Zur Lage und Aussichten der deutschen Wirtschaft
„Deutschland ist ein Land voller Stärken und voller Stärke“. In solche Selbstbestärkungsphrasen versuchte der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck im Oktober die düsteren Wirtschaftszahlen zu verpacken, die sein Ministerium vorlegen musste. Nun geht auch die Regierung von einer Rezession im Jahr 2024 und damit dem zweiten Jahr in Folge aus. Das gab es zuvor erst einmal seit Gründung der BRD – in den Nuller-Jahren als Deutschland als „kranker Mann“ Europas gehandelt wurde.
von Tom Hoffmann, Sol-Bundesleitung
Im internationalen Vergleich wird die Krise besonders deutlich. Während das reale Bruttoinlandsprodukt Deutschlands Mitte 2024 nur knapp über dem Stand von Ende 2019 lag, liegen allein die USA (über zehn Prozent), aber auch die Eurozone insgesamt (fast vier Prozent) deutlich vorn. Deutschland ist Schlusslicht der G7 und von einem Motor zu einer Konjunkturbremse in der EU geworden.
Krise der Industrie
Die deutsche Wirtschaft basiert mehr als jene anderer Länder auf dem Export industrieller Waren. Ein Viertel der Wertschöpfung kommt aus der Industrie. Umso schwerer wiegt der Rückgang in diesem Bereich. Die gesamte Industrieproduktion lag Mitte des Jahres 15 Prozent unter dem Stand von Ende 2017.
Schlaglicht dieser Entwicklung ist die Automobilindustrie. Die zunehmende Konkurrenz, insbesondere mit chinesischen und US-Konzernen und die nachlassende Nachfrage auf dem Weltmarkt, bedrohen die Profite und Dividenden der Aktionär*innen. Allein in deutschen Werken gibt es Überkapazitäten von etwa zwei Millionen Autos: eine klassische kapitalistische Überkapazitätskrise. Die Autobosse wollen diese nun auf dem Rücken der Beschäftigten abwälzen und drohen mit Massenentlassungen und sogar Werksschließungen, wie bei Volkswagen.
Doch VW ist nicht allein. In der Zulieferindustrie ist der Stellenabbau seit Jahren in vollem Gange. Bei ThyssenKrupp Stahl bangen Zehntausende um ihre Jobs. Hohe Energiepreise setzen zudem energieintensive Unternehmen unter Druck. Betroffen sind aber auch 30.000 Stellen bei der bundeseigenen Deutschen Bahn.
Die Zahl der Beschäftigten insgesamt ist zuletzt zwar leicht angestiegen, aber auch die Arbeitslosenquote ist auf sechs Prozent geklettert. Gerade tendenziell besser bezahlte Industriearbeitsplätze wurden in den vergangenen Jahren zu Hunderttausenden abgebaut, während es einen Aufbau bei (insbesondere staatsnahen) Dienstleistungen gab. Diese Verlagerung bedeutet für die Beschäftigten und die Arbeiter*innenklasse insgesamt daher Einkommensverluste, was auch den privaten Konsum drückt. Der Arbeitskräftemangel bremst diese Entwicklung aktuell noch etwas, da sich die Bosse überlegen müssen, ob sie in Zukunft geeignetes Personal so schnell wiedereinstellen können.
Ursachen
Die exportorientierte Industrie war einst eine Stärke der deutschen Wirtschaft im internationalen Wettbewerb. Vom Aufstieg des chinesischen Staatskapitalismus und seiner Integration in den Weltmarkt, ebenso wie von der Schaffung des europäischen Binnenmarktes, profitierte der deutsche Kapitalismus wie kaum eine andere Nation. Nach der Weltwirtschaftskrise 2007-2009 war die Nachfrage vor allem aus China groß, und deutsche Unternehmer*innen konnten den Euro nutzen, um ihre Waren billiger abzusetzen. Eine entscheidende Voraussetzung waren dafür auch die historischen Angriffe auf die Arbeiter*innenklasse in Form der Hartz-Gesetze und die Schaffung eines riesigen Niedriglohnsektors Mitte der 2000er. Solche „Reformen“ fordert das Kapital auch jetzt wieder.
Die Pandemie und der Ukraine-Krieg waren Beschleuniger einer ohnehin unter großen strukturellen Problemen und Überkapazitäten ächzenden Weltwirtschaft. Sie haben in besonderem Maße zu Nachfrageeinbrüchen bzw. höheren Kosten, unter anderem bei Energielieferungen, geführt, waren aber nicht tieferliegende Ursache der Krise. Diese ergibt sich aus den unlösbaren Widersprüchen des Kapitalismus, der versucht, eine international und gesellschaftlich weit verzweigte Produktion von Gütern unter Beibehaltung des Privateigentums an Produktionsmitteln und der Fortexistenz von Nationalstaaten zu bändigen. Aus dem, dem Kapitalismus innewohnenden, Wettstreit um Profite ergeben sich zwangsläufig Absatz- und Überkapazitätskrisen, aber auch Konflikte und Spannungen zwischen Staaten. Diese sind heute viel ausgeprägter und protektionistische Maßnahmen, wie gestiegene Zölle, treffen in besonderem Maße exportorientierte Unternehmen.
Diese Widersprüche haben auch die „inländischen“ Probleme des deutschen Kapitalismus mitzuverschulden. Entgegen der kapitalistischen Märchen, dass Gewinne naturgemäß zu neuen privaten und staatlichen Investitionen und damit Produktivitätssteigerungen führen, herrscht eine (selbst im internationalen Vergleich) große Investitions- und Produktivitätskrise. Kein EU-Land hat zwischen 2000 und 2020 so wenig in die öffentliche Infrastruktur investiert wie Deutschland. Der Anteil privater Nettoinvestitionen liegt seit 2020 unter zwei Prozent des BIP. Das Kapital suchte und sucht lieber nach schnellen Gewinnen durch Spekulation und nicht nach der Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse. So lässt sich auch erklären, warum trotz Rezessionsnachrichten an der Börse Partystimmung herrscht und der DAX den historischen Rekordwert von 20.000 Punkten anpeilt.
Keine der Krisenursachen wird daher schnell verschwinden. Ein Ausweg im Interesse der Arbeiter*innen ist nur mit einem Bruch mit dem Kapitalismus und durch Gemeineigentum an den Banken und Konzernen unter ihrer demokratischen Kontrolle und Verwaltung möglich – eine sozialistische Umwälzung, die nicht auf ein Land beschränkt sein würde. Eine demokratisch geplante Umstellung der Produktion und der Einsatz des obszönen Reichtums der Milliardär*innen und Multi-Millionär*innen im Interesse der Gesellschaft könnte alle Arbeitsplätze retten und die nötigen öffentlichen Investitionen sowie eine drastische Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohn- und Personalausgleich finanzieren.