Ein Jahr des israelischen Staatsterrors

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Wie kann ein Ausweg aus Krieg und Massensterben aussehen?

Seit der Verhängung einer unbarmherzigen Blockade des Gazastreifens im Jahr 2007 haben die israelischen Streitkräfte wiederholt brutale Kriege gegen diesen Landstrich geführt. Jeder dieser Kriege brachte schrecklichen Tod und Zerstörung, aber der gegenwärtige Krieg, der nun schon fast ein Jahr andauert, hat das Blutvergießen und das Leiden auf ein neues, schreckliches Niveau gehoben.

von Judy Beishon, Socialist Party England und Wales und Mitglied im internationalen Sekretariat des CWI

Zwölf Monate schwerer Bombardierungen mit Hightech-Waffen haben den Gazastreifen praktisch unbewohnbar gemacht. 2,3 Millionen Menschen sind dort unter den schlimmsten Bedingungen gefangen, die man sich vorstellen kann. Die Zahl der bestätigten Toten liegt bei über 41.000, weitere 10.000 werden vermisst und sind wahrscheinlich unter den Trümmern der zerstörten Gebäude begraben. Mehr als 95.000 Menschen wurden verletzt, mehr als ein Viertel von ihnen lebensgefährlich. Die schockierten und wütenden Reaktionen auf der ganzen Welt wurden durch die Tatsache verstärkt, dass fast die Hälfte der Bevölkerung des Gazastreifens Kinder sind, deren Trauma und Leid unermesslich ist.

In ihrem Bemühen, der Eskalation von Hunger, Unterernährung und Krankheiten im Gazastreifen entgegenzuwirken, haben Mitarbeiter*innen von Hilfsorganisationen regelmäßig darauf hingewiesen, dass die israelischen Behörden nicht annähernd genügend Nahrungsmittel und medizinische Hilfsgüter ins Land lassen. Amed Khan, ein in den USA ansässiger Hilfsorganisator, der über Erfahrungen in verschiedenen Konfliktgebieten weltweit verfügt, sah sich veranlasst, dies zu sagen: „Kein einziger Entscheidungsträger auf der Welt kümmert sich um dieses Problem… für jeden in einer Machtposition hat die humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung in Gaza einfach keine Priorität“. Er sagte auch: „Dies ist die schlimmste Situation, mit der ich je zu tun hatte. Es gab nie eine Situation, in der man versucht, Menschen innerhalb einer Grenze zu helfen, die von einem Verbündeten kontrolliert wird, dieser aber nicht will, dass die Hilfe zu den Menschen gelangt, denen man helfen will.

Khans zu Recht scharfe Bemerkungen spiegeln sowohl die Untätigkeit der westlichen imperialistischen Mächte als auch die schockierend brutale Kriegsoffensive der rechtsgerichteten israelischen Regierung wider. Es sind hochentwickelte Waffen aus diesen beiden Quellen, die die Palästinenser*innen abschlachten; und die kapitalistischen Regierungen, die Waffen an Israel liefern, haben nur absichtlich unzureichende Schritte unternommen, um deren Einsatz einzuschränken. Dies steht im Einklang mit ihren engen Beziehungen zur israelischen herrschenden Klasse und der Bedeutung Israels für sie als starker geopolitischer Verbündeter in der instabilen Region des Nahen Ostens.

Nach dem von der Hamas geführten militärischen Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023 versuchten sie so lange wie möglich, den Krieg gegen den Gazastreifen als „legitimes Recht“ Israels zur Selbstverteidigung hinzunehmen. Doch angesichts der weltweiten Reaktionen der Bevölkerung auf die Unverhältnismäßigkeit des Leids wurde es immer unhaltbarer, keine Kritik zu äußern. Bei den brutalen Angriffen auf Israel am 7. Oktober wurden 1.139 Menschen getötet – 695 israelische Zivilisten*innen, 71 Ausländer*innen und 373 Angehörige der israelischen Sicherheitskräfte – insgesamt weniger als 3 Prozent der Todesopfer unter den Palästinenser*innen im bisherigen Krieg gegen Gaza. Die Wut, die durch internationale Antikriegsbewegungen zum Ausdruck gebracht wird, hat zu großen Demonstrationen in vielen Städten der Welt geführt, zu wachsender Kritik in den USA an der Untätigkeit von Präsident Joe Biden, auch innerhalb der Demokratischen Partei, und zur Wahl von vier Antikriegskandidat*innen für das britische Parlament – darunter Jeremy Corbyn, der sich schon lange in Antikriegsbewegungen engagiert.

