Naher Osten: Sozialismus oder Untergang in die Barbarei

Foto: watchsmart, https://www.flickr.com/photos/watchsmart/1457463017 (CC BY 2.0)

In Syrien herrschte nach dem Sturz Assads große Begeisterung und ein Gefühl, dass es nur besser werden kann. Das ist sehr verständlich. Es gibt aber auch Ängste wegen des islamistischen Charakters der Kräfte, die „provisorisch“ die Macht übernommen haben.

von Wolfram Klein, Plochingen bei Stuttgart

Nach der Zerrüttung des Landes durch über zehn Jahre Bürgerkrieg fordern jetzt auch linke Kräfte, zunächst die Wirtschaft des Landes wieder aufzubauen. Aber auf welcher Grundlage? Es gibt Berichte, dass Preise von Grundnahrungsmitteln massiv in die Höhe geschossen sind. In so einer Lage können private Spekulant*innen auf Kosten der Masse der Bevölkerung den großen Reibach machen. Im Interesse der Massen wäre die demokratische Organisation der Produktion und Verteilung durch gewählte Vertreter*innen der arbeitenden Bevölkerung.

Die neuen HTS-Machthaber fordern die Entwaffnung der bestehenden Milizen. Angesichts der völlig unklaren Verhältnisse würde das bedeuten, sich dem Gutdünken der neuen Machthaber*innen schutzlos auszuliefern. Marxist*innen schlagen als Alternative dazu von der örtlichen Bevölkerung demokratisch kontrollierte multiethnische Milizen der arbeitenden Bevölkerung vor.

Selbstverständlich muss man ein Ende der Angriffe der Türkei auf Gebiete in Syrien ebenso fordern wie den Stopp des israelischen Gaza-Kriegs, der israelischen Angriffe auf den Libanon, Syrien etc., die Räumung der von Israel besetzten Gebiete und die Freilassung politischer Gefangener.

Multiple Krise

Vor 14 Jahren, im Winter 2010/2011, weckte der Arabische Frühling große Hoffnungen, dass diktatorische Regimes gestürzt werden können. Aber teils versanken die Länder in blutigen Bürgerkriegen, teils wurden die eroberten demokratischen Rechte wieder ausgehöhlt oder beseitigt

Der Grund dafür ist, dass der Kapitalismus in seinem Niedergang immer weniger Spielraum für demokratische Rechte bietet. Seit dem Arabischen Frühling hat sich die multiple Krise des Kapitalismus noch weiter verschärft. Syrien leidet heute anders als damals unter den Folgen von jahrelangem Bürgerkrieg. Und in Syrien pfuschen regionale und globale imperialistische Mächte (Türkei, Israel, USA, Russland etc.) herum. Wie realistisch ist die Hoffnung, dass auf kapitalistischer Grundlage eine funktionierende Demokratie möglich sein wird?

Der einzige Ausweg ist der Aufbau von demokratischen Massenorganisationen der arbeitenden Bevölkerung, Gewerkschaften, sozialistischen Parteien, die für Arbeiter*innenkontrolle und -verwaltung der Produktion und eine demokratisch geplante Wirtschaft, die im Interesse der Masse der Bevölkerung und der Umwelt produziert, eintreten, mit anderen Worten: für Sozialismus

Sozialistische Föderation

Aber in einem Land wie Syrien allein wird das nicht gehen. Das zeigt die Einmischung von außen, das zeigen auch die in einem einzelnen Land nicht lösbaren Probleme, man denke nur an die Folgen der Klimakrise im Nahen Osten. Die arabische Nation wurde vom Imperialismus künstlich gespalten als Mittel von Teile-und-Herrsche-Politik. Als Antwort darauf gab es im 20. Jahrhundert eine panarabische Bewegung. Diese Bewegung wurde von ihren führenden Vertretern (einschließlich Assad senior) schmählich verraten, für die ihre eigene Macht Vorrang hatte. Trotzdem wäre arabische Einheit ein Schutz gegen imperialistische Einmischung. Zugleich mit dem arabischen Zusammengehörigkeitsgefühl gibt es aber auch ein syrisches, palästinensisches, ägyptisches etc. Nationalgefühl. Dem würde ein freiwilliger arabischer Staatenbund, eine Föderation, mit dem jederzeitigen Recht auf Wiederaustritt besser entsprechen als ein arabischer Einheitsstaat. Die Erfahrung hat gezeigt, dass sich auf kapitalistischer Grundlage die nationale Zersplitterung nicht überwinden lässt, also lässt sich das nur in Form einer sozialistischen Föderation des Nahen Ostens verwirklichen

Im Rahmen einer solchen Föderation könnten auch die Rechte von religiösen, sprachlichen und ethnischen Minderheiten gesichert werden, in Form von autonomen Gebieten oder Staaten innerhalb der Föderation, je nachdem, was die betreffenden Gruppen wünschen. Das gilt auch für die etwa sieben Millionen jüdischen Menschen, die heutigen Israelis. Selbstverständlich könnte ein solcher jüdischer Staat keine zionistische Staatsideologie haben, aber eine Lösung für den Nahen Osten wird ohne die arbeitende Bevölkerung des heutigen Israels nicht möglich sein. Vielen mag das unmöglich erscheinen. Aber wurde jemals versucht, sie mit einem sozialistischen, internationalistischen Programm anzusprechen (natürlich nicht durch winzige Gruppen, sondern durch Massenorganisationen)?

Wenn sozialistische Massenorganisationen der arbeitenden und ausgebeuteten Menschen sowohl in Israel als auch in Palästina und der ganzen Region den Kapitalismus stürzen, können sie bei Fragen wie einem genauen Grenzverlauf, dem Umgang mit den israelischen Siedlungen, der Rückkehr der Flüchtlinge, einer fairen Verteilung des knappen Wassers zu Lösungen kommen. In einem auf Ausbeutung, Unterdrückung, auf Teile-und-Herrsche-Politik beruhenden Kapitalismus werden sie nicht möglich sein.

Solidarität

Wir fordern die Gewerkschaften und die linken Kräfte in Deutschland auf, unabhängige Gewerkschaften und linke Kräfte in der Region zu unterstützen. Aber Solidarität heißt nicht, einfach „den Widerstand“ unterstützen. Es gibt Kräfte wie die Hamas in Palästina und HTS in Syrien, die eine reaktionäre Agenda vertreten, Kräfte, die der verlängerte Arm von regionalen und globalen imperialistischen Mächten sind. Methoden wie individueller Terror sind kontraproduktiv. Notwendig ist deshalb, fortschrittliche und insbesondere sozialistische Kräfte in der Region zu unterstützen.