Bodeninvasion kommen, könnte sich dieser Prozess aufgrund der unvermeidlichen Todesopfer unter den israelischen Soldat*innen noch beschleunigen.
Dieser Prozess hat sich während des Krieges im Gazastreifen vollzogen: Die Unterstützung für den Krieg ist in der israelischen Gesellschaft so stark zurückgegangen, dass Anfang September Hunderttausende Israelis auf den Straßen protestierten und die Arbeiter*innen in einen Generalstreik traten. Sie forderten einen Waffenstillstand, um die Freilassung der seit dem 7. Oktober 2023 in Gaza gefangen gehaltenen Israelis zu erreichen.
Die israelischen Streitkräfte marschierten 1982 während des libanesischen Bürgerkriegs von 1975 bis 1990 in den Libanon ein, doch noch im selben Jahr brach in Israel eine Massenbewegung gegen den Krieg aus, nachdem die rechtsgerichteten christlichen Falangisten, die von den Truppen des israelischen Verteidigungsministers Ariel Scharon unterstützt wurden, ein Massaker in den Beiruter Stadtteilen Sabra und Chatila verübt hatten. Die Bewegung forderte den Rücktritt von Scharon und eine Untersuchung des Massakers.
Die israelische Regierung sah sich gezwungen, ihre Truppen aus Beirut abzuziehen und sich darauf zu beschränken, einen Streifen Land im Südlibanon an der Seite der christlichen libanesischen „Südlibanon-Armee“ zu besetzen. Diese Besetzung, die 18 Jahre dauerte, wurde für die israelischen Streitkräfte zu einem Sumpf. Die israelischen Streitkräfte verloren Hunderte von israelischen Soldat*innen durch Hisbollah-Kämpfer und gaben die Besatzung nach einem chaotischen und demütigenden Rückzug als gescheitert auf.
Die Hisbollah, die sogenannte „Partei Gottes“, die sich auf einen rechtsgerichteten politischen Islam stützt, wurde zu Beginn dieses Krieges gegründet. Aufgrund ihres militärischen Widerstands gegen die israelische Besatzung genoss sie im Libanon eine Zeit lang breite Unterstützung. Sozialist*innen warnten jedoch, dass ihre pro-kapitalistische Politik und ihr spalterisch-konfessioneller Charakter – sie stützt sich hauptsächlich auf schiitische Muslime – unweigerlich dazu führen würden, dass sie sich ebenso spaltend und arbeiter*innenfeindlich entwickeln würde wie die vielen anderen pro-kapitalistischen Parteien im Libanon, die sich auf verschiedene ethnische, nationale und religiöse Gruppierungen stützen. Dies hat sich bewahrheitet, und im Laufe der Jahrzehnte ist die Hisbollah zu einem der wichtigsten Machtvermittler an der Spitze der libanesischen Gesellschaft geworden und stellt sogar Minister in der Regierung. Sie ist mit der autoritären Theokratie im Iran verbündet, während die staatliche libanesische Armee von den USA, dem Vereinigten Königreich und anderen westlichen Verbündeten finanziert wird, was die Interventionen externer Mächte widerspiegelt, die bereit sind, einen neuen Stellvertreterkrieg im Libanon zu führen – auch wenn sie nicht unbedingt alle unterstützen, die sie derzeit finanzieren -, wenn sie das Gefühl haben, dass ihre Interessen bedroht sind.
Im Jahr 2006 kam es zu einer weiteren Runde des Krieges zwischen Israel und der Hisbollah, und heute bringt der gegenwärtige Krieg noch mehr Verwüstung und Leid. Die Arbeiter*innen im Libanon können diesen Zyklen des Blutvergießens nur entgegenwirken, indem sie eine massenhafte, auf der Arbeiter*innenklasse basierende, nicht nach Konfessionen gespaltene politische Alternative zu ihren pro-kapitalistischen Führer*innen aufbauen.
Im Jahr 2019 brach im gesamten Libanon eine Massenbewegung gegen Steuererhöhungen, fehlende öffentliche Dienstleistungen und die grassierende Korruption an der Spitze der Gesellschaft aus. Sie überwand die konfessionellen Gräben und forderte die Absetzung der gesamten politischen Elite und ihrer Strukturen, indem sie skandierte: „Alle von ihnen heißt alle von ihnen“.
Nach einer verheerenden Explosion von gelagertem Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut im Jahr 2020 kam es zu weiteren Massenprotesten, bei denen Minister und andere Verantwortliche der Regierung beschuldigt wurden, und die Regierung trat zurück. Die libanesischen Arbeiter*innen und Armen haben also Momente kollektiver potenzieller Macht erlebt, in denen sie sich der Politik des „Teile und Herrsche“ widersetzt haben – ein Weg, den sie in der nächsten Periode weiterentwickeln müssen, angefangen mit dem Widerstand gegen den gegenwärtigen Krieg.
Auch in Israel muss die Bewegung gegen die Regierung dringend weiter eskalieren, um die Regierung Netanjahu abzusetzen, die Kriege in Gaza und im Libanon sowie die Angriffe auf Palästinenser*innen im Westjordanland zu beenden. Die Erneuerung und der Ausbau von Mobilisierungen und gewerkschaftlichen Aktionen auf internationaler Ebene gegen die Kriege ist ebenfalls dringend erforderlich. Die Mitglieder der Socialist Party in England und Wales und des Komitees für eine Arbeiter*inneninternationale (CWI) werden weiterhin dabei helfen, diese Bewegungen aufzubauen und gleichzeitig sozialistische Ideen in ihnen zu vertreten – die Ideen, die für die internationale Arbeiter*innensolidarität und den Aufbau von Arbeiter*innenorganisationen notwendig sind, die den Kapitalismus im Nahen Osten und weltweit herausfordern und beseitigen können. Wir fordern eine freiwillige demokratische sozialistische Konföderation des Nahen Ostens, die das demokratische und nationale Recht aller Völker der Region verteidigt.