Zur Lage der Jugend in Deutschland
Die Wirtschaftskrise, die Pandemie, die politische Polarisierung und die über allem schwebende Klimakrise betreffen die Jugend besonders hart. Der Kapitalismus ist heute mehr denn je zu einer Bedrohung für die Zukunft junger Menschen geworden. Seit 2019 gab es innerhalb der Jugend vielfältige Prozesse, die die Politisierung teils beschleunigten und teilweise zu Unsicherheit und Frustration führten. In diesem Artikel soll sich daher genauer mit der Lage der Jugend und Aussichten für Gegenwehr und neue Protestbewegungen auseinandergesetzt werden.
von Caspar Loettgers, Sol-Bundesleitung
Marxist*innen betrachten die Gesellschaft aus einer Klassenperspektive. Schaut man sich die kapitalistische Gesellschaft an, gibt es eine kleine Schicht an Superreichen, die die Produktionsmittel und weite Teile des gesellschaftlichen Vermögens besitzen. Auf der anderen Seite gibt es die große Mehrheit der Gesellschaft, die zur Arbeiter*innenklasse gehört, denn sie besitzen keinerlei Produktionsmittel oder nennenswertes Kapital. Sie sind gezwungen, für Firmen und Unternehmen zu arbeiten, die den Kapitalist*innen gehören.
Die Jugend ist in diesem Sinne keine Klasse, sie setzt sich aus Zugehörigen aller Klassen zusammen und dennoch ist es wichtig, einen besonderen Blick auf die Jugend zu werfen. Die Klassenzugehörigkeit von Jugendlichen mit einem (klein)bürgerlichen Elternhaus muss aber deren politisches Bewusstsein und ihre Aktivität nicht im selben Maße prägen, wie dies bei Erwachsenen der Fall ist. Denn junge Menschen sind oft noch nicht im kapitalistischen Berufsleben fest integriert, zum Beispiel, indem sie eine Führungsrolle im Betrieb innehaben und haben als Schüler*innen und Studierende ähnliche Interessen wie Mitschüler*innen und Mitstudierende aus der Arbeiter*innenklasse, nämlich eine würdevolle und sichere Zukunft zu haben. Hinzu kommt, dass Jugendliche noch ihr ganzes Leben vor sich haben. Die Empörung über gesellschaftliche Missstände kann deshalb oft unter Jugendlichen besonders groß sein.
In vielen Massenbewegungen gab die Jugend deswegen auch die Initialzündung. 2019 waren es vor allem Schüler*innen und Student*innen, die in Chile mit ihrem Protest gegen Fahrpreiserhöhungen im ÖPNV eine Massenrevolte gegen dreißig Jahre neoliberaler Privatisierungspolitik losgetreten haben. In Frankreich waren es die Student*innen, die 1968 die ersten Proteste organisierten, die den größten Generalstreik der Arbeiter*innenklasse in der Geschichte des Landes auslösten. 2009 löste die Besetzung der Parteizentrale der Tories durch Student*innen in England eine landesweite Studierendenbewegung gegen den Plan der Regierung, die Studiengebühren zu verdreifachen, die Bildungsausgaben zu kürzen und eine wichtige Bildungsbeihilfe für Schüler*innen aus ärmeren Verhältnissen abzuschaffen aus. 2003 waren es Schüler*innen, die tausendfach am Tag X (dem Tag des Einmarsches des US-Militärs in den Irak) gegen den Irak-Krieg demonstrierten, was ein wichtiger Faktor für die Massendemonstrationen am 15. Februar 2003 war.
Oft war es auch die Jugend, die am erbittertsten und entschlossensten an diesen Revolten teilnahm. In Chile kämpften viele Jugendliche in der ersten Reihe gegen die Repressionen der Polizei, die versuchten, die Massenrevolte zu ersticken.
Gleichzeitig hatte der ideologische Siegeszug des Kapitalismus nach dem Untergang der Sowjetunion und dem Rückgang in der organisierten Arbeiter*innenbewegung eine nicht unerhebliche Auswirkung auf das Bewusstsein und die Politisierung vieler junger Menschen und somit auch auf ihre Rolle innerhalb von Bewegungen. Durch die Schwächung der Organisationen und Parteien der Arbeiter*innenbewegung haben viele junge Menschen keine Vorstellungen, welche Errungenschaften die Arbeiter*innenklasse in der Vergangenheit erkämpft hatte, die inzwischen zurückgenommen wurden. Welcher Jugendliche mag sich heute vorstellen, dass es eine Zeit vor Hartz IV und Bürgergeld gab? Oder dass Post und Telekom einst vollkommen verstaatlicht waren, genauso wie die Bahn? Kaum Jugendliche haben Erfahrungen von Betriebsbesetzungen oder wilden Streiks.