Eskalation

Eine weitere Sorge der Weltmächte besteht darin, dass sich der Krieg auf den gesamten Nahen Osten ausweiten und den Welthandel und die Weltwirtschaft schwer beeinträchtigen könnte. Außerhalb des Gazastreifens kam es bereits zu zahlreichen militärischen Zusammenstößen zwischen israelischen Streitkräften und den Streitkräften der vom Iran geführten „Achse des Widerstands“ in der gesamten Region, insbesondere der Hisbollah im Libanon, den Houthis im Jemen und dem sogenannten Islamischen Dschihad im Westjordanland. Derzeit werden die Zusammenstöße mit der Hisbollah von der Regierung Netanjahu zu einem regelrechten Krieg gegen die Hisbollah und den Libanon ausgeweitet, bei dem die libanesische Zivilbevölkerung einen schrecklichen Preis zahlen muss.

Während des gesamten Gaza-Krieges hat die Hisbollah Raketen auf Israel abgefeuert, und die Houthis haben Handelsschiffe angegriffen und Israel direkt getroffen. Israelische Streitkräfte haben Einrichtungen im Libanon, im Iran, in Syrien und im Jemen brutal bombardiert, führende Persönlichkeiten der Hisbollah und der Hamas in Beirut ermordet und Ismail Haniyeh, den Führer des politischen Flügels der Hamas, während eines Besuchs in Teheran ermordet. Im September explodierten auf schockierende Weise gleichzeitig über 3.000 Pager und Funkgeräte in den Händen von Hisbollah-Mitarbeiter*innen im Libanon, wobei die meisten von ihnen verletzt und 42 Personen, darunter zwei Kinder, getötet wurden. Zur gleichen Zeit erklärte Israels Verteidigungsminister „eine neue Phase des Krieges“ und ließ keinen Zweifel daran, dass diese barbarischen Explosionen von israelischen Geheimdiensten verübt wurden, woraufhin israelische Kampfjets über den Libanon geschickt wurden, um Tod, Zerstörung und Terror zu verursachen.

Dies hat die weltweiten Spannungen auf den höchsten Stand seit April gebracht, als der Iran als Vergeltung für die israelische Bombardierung des iranischen Botschaftskomplexes in Damaskus ein Sperrfeuer von Hunderten von Raketen direkt auf Israel abfeuerte, woraufhin Israel einen begrenzten Vergeltungsangriff auf den Iran ausführte. Die auf Israel abgefeuerten iranischen Raketen wurden größtenteils abgefangen, nicht zuletzt, weil der Iran die Aktion im Voraus ankündigte und Israel von den USA und einer Reihe anderer Länder, einschließlich einiger seiner arabischen Nachbarländer, beim Abfangen unterstützt wurde.

Auch westliche Militärflugzeuge und Kriegsschiffe haben in der Region interveniert, darunter US-amerikanische und britische Streitkräfte, die Raketen auf die Infrastruktur im Jemen abfeuerten. Während dieser ganzen Zeit haben die Eliten im Nahen Osten und die Weltmächte versucht, durch diplomatische Interventionen eine Ausweitung des Krieges zu verhindern, aber nicht auf einheitliche Weise, da die Region gleichzeitig ein Schlachtfeld zwischen den wichtigsten Mächten der Welt um Einfluss ist. Die iranische Achse hat enge Beziehungen zu China und Russland, Israel zu den USA und anderen westlichen Mächten, und beide Pole streben nach Einfluss auf die arabischen Regime. Ihre Interventionen haben die israelische Führung jedoch nicht davon abgehalten, den Krieg gegen den Libanon fortzusetzen, und es besteht weiterhin die Gefahr, dass die gesamte Region in einen noch größeren Krieg verwickelt wird.

Unterstützungen und Sanktionen

Aus Angst vor dieser potenziellen größeren Instabilität und auch wegen der Wut über das enorme Leid in Gaza in ihrer eigenen Bevölkerung haben die US-Regierung und andere mit Israel verbündete Mächte zu einem Waffenstillstand in Gaza aufgerufen und begonnen, begrenzte Sanktionen anzuwenden, um die israelische Führung in diese Richtung zu drängen.

Die USA schickten weiterhin Waffen im Wert von Milliarden Dollar nach Israel, verhängten aber Sanktionen gegen einige der israelischen jüdischen Siedler*innen, die an der Schändung palästinensischer Gemeinden im besetzten Westjordanland beteiligt sind. Biden hat sich auch verbal kritisch geäußert und u. a. darauf hingewiesen, dass die Ermordung Haniyehs den Gesprächen über einen Waffenstillstand im Gazastreifen „nicht förderlich“ war.

