Interview mit Patricio Guzman, Socialismo Revolucionario (CWI in Chile)
Vor fast genau fünf Jahren gingen in Chile Millionen Jugendliche und Arbeiter*innen auf die Straße, wie ist die Stimmung heute?
Vor fünf Jahren haben wir einen massiven sozialen Aufstand erlebt. Die Elemente der Rebellion hatten sich schon seit vielen Jahren in Form von Protesten und Massendemonstrationen manifestiert. All diese Bewegungen kamen zusammen, um gegen eine geringfügige Fahrpreiserhöhung in der Metro von Santiago zu protestieren. Innerhalb weniger Stunden breitete sich der Aufstand im ganzen Land aus.
Die Unterdrückung war sehr hart, es gab etwa vierzig Tote und 400 Menschen mit bleibenden Augenverletzungen. Doch selbst als die Regierung das Militär auf die Straße brachte und eine Ausgangssperre verhängte, hörte die Bewegung nicht auf. Keine Repression, Drohung oder politische Vereinbarung konnte den Volksaufstand bis zum Beginn der COVID-Pandemie Anfang 2020 aufhalten.
Zu diesem Zeitpunkt begann der Niedergang, doch bei den Wahlen zum Verfassungskonvent erhielten die unabhängigen Kandidat*innen, die den Volksaufstand verteidigten, viele Stimmen, während die traditionellen Parteien nur noch minimal vertreten waren.
Bei den Präsidentschaftswahlen siegte Gabriel Boric mit seiner Mitte-Links-Koalition im zweiten Wahlgang gegen den deutschstämmigen, rechtsextremen Kandidaten Kast.
Doch bei der Volksabstimmung über den vorgeschlagenen Verfassungstext hatten die bürgerlichen Parteien ihren Diskurs umgestellt und die von ihnen vertretene Ablehnung setzte sich durch.
Von da an war klar, dass wir in einen starken Niedergang der sozialen Bewegungen eintreten. Aber die Unzufriedenheit bleibt, denn keine der sozialen Forderungen wurde erfüllt.
Wie hat sich die Stimmung bei den letzten Regionalwahlen entwickelt?
Den höchsten Anteil hatten ungültige und leere Stimmzettel. Es gab Korruptionsskandale, von denen alle bürgerlichen Parteien betroffen waren, insbesondere die der Pinochet-Rechten, und obwohl die Stimmabgabe unter Androhung einer Geldstrafe obligatorisch war, haben viele Menschen die Kandidat*innen und den politischen Apparat auf diese Weise abgestraft.
In Chile haben die rechten Parteien, insbesondere Renovacion Nacional, die Wahlen gewonnen. Wie lässt sich ihr Aufstieg erklären? Und welche Gefahr birgt er?
Die Regierungsparteien, die in der Praxis eine rechte Regierung gebildet haben, obwohl sie angeblich Mitte-Links sind, wurden abgestraft. Andererseits hat die UDI, die Pinochet-Partei, die die wichtigste Partei der Rechtskoalition war, einen Stimmenübertrag auf die Renovación Nacional erlitten.
Die größte Gefahr besteht darin, dass die Unzufriedenheit mit der Regierung Boric dazu führen könnte, dass die Pinochet-Rechte wieder an die Regierung kommt.
Auch Mitglieder des CWI in Chile haben sich zur Wahl gestellt. Wie haben die Genoss*innen in den Wahlkampf interveniert und welche Ergebnisse haben sie erzielt?
Wir haben zwei regionale Kandidaten aufgestellt. Wir beteiligten uns an der Grünen Volksallianz. Wir bekräftigen die sozialen Forderungen und den Aufstand von 2019. Unsere Kandidaten haben mehr als 21.000 Stimmen erhalten, was uns eine gute Wahlbasis für unser Projekt gibt, eine neue Arbeiter*innenpartei in Chile aufzubauen, zusammen mit den anderen Kräften, mit denen wir verbunden sind.
Könnte es in Zukunft neue Aufstände wie 2019 geben? Welche Lehren sollten aus der Vergangenheit gezogen werden?
Es sind alle Voraussetzungen für eine neue soziale Revolte vorhanden. Die wachsenden Proteste sagen einen neuen Volksaufstand voraus, bei dem die arbeitende Jugend an der Spitze steht, wie es 2019 der Fall war.
Diese Bewegung wird zweifellos wieder zur Organisierung von Versammlungen führen, die es überall gab, aber es nicht geschafft haben, sich auf der Ebene der Städte, Regionen und des ganzen Landes zu koordinieren und zu vereinen.
Damit verbunden ist das große Manko der Oktober-Bewegung 2019, das Fehlen einer politisch-sozialen Führung und eines gemeinsamen, vereinigenden Programms, einer Massenpartei der Arbeiter*innenklasse, mit dem Willen, die Macht für die Arbeiter*innenklasse und das Volk zu erkämpfen.