Oft entlädt sich der Frust junger Menschen in spontanen Bewegungen und Protesten, anstatt dass sie diese in Gewerkschaften und Parteien hineintragen. Jede*r Dritte 16- bis 20-Jährige hat bereits an einer Demonstration teilgenommen, aber nur etwa jede*r Zehnte war schon mal in einer politischen Partei aktiv.1
Heutzutage kommt hinzu, dass die systemischen Ursachen vieler Krisen, wie zum Beispiel der Klimakrise, auf der Hand liegen. „“System change not climate change“ wurde zu einem Slogan der Klimabewegung. Was genau jedoch unter dem System verstanden wird und inwiefern es eine Vorstellung einer Systemalternative gibt, steht auf einem anderen Blatt. Ohne eine starke Arbeiter*innenbewegung, die den Kapitalismus als systemische Ursache erklärt und eine sozialistische Alternative aufzeigt, bleiben die Schlussfolgerungen vieler Jugendlicher oftmals abstrakt.
In zahlreichen Bewegungen der letzten Jahre herrschte auch eine starke Ablehnung von etablierten Parteien und der Idee, sich langfristig unter einem konkreten Programm zu organisieren. In Chile wurde der Slogan aus der Zeit der Volksfront-Regierung vor dem Putsch 1973 “Das Volk vereint kann niemals besiegt werden” in “Das Volk ohne Partei kann niemals besiegt werden” umgemünzt. Ähnliches berichteten Sozialist*innen von dem großen Volksaufstand 2022 in Sri Lanka.
Die Jugend ist alleine nicht in der Lage, den Kapitalismus aus den Angeln zu heben. Denn Streiks und Proteste von Schüler*innen und Studierenden treffen das Kapital nicht dort, wo es wirklich weh tut – bei den Profiten. Die Massenbewegung in Frankreich 1968 gewann erst einen revolutionären Charakter, als die Arbeiter*innen in den Streik traten und ihre Betriebe besetzten. Damit stellten sie den Kapitalismus als Ganzes infrage und raubten der Regierung und der herrschenden Klasse ihre ökonomische Macht.
Das Verhältnis der Jugend zur Arbeiter*innenklasse kann man sich als Verhältnis einer Flamme zu einem Dampfmotor vorstellen. Die Flamme setzt den Dampfmotor in Bewegung, aber der Motor und die Kolben schaffen den Antrieb.
Schüler*innen
Die Auswirkungen der multiplen Krisen des Kapitalismus fangen schon bei den Jüngsten an. Eine Studie der DAK fand heraus, dass drei Viertel der Schulkinder von Krisenängsten geplagt sind. Viele befürchten, dass etwa der Ukraine-Krieg oder die Klimakrise noch lange anhalten oder dass sich die finanzielle Situation ihrer Familie verschlechtern wird. Die allgemeine Krisenangst wird verstärkt durch Leistungsdruck und Stress. Viele leiden auch an gesundheitlichen Problemen als Folge dieses Drucks. Mehr als die Hälfte der Fünft- bis Zehntklässler sind erschöpft (55 Prozent). Mehr als ein Drittel schläft schlecht (37 Prozent).2
Hinzu kommt noch der Sanierungsstau, der viele Schulen betrifft und somit auch die Lernumgebung vieler Schüler*innen. Städte und Gemeinden gehen davon aus, dass Schulen für etwa 54,8 Milliarden Euro saniert werden müssten.3
Proteste von Schüler*innen gegen den Leistungsdruck und teils marode Schulen blieben jedoch in den letzten Jahren weitgehend aus. Die Pandemie hat sicherlich einen Anteil daran gehabt. Doch der Abschwung an Bildungsprotesten hatte schon früher eingesetzt. Die letzten großen Bildungsproteste fanden Anfang der 2010er Jahre statt und reihten sich damals in eine weltweite Protestwelle ein. Seitdem weckten Aufrufe für Bildungsproteste nur wenig Aufmerksamkeit unter Schüler*innen, die Initiative “Bildungswende JETZT!” mobilisierte 2024 gerade mal 15.000 Menschen bundesweit. Das steht im Kontrast zu den 200.000 Schüler*innen, die 2009 gegen die Bologna-Reform streikten. Seitdem fanden sich Teile der Jugend mit den Reformen ab, auch weil vergangene Kämpfe diese nicht verhinderten. Dieser Prozess führte dazu, dass immer weniger junge Menschen reale Erfahrungen mit Schulstreiks hatten und die Verschlechterungen der letzten Jahrzehnte weniger bewusst wahrnahmen bzw. vermittelt bekamen. Das Aufkommen von Influencer*innen, die Selbstoptimierung und ein neoliberales Leistungsprinzip propagieren, hat darauf sicherlich auch einen Einfluss.