Eine Reihe anderer Regierungen hat ebenfalls Sanktionen gegen bestimmte israelische Siedler*innen verhängt, und es gab verschiedene andere Gesten, wie die formelle Anerkennung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) als palästinensischer Staat, die Unterstützung des Internationalen Strafgerichtshofs bei der Beantragung von Haftbefehlen gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und den Verteidigungsminister Yoav Gallant sowie die Unterstützung von Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs gegen einige der israelischen Aktionen im Gazastreifen und im Westjordanland. Einige Regierungen haben normale Waffenverkäufe an Israel gestoppt oder eingeschränkt, obwohl im Falle des Vereinigten Königreichs nur etwa 9 Prozent dieser Exporte gestoppt wurden.

Diese Maßnahmen haben den Krieg gegen Gaza nicht gestoppt und die westlichen Mächte sind sehr zurückhaltend, den Druck auf Israels Führung weiter zu erhöhen. Es ist notwendig und richtig, dass die Anti-Kriegs-Bewegungen viel mehr fordern – einschließlich der Studierendenproteste an vielen Universitäten auf der ganzen Welt, die verlangen, dass ihre Universitäten keine Gelder mehr investieren, die in irgendeiner Weise die Verfolgung des Gaza-Krieges unterstützen. Ohne massiven Druck von unten werden Regierungen und andere pro-kapitalistische Institutionen nur Maßnahmen ergreifen, die den Interessen der Kapitalist*innen ihres Landes entsprechen, die zwar die Ausbreitung des Krieges stoppen wollen, aber keine wirkliche Sorge um die Notlage des palästinensischen Volkes haben. Es kann massiver Druck aufgebaut und ausgeübt werden, um diese Institutionen zu zwingen, mehr Sanktionen zu ergreifen, als sie es wollen.

Während Sozialist*innen diesen Druck für mehr Sanktionen unterstützen, müssen sie die wichtige Warnung hinzufügen, dass, wenn kapitalistische Regierungen oder Bosse Sanktionen anwenden, sie sich nicht wirklich darum kümmern, ob Arbeiter*innen im In- oder Ausland davon betroffen sein könnten. Daher muss die Unterstützung von Sanktionen mit dem Beharren der Gewerkschaften einhergehen, dass es keinen Verlust von Arbeitsplätzen oder Lohneinbußen für Arbeiter*innen geben darf. Wenn nötig muss eine alternative Beschäftigung gefordert werden.

Die Rolle der Gewerkschaften muss jedoch viel weitreichender sein als das. Sie sind in der Lage, das Gewicht ihrer Millionen von Mitglieder*innen in die Waagschale zu werfen, indem sie die Demonstrationen ausweiten und indem sie Aktionen der Arbeiter*innen beschließen, die direkt angewandt werden können, beispielsweise gegen den Transport von Waffen oder anderen Gütern, die zur Tötung und Unterdrückung von Palästinenser*innen im Gazastreifen, im Westjordanland und in Ostjerusalem eingesetzt werden. Der Aufbau von Druck und Aktionen seitens der organisierten Arbeiter*innenklasse ist der einzige sichere Weg, um den Krieg zu stoppen, denn die Arbeiter*innen haben die Macht, ihre eigene Wirtschaft zum Stillstand zu bringen, was ihnen ein entscheidendes Wort in dieser Frage gibt.

Die Fähigkeit, den stärksten und wirksamsten Druck auf die Regierung Netanjahu auszuüben, liegt in den Händen der Arbeiter*innenklasse in Israel. Die Massendemonstration und der Generalstreik Anfang September gaben einen Einblick in die Macht der israelischen Arbeiter*innen, die israelische Wirtschaft zum Stillstand zu bringen. Es war ein wichtiger Schritt, um aufzuzeigen, wer die wirkliche Macht in der Gesellschaft hat: die Arbeiter*innenklasse oder die Kapitalist*innenklasse und ihre Regierung. Letztere können ohne die Arbeit der einfachen Menschen bei der Herstellung von Waren und der Erbringung von Dienstleistungen nichts ausrichten.

Generalstreik in Israel

Der Generalstreik wurde vom Gewerkschaftsverband Histadrut ausgerufen, der, wie die meisten Gewerkschaftsverbände heute, Führer*innen hat, die kapitalistische Interessen mit im Blick haben und sich in Kreisen des Establishments bewegen. Deshalb versuchen sie, die Aktionen zu begrenzen, und man kann ihnen nicht trauen, sie so weit zu eskalieren, dass sie die Netanjahu-Regierung absetzen und zu weiteren Aktionen im Interesse der Arbeiter*innen übergehen. Aber das hebt die potenzielle kollektive Macht der Arbeiter*innen im Histadrut nicht auf; es verdeutlicht nur die Aufgabe, die vor den Mitglieder liegt, ihre Branchengewerkschaften und ihren Verband aufzubauen und zu demokratisieren, indem sie neue Führer*innen wählen, damit sie in ihrem eigenen Interesse handeln können.

