Bürgerliche Parteien missbrauchen das Leid und die Angst der Menschen für ihre eigenen Ziele
Die Kampagne von bürgerlichen Politiker*innen und Medien nach der schrecklichen Messerattacke von Aschaffenburg hat das Thema Migration zum Hauptthema des Bundestagswahlkampfs gemacht – nicht der tödliche Messerangriff selbst.
Von Sascha Staničić, Sol-Bundessprecher
Jede Woche werden in Deutschland drei Kinder getötet (Stand: 2018). Eine solche mediale und politische Aufmerksamkeit wie der Messermord von Aschaffenburg bekommt eine Kindstötung jedoch nur, wenn sie denjenigen, die die öffentliche Aufmerksamkeit gestalten können, politisch in die Agenda passt. Tatsächlich wirkt das Ereignis von Aschaffenburg wie bestellt von CDU/CSU und AfD. Können sie doch auf der Welle berechtigter Empörung, Mitgefühl und Ängsten, die eine solche brutale Tat auslöst, von den drängenden sozialen und ökonomischen Missständen in der Gesellschaft ablenken und den Eindruck erwecken, dass mehr Abschiebungen und weniger Zuwanderung die Lebensqualität und Sicherheit der Mehrheit der Bevölkerung in der Bundesrepublik verbessern würde. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein.
Schlagzeilen werden gemacht
Nachdem in Magdeburg ein mit der AfD sympathisierender Islamfeind in die Menschenmassen auf dem Weihnachtsmarkt fährt und sechs Menschen tötet, wird nicht die Tatsache skandalisiert, dass er AfD-Anhänger und Islamfeind ist, sondern, dass er aus Saudi-Arabien stammt. Bei dem Täter von Aschaffenburg wird nicht in den Mittelpunkt gestellt, dass er psychisch krank war, sondern aus Afghanistan stammt.
Es hätte auch einen anderen Aufschrei geben können: Islamhass tötet! Oder: Wir brauchen endlich mehr psychologische Betreuung für Geflüchtete! Es könnte, nebenbei bemerkt, auch jeden Tag folgende Schlagzeile geben: Wieder hat ein syrischer Arzt ein Leben gerettet! Oder: Ohne migrantische Ärzte, Pflegerinnen und Reinigungskräfte würden ein großer Anteil der Krankenhäuser nicht funktionieren!
Nun mag darauf entgegnet werden, dass es ja in der Debatte um die „kriminellen und gefährlichen“ Migrant*innen gehe. Erstens stimmt das nicht, denn Geflüchtete werden nicht nur unter Generalverdacht gestellt, sondern es werden Maßnahmen gefordert, die Geflüchtete unabhängig davon betreffen, ob sie sich etwas haben zuschulden kommen lassen oder nicht und zweitens stellt sich die Frage, weshalb ähnliche Debatten um kriminelle und gefährliche Deutsche nicht geführt werden. Denn in dieser Logik müsste man allen Pfarrern als potenziellen Kindesvergewaltigern den Kontakt zu Minderjährigen verbieten und sie mit einer Fußfessel ausstatten; jeden Menschen, der schon mal gewalttätig wurde, wegsperren; Steuerhinterzieher*innen zwangsenteignen und alle Männer in Zwangstherapie stecken, weil sie der Bevölkerungsgruppe angehören, von der die meisten Gewalttaten ausgehen. Man könnte allen Eltern das Sorgerecht vorsorglich entziehen, weil 52 Prozent von ihnen „einen Klaps auf den Po“ in Ordnung finden und somit das Wohl ihrer Kinder gefährdet ist.
Wie wollen wir leben?
Es stellt sich also die Frage, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen. Wollen wir zurück zu Zeiten, in denen Sippenhaft, Vorverurteilungen, staatlich orchestrierte rassistische Segregation gelten und das Prinzip „im Zweifel für den Angeklagten“ (und keine Anklage ohne begründeten Tatverdacht) aufgehoben wird?
Es stellt sich auch die Frage, ob (vermeintliche) Symptombekämpfung betrieben werden soll oder die gesellschaftlichen Probleme an ihren Ursachen angegangen werden sollen. Beispiel: Es kann nicht verwundern, dass es unter Geflüchteten einen höheren Anteil traumatisierter Menschen gibt als in der Gesamtbevölkerung und dass daraus auch psychische Erkrankungen erwachsen. Krieg, Folter, Flucht hinterlassen Spuren. Dass psychisch kranke Menschen irrationale Taten, auch Gewalttaten, begehen können, ist auch nicht verwunderlich. Nun könnte sich eine Gesellschaft entscheiden, das Problem an der Wurzel anzugehen und erstens etwas gegen die Fluchtursachen unternehmen (dann müssten als Erstes die imperialistische und neokoloniale Außenpolitik, Waffenlieferungen und Unterstützung für Diktaturen beendet werden) und zweitens dafür gesorgt werden, dass alle Menschen (auch Geflüchtete!) einen Zugang zu ausreichender psychologischer Betreuung erhalten. Man kann natürlich auch alle Menschen mit Traumata und psychischen Erkrankungen, die sich einmal aggressiv verhalten oder geäußert haben, sofort in geschlossene Anstalten stecken ….