Gleichzeitig haben die Ängste vor militärischen Konflikten, der Wirtschaftskrise und der globalen Unsicherheit seit 2020 auch lähmend gewirkt und zu einem vorübergehenden Rückzug ins Private geführt. In einer repräsentativen Umfrage aus Halle (Saale) gaben vierzig Prozent der befragten Schüler*innen der 5. Klassen an, täglich oder mehrmals pro Woche ihre Freizeit allein zu verbringen, während dieser Anteil in der Vorgängerstudie von 2018 noch bei 26 Prozent lag.
Auswirkungen der Pandemie
Die Auswirkungen der Pandemie auf das Bewusstsein vieler Jugendlicher sind nicht zu unterschätzen. Nicht nur führte die Isolation zu einem Mangel an Austausch mit Gleichaltrigen, sondern verstärkte auch den Druck durch den Konsum von Social Media auf viele Jugendliche in Form von Schönheitsidealen etc. Dadurch hatte die Pandemie auch massive Auswirkungen auf die mentale Gesundheit vieler Jugendlicher. Ein Jahr nach Beginn der Pandemie stieg die Nachfrage nach Behandlungen bei Kinder- und Jugendpsychotherapeut*innen um sechzig Prozent. Dieser Bedarf traf gleichzeitig auf einen Mangel an ausreichender Versorgung. Wartezeiten bei ambulanten Therapeut*innen haben sich in der Pandemie verdoppelt und sind bis heute nicht wesentlich zurückgegangen.4
Mehr Student*innen als Azubis
Seit den 1950er hat sich das Verhältnis von Studierenden zu Azubis in Deutschland deutlich verschoben. Kamen auf zehn Studierende 1950 noch 75,5 Auszubildende, gibt es heute doppelt so viele Student*innen als Azubis.
Diese Entwicklung hat unterschiedliche Gründe. Teilweise erleichterten Reformen sozialdemokratischer Regierungen wie die Einführung des BAföGs Jugendlichen aus der Arbeiter*innenklasse den Zugang zur Uni. Andererseits führten technologische Entwicklungen dazu, wie die zunehmende Digitalisierung in der Autoindustrie dazu, dass es einen steigenden Bedarf an studierten Fachkräften gibt. Allein im letzten Jahr gab es 149.000 unbesetzte IT-Stellen in deutschen Unternehmen. Andererseits führten stetig sinkende Reallöhne dazu, dass Jugendliche versuchen, mit einer höheren Qualifikation sich bessere Einkommen zu sichern. In den 1950er bis 1970er Jahren stiegen die Reallöhne jedes Jahr. Der Durchschnitt lag 1970 bis 1979 bei vier Prozent pro Jahr. Seit den 1990er hat sich dieser Trend jedoch umgekehrt. Zwischen 1990 und 2010 sanken die Reallöhne in vielen Berufen um fünfzig Prozent.5 Diese Entwicklung betraf insbesondere Ausbildungsberufe.
Für viele Jugendliche ist der Weg in die Ausbildung daher kein Versprechen für ein ausreichendes finanzielles Auskommen mehr. Die DGB-Jugend veröffentlicht jährlich eine Studie zur Zufriedenheit von Azubis in Deutschland. Jedes Jahr kommt die Studie zu ähnlichen Schlussfolgerungen: Azubis machen weiterhin viele unbezahlte Überstunden, werden von ihren Ausbilder*innen oft nicht richtig angelernt und wissen nicht, ob sie nach ihrer Ausbildung einen Arbeitsplatz im Betrieb haben werden. Dieses Jahr gaben ein Drittel an, regelmäßig Überstunden zu leisten, 15 Prozent gaben an, immer oder häufig Tätigkeiten zu verrichten, die überhaupt nichts mit ihrer Ausbildung zu tun haben. Stattdessen versuchen viele junge Menschen, sich durch eine akademische Ausbildung einen besseren Einstieg ins Berufsleben zu sichern.