Der Histadrut wird von einigen linken Organisationen auf internationaler Ebene als unfähig abgetan, die Interessen der palästinensischen Arbeiter*innen zu vertreten, da sie ursprünglich ein rein jüdischer Arm des zionistischen kapitalistischen Establishments war, das in den ersten Jahrzehnten der israelischen Gesellschaft am Steuer stand. In dieser Zeit besaß sie selbst etwa ein Drittel der führenden Unternehmen. Schließlich verkaufte sie diese Unternehmen und konzentrierte sich auf die Rolle der Arbeitnehmer*innenvertretung. Sie nahm auch arabische und Wanderarbeiter*innen als Mitglieder auf und organisierte gemeinsame Kämpfe von israelischen Jüdinnen und Juden, palästinensischen Einwohner*innen Israels und anderen Arbeiter*innen in Betrieben, in denen diese Gruppen vertreten sind. Ungeachtet der Bedeutung dieser gemeinsamen Aktionen bleibt es die Aufgabe der 800.000 Mitglieder*innen, die verkommene Führung zu wechseln. (Siehe auch See also Unison And The Histadrut, in Socialism Today Ausgabe Nr.251, September 2021)

Die Beteiligung der Massen auf den Straßen am 1. September war eine der größten in der Geschichte des Staates Israel und der Generalstreik am folgenden Tag war umfangreich und dauerte mehr als einen halben Tag, bevor die Histadrut-Führung eine Anordnung des Arbeitsgerichts akzeptierte, den Streik zu beenden. An dem Streik beteiligten sich ein Großteil der Beschäftigten des öffentlichen Sektors sowie die Arbeiter*innen vieler großer Privatunternehmen und kleiner Betriebe. Die Nachricht, die zu diesen stürmischen zwei Tagen führte, war die Entdeckung der Leichen von sechs israelischen Geiseln im Gazastreifen, die fast elf Monate in Gefangenschaft überlebt hatten, nur um anscheinend von ihren Entführer*innen getötet zu werden, damit sie nicht lebend gefangen genommen werden konnten. Die Massenbewegung richtete ihren Zorn gegen die Regierung Netanjahu, die sich monatelang geweigert hatte, einem Waffenstillstand und einem Geiselaustausch zuzustimmen – was die mehrheitliche Stimmung in Israel für ein solches Abkommen und ein Ende der Regierung Netanjahu widerspiegelte.

Diese Regierung hat in einer Minderheit der Gesellschaft immer noch eine recht entschlossene Basis für den Widerstand gegen einen Waffenstillstand. Eine kürzlich vom israelischen Nachrichtensender Channel 12 News veröffentlichte Meinungsumfrage ergab jedoch, dass die sechs Koalitionsparteien der Regierung ihre Mehrheit verlieren würden, wenn heute allgemeine Wahlen abgehalten würden, und dass eine der beiden rechtsextremen Parteien in der Koalition alle ihre Parlamentssitze verlieren würde.

In der Zwischenzeit klammert sich Netanjahu an die Macht, gestützt von rechtsgerichteten ultrareligiösen Parteien und den beiden ultranationalistischen rechtsextremen Parteien, die damit drohen, seine Koalition platzen zu lassen, sollte er den Krieg beenden. Ein starkes persönliches Element ist im Spiel, denn Netanjahu will einen Prozess wegen Korruption vermeiden, der ihn erwartet, wenn er abgewählt wird. Er ist zweifellos auch beunruhigt über das Erbe einer beispiellosen Krise und Unsicherheit, das er hinterlassen würde – er hat bisher keine Strategie für den Ausstieg aus dem Krieg entwickelt und ist stattdessen dabei, ihn zu verlängern und auszuweiten.

Die zahnlosen internationalen Sanktionen bedeuten nicht, dass das gesamte internationale Klima in Bezug auf den Krieg keinen Einfluss auf Netanjahus Entscheidungen gehabt hätte. Er hat eindeutig versucht, einen Spagat zu machen zwischen der internationalen Kritik am Krieg, der Mehrheit der Menschen in Israel, die einen Waffenstillstand wollen, und den Forderungen der Rechten, den Krieg fortzusetzen und die militärischen Angriffe gegen die Hisbollah im Libanon und die palästinensischen Milizen im Westjordanland zu verstärken.