Aber würde dann die Gesellschaft sicherer? Sind die USA eine sicherere Gesellschaft, obwohl dort die Rate der in Gefängnissen inhaftierten Menschen deutlich höher ist als in europäischen Ländern? Oder ist es nicht eher so, dass ein Staat, der in dieser Form gewalttätig gegen seine Einwohner*innen vorgeht und Symptome des gesellschaftlichen Niedergangs nur aus dem Auge schafft, anstatt die Ursachen der Missstände zu bekämpfen, in Wirklichkeit Gewalt nur reproduziert?
Ganz abgesehen davon, ist die gegenwärtige Debatte Wind in den Segeln der Rassist*innen und Faschist*innen, die mit Gewalt und Terror gegen Migrant*innen, Linke, Gewerkschafter*innen und Minderheiten vorgehen und seit 1990 für über 300 Todesopfer verantwortlich sind.
Bürgerliche Parteien machen das Land nicht sicherer
Setzen sich die Vorschläge von Friedrich Merz und seinen geistigen Brüdern und Schwestern in der AfD durch, wird Deutschland nicht „sicherer“ und wird sich nicht nur das Leben von Migrant*innen und Geflüchteten zum Negativen verändern. Dasselbe gilt für die Vorschläge von SPD und Grünen, die nun wieder in den Bundestag eingebracht werden und deren Ausweitung staatlicher Kompetenzen sich gegen alle Bürger*innen richten können und die Lage von Geflüchteten verschlechtern werden.
Tatsächlich wird sich an der Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind getötet wird, durch diese Maßnahmen kaum etwas ändern, denn Kindstötungen werden zu ihrer großen Mehrzahl nicht Täter*innen begangen, die nicht in Deutschland gewesen wären, wenn die von den unterschiedlichsten bürgerlichen Parteien von SPD über CDU bis AfD vorgeschlagenen Maßnahmen gelten würden (dass sie dann in Bulgarien oder anderswo Kinder umbringen würden und das Problem daher gar nicht gelöst wäre, soll hier gar nicht vertieft werden).
Ablenkungsmanöver
Vor allem aber ist die Tat von Aschaffenburg ein Geschenk für die prokapitalistischen Parteien, die nun das Leid und die Ängste der Menschen für ihre eigenen politischen Ziele ausnutzen. Deshalb führen sie jetzt auch diese Kampagne zur Migrationsdebatte und heizen sie rassistisch auf – wie die CDU-Vizevorsitzende Julia Klöckner, die als Reaktion auf die Tat von Aschaffenburg schrieb: “Es gibt Kulturen, die sind mit unserer Lebensweise nicht einverstanden, deshalb können wir mit ihnen nicht einverstanden sein!” Die Frage, in welcher Kultur das Töten von Kindern zur „Lebensweise“ gehört, hat Frau Klöckner nicht beantwortet, gemeint hat sie offensichtlich den Islam. In Sure 17 Vers 31 verbietet der Koran jedoch eindeutig und unmissverständlich die Kindstötung.
Es gelingt den bürgerlichen Politiker*innen durch ihre Kampagne, mitten im Bundestagswahlkampf die sozialen und ökonomischen Missstände in den Hintergrund zu drängen, für die sie und ihr kapitalistisches System direkt verantwortlich sind – und die unser Leben und das unserer Kinder um ein Vielfaches gefährlicher machen, als es einzelne psychisch kranke Geflüchtete jemals machen könnten. Eine Politik und ein System, die dafür sorgen, dass es Jahr für Jahr einen Mangel an Medikamenten für Kinder gibt, dass Jahr für Jahr alle zwanzig Minuten ein Kind einen Unfall im Straßenverkehr hat, dass Millionen Kinder in Armut aufwachsen und nicht den Zugang zu Bildung bekommen, den sie verdient hätten, dass die Zukunft der heutigen Kindergeneration durch den Klimawandel existenziell bedroht ist und so weiter und so fort. Aber wenn der VW-Arbeiter im Bundestagswahlkampf nicht darüber nachdenkt, welche Partei am meisten für die Rettung der bedrohten Industriearbeitsplätze tut, sondern welche Partei am meisten tut, um Geflüchtete abzuschieben und Migration zu verhindern, dann haben Scholz, Merz und Weidel ihr Ziel erreicht. Sie lenken ab und sie halten vom gemeinsamen Widerstand ab. Denn wenn wir hier unten uns nicht einig sind, können die da oben munter weiter regieren und ihre Profite anhäufen.
Gegen Rassismus zu sein ist deshalb keine Frage des Anstands, der Moral oder des Altruismus (zumindest nicht nur, denn Rassismus ist auch unanständig, moralisch verwerflich und egoistisch). Sondern ergibt sich aus der Notwendigkeit der internationalen Einheit der Arbeiter*innenklasse gegen die herrschenden Kapitalist*innen in allen Ländern. Nur vereint und gemeinsam können wir erfolgreich kämpfen und Verbesserungen für unser Leben erzielen. Wenn wir unsere Munition gegen die Schwächsten der Schwachen abfeuern, freuen sich nur die da oben.
Ein weiterer Artikel zum Thema, der sich mit den unterschiedlichen Gesetzesentwürfen und der Bereitschaft von CDU/CSU Mehrheiten durch die Stimmen der AfD zu erlangen, auseinandersetzt, erscheint in den nächsten Tagen.