Ähnlich wie unter Schüler*innen führten die stetig verschlechternden Ausbildungsbedingungen jedoch nicht zu nennenswerten Protesten. Die letzten großen Lehrlingsstreiks liegen Jahrzehnte zurück. Hier spielt sicherlich die Schwächung linker Kräfte in den Gewerkschaften und von sozialistischen Jugendorganisationen eine Rolle.
Armut unter Student*innen
Der Gang zur Uni ist jedoch kein Schritt weg von der Armut. 77 Prozent der Student*innen, die allein oder in einer Wohngemeinschaft mit anderen Studierenden oder Auszubildenden leben, sind armutsgefährdet. 6Der Grund dafür sind oft auch die hohen Mieten in Uni-Städten. In den letzten Jahren stiegen die Kosten für WG-Zimmer kontinuierlich an. Inzwischen kostet ein WG-Zimmer in einer Uni-Stadt durchschnittlich 500 Euro. In München zahlen Studierende durchschnittlich sogar 807 Euro.7 Kein Wunder, dass die Mehrheit aller Student*innen von ihren Wohnkosten finanziell überfordert ist. Gemessen am Haushaltseinkommen zahlen Student*innen durchschnittlich 54 Prozent für ihre Miete. Das ist mehr als doppelt so viel wie der bundesweite Durchschnitt. Bei Azubis liegt der Anteil bei 42 Prozent.
Bafög und Nebenjobs
Die Armut unter Student*innen liegt auch an dem sinkenden Anteil an BAföG Bezieher*innen und den real sinkenden Sätzen. Im Jahre 1973 bezogen immerhin 47 Prozent aller Studierenden in Deutschland BAföG. Seitdem gab es eine stetige Verschlechterung der Studienförderung. 1982 führt Helmut Kohl mit seinem “Bafög-Kahlschlag” Bafög nur noch als Volldarlehen ein, die geförderte Summe musste also vollständig zurückgezahlt werden. Dadurch brach die Anzahl der geförderten Studierenden bis 1989 auf 18,3 Prozent ein. In den 1990er wurde dieser Schritt teilweise zurückgenommen, durch ein Teildarlehen, das nur noch fünfzig Prozent betrug. Trotzdem führten die nur zögerlich angepassten Einkommenfreibeträge, die die steigenden Lebenshaltungskosten nicht vollständig mit einbezogen, zu einer sinkenden Empfänger*innenzahl. Hinzu kommen immer längere Bearbeitungszeiten durch Personalmangel und hohe bürokratische Hürden für Studierende, die beispielsweise keinen oder wenig Kontakt zu einzelnen Elternteilen haben. All das führte dazu, dass die Quote der Studierenden, die BAföG bezogen, 2023 auf 12,6 Prozent gefallen ist.8 Dabei beziehen gerade mal 16,4 Prozent der Anspruchsberechtigten BAföG.9
Im Gegensatz dazu ist der Anteil an Studierenden mit Nebenjobs auf zwei Drittel gestiegen. Student*innen sind also immer mehr auf die finanzielle Unterstützung ihrer Eltern oder durch Nebeneinkünfte angewiesen. Das führt zu immer mehr Stress und Belastungen, insbesondere für Studierende aus der Arbeiter*innenklasse. In einer Umfrage der Techniker Krankenkasse gaben zwei von drei Student*innen an, innerhalb der vergangenen zwölf Monate “durch Stress erschöpft” gewesen zu sein. Als Ursache für Stress nannten die Befragten unter anderem Prüfungen, die Mehrfachbelastung durch Studium und Job und die Angst vor schlechten Noten.10
Viele studentische Nebenjobs sind dazu oft sehr prekär. Selbst studentische Hilfskräfte haben (ausgenommen in Berlin) nicht einmal einen Tarifvertrag und sind damit oft der Willkür ihrer Professor*innen ausgesetzt. In Restaurants und Cafés ist die Lage ähnlich, hier sind unbezahlte Überstunden und Arbeitsrechtsverletzungen an der Tagesordnung.
Für viele Jugendliche ist ein Studium also kein Ausweg aus der Armut, sondern ein Schritt in prekäre Lebensverhältnisse. Der allgemeine Abschwung an Lebensqualität seit der Pandemie hat Studierende besonders hart getroffen und auch die Frage von sozialen Sorgen wieder mehr in den Vordergrund gerückt. Bislang hat dieser Wandel zu keinem Protest oder Bewegungen direkt geführt. Früher oder später wird sich das ändern.