Entschlossen, die Erschütterungen des Gaza-Krieges zu nutzen, um die israelische Annexion des Westjordanlandes auszuweiten und zu festigen, startete die Regierung Netanjahu Ende August eine Welle militärischer Angriffe auf Städte im Westjordanland, wobei Straßen aufgerissen, die Versorgungsinfrastruktur zerstört und Menschen ohne Wasser, Strom und andere lebensnotwendige Dinge in ihren Häusern eingeschlossen wurden. Seit Oktober 2023 wurden im Westjordanland über 650 Palästinenser*innen getötet und 9.000 verhaftet, von denen viele in israelischer Haft gefoltert und misshandelt wurden.

Die israelischen Behörden haben auch weitgehend die Augen vor gewalttätigen Übergriffen rechtsnationalistischer jüdischer Siedler*innen gegen palästinensische Gemeinden im Westjordanland verschlossen. Darüber hinaus wurden zuvor illegale Außenposten genehmigt und Tausende neuer Siedlungshäuser zugelassen.

Dies geschieht vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Zerstörung der Palästinenser*innen im gesamten Westjordanland: Nach dem 7. Oktober annullierte Israel rund 160.000 Arbeitsgenehmigungen von Palästinenser*innen aus dem Westjordanland, die in Israel oder in den Siedlungen arbeiteten, und behielt Steuereinnahmen von der Bevölkerung der Palästinensischen Autonomiebehörde ein, was dazu führte, dass die PA die Löhne im öffentlichen Sektor halbierte.

Unbeständigkeit und Bewusstsein

Wenn auch nicht vergleichbar mit dem gegenwärtigen Ausmaß an Massentrauma und Existenzbedrohung für die unter Krieg und Besatzung lebenden Palästinenser*innen, so kann man doch sagen, dass ein Großteil der israelischen Bevölkerung seit dem 7. Oktober einen tiefen Schock erlebt hat. Die israelischen Verteidigungskräfte (IDF), auf die man sich verlassen zu können glaubte, haben die Invasion an diesem Tag nicht gestoppt, und rund 100 Geiseln sind immer noch nicht zurückgekehrt. Die meisten fragen sich, ob der Krieg – und seine Ausweitung auf das Westjordanland und den Libanon – zu mehr Sicherheit führen wird, was eindeutig nicht der Fall ist: Krieg und brutale Unterdrückung bereiten nur den Boden für weitere Runden des Blutvergießens.

Das politische Bewusstsein der israelischen Arbeiter*innen in der nationalen Frage ist gegenwärtig von ihren großen Ängsten um ihre physische Sicherheit geprägt, und sie haben noch keine eigene Massenpartei mit einem Programm, das einen Ausweg aus dieser Verwundbarkeit bietet. Ihre Ängste werden durch einen ständigen Strom spaltender rechtszionistischer Propaganda in den israelischen Medien verstärkt, die den Antisemitismus und den von Hitlers Regime in Deutschland verübten Holocaust für eine rechtsgerichtete Agenda instrumentalisiert.

Trotzkist*innen haben sich 1948 zu Recht gegen die Gründung des Staates Israel in Palästina ausgesprochen, aufgrund der Ungerechtigkeit gegen die dort lebenden Palästinenser*innen, und sie haben im Voraus vor dem unvermeidlichen nationalen Konflikt gewarnt, der daraus entstehen würde. Heute ist Israel ein entwickelter Staat mit einem starken nationalen Bewusstsein in allen seinen Klassen und mit einer der stärksten Streitkräfte der Welt. Einige linke Organisationen weigern sich, die Auswirkungen dieser Realität anzuerkennen. Deshalb kann eine Lösung des nationalen Konflikts nur von den Arbeiter*innenklassen sowohl Israels als auch der palästinensischen Gebiete herbeigeführt werden – sie müssen beide ihre herrschenden Eliten herausfordern und gegen sie vorgehen, um das System zu beseitigen, das die Grundlage für den Konflikt überhaupt erst geschaffen hat.

Die Arbeiter*innenkämpfe in Israel werden unweigerlich dazu führen, dass das Wesen und die Interessen der israelischen herrschenden Klasse deutlicher hervortreten und die Notwendigkeit des Aufbaus einer arbeiter*innenbasierten Alternative erkannt wird. Während dieses Prozesses wird es möglich sein, die gegenwärtigen politischen und rassischen Spaltungen unter den einfachen Menschen zu überwinden – nicht nur zwischen israelischen Juden und arabischen Einwohner*innen, sondern auch zwischen den vielen verschiedenen Schichten der israelisch-jüdischen Gesellschaft – und sie entlang von Klassenlinien zu vereinen. Dabei wird es nicht nur um wirtschaftliche und soziale Fragen gehen, sondern auch um demokratische Rechte für alle, ein Ende der Unterdrückung und einen Ausweg aus dem Kreislauf der Kriege.

Bewusstseinsveränderungen und -entwicklungen sind unvermeidlich, wie sich im Verlauf des Gaza-Krieges gezeigt hat, als mehr und mehr Israelis einen Waffenstillstand forderten. Nicht nur unter den israelischen Arbeiter*innen wächst die Besorgnis darüber, wohin die Regierung Netanjahu den nationalen Konflikt und die israelische Gesellschaft führt, sondern auch in der herrschenden Klasse Israels. Dies hat sich in offenen Spaltungen an der Spitze gezeigt, wobei Großunternehmer*innen, die Spitzen des staatlichen Sicherheitsapparats und pro-kapitalistische Oppositionspolitiker*innen im Parlament scharfe Kritik an der Regierung geübt haben. Sie befürchten unter anderem eine Überdehnung des Militärs, eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaft, einen wirtschaftlichen Niedergang und eine weitere Entwicklung der oppositionellen Massenbewegung. In ihrer Verzweiflung, dem Vorgehen der Regierung Einhalt zu gebieten, haben einige von ihnen sogar zum Generalstreik aufgerufen – ein riskanter Schritt für Kreise des Establishments, da ein Generalstreik das politische Bewusstsein der Arbeiter*innenbewegung schärfen kann.

Einige verwenden recht katastrophale Formulierungen. So sagte Generalmajor Yitzhak Brik, der in seiner Laufbahn unter anderem Kommandeur der IDF-Militärschulen und IDF-Ombudsmann war, dass die Weigerung der Regierung, die Feindseligkeiten im Gazastreifen einzustellen, „das Militär näher an den Zusammenbruch und den Staat an seinen Untergang bringt“ und „wenn wir die Kämpfe im Gazastreifen fortsetzen, indem wir dieselben Ziele angreifen und wieder angreifen… werden die israelischen Verteidigungskräfte mit jedem Tag schwächer und die Zahl der Toten und Verwundeten unter unseren Soldaten nimmt zu. Die Hamas hingegen hat ihre Reihen bereits mit 17- und 18-Jährigen aufgefüllt“ (Haaretz, 3. September 2024).

Er sprach davon, dass viele IDF-Reservist*innen „nicht mehr damit einverstanden sind, immer wieder neu eingezogen zu werden“ und fügte hinzu, dass „Israels Wirtschaft, seine internationalen Beziehungen und sein sozialer Zusammenhalt durch diesen Krieg schwer beschädigt werden“. Er warnte auch, dass „die IDF nicht genug Kräfte haben, um einen Mehrfrontenkrieg zu führen“.

Israels Wirtschaft ist groß und hat ein jährliches BIP, das höher ist als die Staatsverschuldung, so dass es über einen gewissen Handlungsspielraum verfügt. Doch der Krieg hat der Wirtschaft in vielerlei Hinsicht geschadet: die Kosten für die Waffen und den Militärapparat; Arbeiter*innen, die vertrieben wurden oder in den IDF dienten und daher nicht in ihren normalen Berufen arbeiten konnten; Arbeiter*innen, denen die Einreise nach Israel aus dem Westjordanland verweigert wurde oder die während des Krieges nicht aus anderen Ländern einwandern wollten; ein Rückgang der Verbraucherausgaben; eine steigende Inflation; ein Rückgang des Tourismus; Störungen im Schiffsverkehr; und ausländische Sanktionen – einschließlich der Türkei, die den gesamten Handel mit Israel aussetzte. Die Zahl der Unternehmensschließungen ist höher als üblich, und die Kreditwürdigkeit Israels wurde von den internationalen Finanzinstituten herabgestuft.

Keine Lösung mit der herrschenden Klasse

Die israelischen Arbeiter*innen sollten keiner der prokapitalistischen Galionsfiguren vertrauen, die sich gegen die derzeitige Regierung stellen, einschließlich der kürzlich gegründeten Partei der Demokraten unter Führung von Yair Golan, einem Zusammenschluss der Labour Party und der linken Partei Meretz. Golan fordert eine endgültige Trennung von den Palästinenser*innen in den Gebieten und spricht sich gegen eine vollständige Annexion des Westjordanlandes aus, da Israel dann keine Demokratie mehr wäre. Er hat kein Problem damit, in der Zwischenzeit die Unterdrückung und Besetzung fortzusetzen oder den Krieg gegen die Hisbollah zu verstärken.