Rechtsruck unter der Jugend?
Insbesondere nach den Wahlen zum EU-Parlament und in Ostdeutschland, bei denen der Anteil der jungen AfD-Wähler*innen nochmal angestiegen ist, gab es eine breite mediale Debatte darüber, ob die Jugend nach rechts rückt. Die inzwischen veröffentlichte Shell Jugend-Studie, die aufgrund ihres Umfangs und langfristiger Anlage als repräsentativ gilt, zeichnet aber ein anderes Bild.11 Laut der Umfrage haben deutlich mehr junge Menschen Angst vor Migrant*innenfeindlichkeit (58 Prozent) als vor weiterer Zuwanderung (34 Prozent). Was jedoch zugenommen hat, ist die Polarisierung, die auch gesamtgesellschaftlich zu beobachten ist. Laut den Forscher*innen lehnen mit nur zehn Prozent deutlich weniger Jugendliche als in der Vergangenheit eine Einordnung in das Rechts-Links-Schema ab. Dadurch ist der Anteil an Jugendlichen, die sich klar links, aber auch rechts einordnen gestiegen, wobei nur der Anteil an Frauen, die sich als rechts verstehen, gleich hoch geblieben ist. Insgesamt sehen sich 25 Prozent der jungen Männer rechts oder eher rechts. Bei den Frauen sind es elf Prozent. 46 Prozent der jungen Männer und Frauen sehen sich hingegen als links oder eher links.
Gleichzeitig ist die Politisierung insbesondere junger Männer nach rechts nicht zu unterschätzen, auch wenn sie keine Mehrheit bilden. Die Bilder der letzten faschistischen Aufläufe gegen CSDs etwa in Bautzen, Halle, Leipzig und Magdeburg zeigen, dass faschistische Organisationen von der Polarisierung profitieren. Bei allen Aufmärschen war das junge Alter vieler Teilnehmer*innen auffällig. Wenn keine starke linke Alternative aufgeaut wird, können insbesondere rechte Rattenfänger die Verunsicherung und Frustration junger Menschen aufgreifen.
Instabilität führt zu Politisierung
Die größte Angst junger Menschen ist aber die Angst vor einem Krieg in Europa. In der oben bereits erwähnten Shell-Jugendstudie gaben 81 Prozent der Befragten diese Bedrohung als ihre Hauptsorge an. Die zunehmende geopolitische Instabilität zeigt auch hier ihre Auswirkung auf das Bewusstsein junger Menschen. Dieses zunehmende Krisengefühl überträgt sich jedoch nicht direkt auf die Unterstützung von linken und sozialistischen Positionen. Insbesondere beim Thema Krieg kann eine Verunsicherung auch zu einer zeitweisen Unterstützung der Regierungspolitik führen, in der Hoffnung so eine vermeintliche Sicherheit zu gewährleisten. Bei Antikriegsprotesten waren daher noch wenig junge Menschen beteiligt. Oft waren Demonstrationen vor allem von älteren Menschen geprägt, die bereits in der Vergangenheit gegen Kriege und Aufrüstung aktiv waren. So sind weiterhin die Hälfte aller Jugendlichen der Meinung, dass Deutschland die Ukraine weiter militärisch unterstützen sollte. In der Gesamtbevölkerung liegt der Anteil bei 38 Prozent.12
Eine Ausnahme bildet dabei der Krieg Israels gegen Gaza. Hier geben knapp mehr als die Hälfte aller Jugendlichen an, dass Deutschland das Leid der Palästinenser*innen mehr anerkennen muss. Demonstrationen gegen den Krieg Israels waren auch von mehr jungen Menschen, insbesondere migrantischen Jugendlichen geprägt. Doch auch hier führt die Ablehnung des Krieges nicht automatisch zur Unterstützung sozialistischer Positionen. Sozialist*innen müssen auch hier in die inhaltliche Auseinandersetzung gehen, anstatt der Bewegung nur hinterherzulaufen. Die Debatten unter Teilen der Jugend über die anhaltende militärische Unterstützung Israels durch die Bundesregierung bietet eine Steilvorlage, um sozialistische Ideen darzulegen.
Bewegungen seit 2019
Seit den Klimaprotesten der “Fridays for Future”- Bewegung 2019 gab es eine zunehmende Differenzierung unter politisierten Jugendlichen. Die Bewegung, die anfangs beeindruckende Mobilisierungen hinlegte, geriet zunehmend in eine Sackgasse, das lag vor allem an den sehr beschränkten Forderungen, die die Führung der Bewegung an die Bundesregierung richtete. Das Ausbleiben von tatsächlichen Erfolgen führte dazu, dass ein großer Teil sich wieder zurückgezogen hat und nicht mehr mobilisiert werden konnte.