Der Flügel der herrschenden Klasse, der die Abtrennung der Annexion vorzieht, bietet keine Lösung des Konflikts an; er wird nicht zulassen, dass ein echter palästinensischer Staat nach der Abtrennung existiert. Keiner der pro-kapitalistischen Politiker*innen in Israel oder auf internationaler Ebene hat eine Lösung parat, denn auf der Grundlage des Kapitalismus ist keine Lösung möglich – die israelische herrschende Klasse hat ein Hauptinteresse daran, die Arbeiter*innen entlang nationaler Grenzen gespalten zu halten und den Palästinenser*innen das Selbstbestimmungsrecht zu verweigern. All dies ist Teil der Aufrechterhaltung ihrer Reichtumsakkumulation, ihrer sozialen Basis, ihres Prestiges und ihres Einflusses, ja sogar ihrer Existenz, die durch künftige Klassenkämpfe der Arbeiter*innenklasse sowohl in Israel als auch in den palästinensischen Gebieten und der Arbeiter*innen in der gesamten Region gegen ihre eigenen Eliten bedroht sein wird.

Israels Arbeiter*innenklasse und Mittelschicht haben absolut nichts zu verlieren, wenn sie den Kapitalismus in Israel beenden und dann zusammen mit Palästinenser*innen und anderen Araber*innen in einer sozialistischen Konföderation leben, denn auf einer sozialistischen Grundlage – mit öffentlichem Eigentum an den wichtigsten Unternehmen und sozialistischer Wirtschaftsplanung – werden alle Arbeiter*innen und die Armen in Israel, Palästina und der Region, ungeachtet der Unterschiede im Lebensstandard heute, in der Lage sein, einen erheblich verbesserten Lebensstandard zu haben. Weder ein kapitalistisches Israel noch irgendeine Art von kapitalistischer palästinensischer Entität wird in der Lage sein, menschenwürdige Arbeitsplätze, Dienstleistungen und Wohnungen für alle zu schaffen oder wirkliche Sicherheit und Frieden durch ein Ende des Konflikts zu erreichen, der nur kapitalistischen Interessen dient.

Es ist nicht verwunderlich, dass angesichts der heutigen Verschärfung des blutigen Konflikts die Arbeiter*innen auf beiden Seiten der nationalen Kluft wenig Vertrauen in die Erreichung einer friedlichen Koexistenz in zwei benachbarten Staaten haben. Auf der Grundlage des fortbestehenden Kapitalismus ist dieser Mangel an Vertrauen völlig gerechtfertigt und richtig; eine Entwicklung des Bewusstseins auf der Grundlage sozialistischer Ideen wird wesentlich sein, um Vertrauen in eine demokratisch beschlossene Lösung zu schaffen. Diese Lösung kann dadurch erreicht werden, dass die Arbeiter*innen in Israel und in den palästinensischen Gebieten unabhängig von allen kapitalistischen Interessen handeln und ihre eigenen Organisationen aufbauen, die in ihrem eigenen Interesse handeln können, mit Verbindungen zwischen ihnen. Wir in der Sozialistischen Partei fordern ein sozialistisches Palästina neben einem sozialistischen Israel, mit vollen Rechten für Minderheiten, wobei wir anerkennen, dass Arbeiterschaftvertreter*innen demokratisch über die Grenzen und Staatsformen entscheiden werden.

Palästinensischer Widerstand

Für die Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten sind derzeit ein Ende des Krieges und eine massive Aufstockung der humanitären Hilfe äußerst dringend. Ebenso wichtig ist die Wiederaufnahme des Massenkampfes, um die Besatzungstruppen zurückzudrängen. Die Fatah-Partei, die die Palästinensische Autonomiebehörde leitet, wird von den Palästinenser*innen wegen ihrer Korruption, ihrer Kollaboration mit der Besatzung und ihres fehlenden Programms zur Beendigung der Armut und zur Befreiung der Palästinenser*innen verabscheut. Viele, vor allem Jugendliche, wenden sich an die zahlreichen bewaffneten palästinensischen Milizen, weil sie zumindest versuchen, aktiv Widerstand gegen die Besatzung zu leisten. Aber isoliert von einer Massenbewegung und ohne demokratische Organisation und Kontrolle durch eine solche Bewegung können sie der weit überlegenen militärischen Kraft Israels nicht ernsthaft etwas entgegensetzen.

Die Hamas, die seit 2006 die führende politische Partei und Miliz im Gazastreifen ist, basiert auf einem rechtsgerichteten politischen Islam. Sozialist*innen können weder ihre Ideologie noch ihre Methoden unterstützen, zu denen die Unterdrückung der Opposition im Gazastreifen und militärische Angriffe gegen Israel gehören, die wahllos durchgeführt werden, so dass Zivilist*innen getötet und verletzt werden. Um wirksam zu sein, muss nicht nur der bewaffnete Widerstand eine massenhafte Form annehmen, sondern auch die sozialistische Ideologie muss im palästinensischen Kampf Fuß fassen, so dass sie den Besatzungsapparat der israelischen herrschenden Klasse in einer Weise angreift, die dazu beitragen kann, die Fähigkeit der herrschenden Klasse zu untergraben, die israelischen Arbeiter*innen hinter sich zu bringen.

Diese Position zu vertreten bedeutet nicht, sich der Propaganda gegen die Hamas anzuschließen, die in den kapitalistischen Medien in Israel und seinen Verbündeten verbreitet wird. Zum Beispiel schreiben Israels rechte Medien praktisch jede brutale Tat in Gaza automatisch der Hamas zu und ignorieren die vielen anderen Milizen und bewaffneten Banden dort. Auch machen die israelischen Behörden die Hamas für die große Zahl der zivilen Todesopfer durch IDF-Bomben verantwortlich und beschuldigen die Hamas, sich in Wohngebieten zu verstecken, obwohl es in Gaza kaum Nicht-Wohngebiete gibt.

In jedem Fall ist es nicht die Aufgabe externer militärischer Kräfte, die Hamas zu bekämpfen – und die IDF können die Hamas ohnehin nicht vollständig beseitigen. Es ist die Aufgabe des palästinensischen Volkes selbst, durch den Aufbau einer politischen Arbeiter*innenpartei, die anstelle der Hamas und der Fatah an die Macht kommen kann, eine palästinensische Regierung zu erreichen, die die Lösung ihrer Bedürfnisse und Bestrebungen wirklich vorantreiben kann. Auch in Bezug auf die Hisbollah, die ebenfalls auf dem rechten politischen Islam basiert, müssen die Arbeiter*innen im Libanon eine Arbeiter*innenpartei aufbauen, die die einfachen Menschen über die konfessionellen und religiösen Grenzen hinweg vereinen kann und eine Alternative zu allen prokapitalistischen Parteien und ihren Milizen bietet.

Perspektiven für den Krieg

Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels ist nicht absehbar, wie lange der Krieg im Gazastreifen andauern wird, wie er ausgehen wird und inwieweit sich der Krieg zwischen Israel und der Hisbollah ausweiten und in noch größerem Umfang Menschenleben vernichten wird. Selbst wenn die Regierung Netanjahu abgesetzt wird, ist nicht auszuschließen, dass die IDF im Gazastreifen verbleiben und die militärischen Angriffe und die Unterdrückung noch eine Zeit lang fortgesetzt werden.

Wenn der Krieg zu Ende ist, haben weder die israelischen Regierungsparteien noch die Oppositionsparteien im Parlament einen brauchbaren Plan für den „Tag danach“, und künftige Runden des Blutvergießens sind unvermeidlich, solange der Kapitalismus existiert. Verschiedene Staats- und Regierungschefs in der Welt und einige Politiker*innen in Israel haben gesagt, dass die arabischen Führer*innen in den Nachbarländern einspringen können, um den Gazastreifen nach dem Krieg zu regieren, aber keines der arabischen Regime will das Risiko eingehen, als Unterstützer der israelischen Bedürfnisse gesehen zu werden, weil sie damit die Gegenreaktion ihrer eigenen Bevölkerung hervorrufen würden – zumindest ohne einige Zugeständnisse an die Palästinenser*innen durch das israelische Regime und seine westlichen Unterstützer.

Aus Eigeninteresse fordern die imperialistischen Mächte und die arabischen Regime, dass eine Art palästinensische Entität zugestanden werden muss, aber sie werden sich weit davon entfernen, einen echten und unabhängigen palästinensischen Staat zu schaffen. Den arabischen Anführer*innen sowie denen im Iran und in der Türkei, die alle von verschiedenen Weltmächten unterstützt werden, geht es weit mehr darum zu verhindern, dass sich ihre eigene Bevölkerung erhebt, um sie zu stürzen – wie es den Präsidenten in Tunesien, Ägypten und im Jemen vor dreizehn Jahren ergangen ist – als darum, den Palästinenser*innen zu helfen. Da den jungen Menschen in der gesamten Region jedoch nur eine Zukunft in Armut und Frustration geboten wird, sind weitere Revolutionen unvermeidlich. Die entscheidende Aufgabe für die Massen in der Region besteht darin, ihre eigenen Organisationen aufzubauen, die mit Programmen für eine sozialistische Transformation ausgestattet sind. Die Arbeiter*innen in Israel und Palästina würden durch eine solche Welle inspiriert werden, wie es 2011 der Fall war, und so einen Prozess von Revolutionen unterstützen, der auch dort den verrotteten Kapitalismus hinwegfegen kann.

Dieser Artikel erschien zuerst in englischer Sprache in der Oktober-Ausgabe von Socialism Today.