Ein kleinerer Teil blieb aktiv und suchte nach neuen Wegen. Einige, die vor allem in der Führung der Bewegung waren, gingen dazu über, “Realpolitik” zu machen und sich bei den Grünen zu engagieren. Andere zogen die Schlussfolgerung, dass die Protestform radikaler sein müsse, um die Ziele zu erreichen und schlossen sich der Letzten Generation an. Ein weiterer Teil zog aber die politische Schlussfolgerung, dass der Mangel an Fortschritt in der Bewältigung der Klimakrise eine systemische Ursache hat. So konnten einige linke Jugendgruppen in den letzten Jahren wachsen. Der Austritt vieler Aktiver aus der Grünen Jugend sind eine Fortsetzung dieser Entwicklung. Viele der nun Ausgetretenen wurden durch die Klimakrise und die Bewegungen dagegen politisiert, kamen aber durch ihren politischen Aktivismus zur Schlussfolgerung, dass eine Veränderung innerhalb der prokapitalistischen Grünen nicht möglich ist.
Chancen für neue Bewegungen
Wann und woran sich neue Jugendbewegungen entfachen, ist schwer vorauszusagen. Die objektive Krise des Kapitalismus, der Versuch seitens der herrschenden Klasse ihre Profitbedingungen zu verbessern, in dem sie öffentliche Ausgaben kürzen und den Arbeitsdruck erhöhen, die globale Instabilität, die zu mehr Kriegen und militärischen Konflikten führt, die Klimakrise, sowie das Erstarken von Rassismus und rechten Parteien, werden aber zwangsläufig zu neuen Bewegungen und Protesten führen. Dabei werden viele Jugendliche zu der Schlussfolgerung gelangen, dass diese Probleme eine systemische Ursache haben und auf die Erfahrungen von vergangenen Bewegungen zurückblicken. Die soziale Frage wird durch die ökonomische Krise wieder in den Vordergrund geraten, wie es schon zuletzt bei den Protesten gegen die Preissteigerungen und in den Tarifrunden geschehen ist. Dadurch werden Teile der Jugend antikapitalistische und sozialistische Schlussfolgerungen ziehen.
Die Aufgabe von Sozialist*innen ist es, diese Schichten zu erreichen und ihre Kämpfe mit denen der Arbeiter*innenklasse und Arbeiter*innenbewegung zu verbinden.
Dazu ist auch eine sozialistische Jugendorganisation nötig. Die Sol beteiligt sich in Jugend für Sozialismus am Aufbau eines Ansatzes für eine solche Jugendorganisation.
- https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/jugend-und-protest-2021/340345/wer-dazu-gehoert-und-gehoert-wird/#footnote-reference-13 ↩︎
- https://www.tagesspiegel.de/gesundheit/studienergebnisse-besorgniserregend-laut-umfrage-ist-mehr-als-die-halfte-der-schuler-erschopft-12184403.html ↩︎
- https://www.augsburger-allgemeine.de/bayern/schulen-in-deutschland-sind-marode-102946047 ↩︎
- https://www.tagesschau.de/investigativ/monitor/corona-gesundheit-jugendliche-kinder-schulschliessungen-pandemie-auswirkungen-100.html ↩︎
- https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/studie-realloehne-sind-seit-1990-um-bis-zu-50-prozent-gesunken-a-670474.html ↩︎
- https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/studenten-an-der-armutsgrenze-wie-hoch-die-finanzielle-belastung-wirklich-ist-19946901.html ↩︎
- https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1419514/umfrage/studentische-mietpreise-in-deutschen-staedten/ ↩︎
- https://www.sueddeutsche.de/bildung/bafoeg-empfaenger-reform-freibeitraege-1.4549989
↩︎ - https://www.bafoeg-rechner.de/Hintergrund/art-3023-bafoeg-statistik-2023.php
↩︎ - https://www.forschung-und-lehre.de/lehre/mehr-studierende-klagen-ueber-gesundheitliche-probleme-5729 ↩︎
- https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/shell-jugendstudie-2024-wie-die-gen-z-zum-gendern-steht-110045283.html ↩︎
- https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1454716/umfrage/umfrage-zu-waffenlieferungen-von-deutschland-an-die-ukraine/ ↩︎