Unkontrollierbare Kettenreaktion

Marco Fieber via Flickr, CC BY-NC-ND 2.0

Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl beschleunigte den Zusammenbruch der Sowjetunion

Am 26. April 1986 explodierte Block Vier des Atomkraftwerkes Tschernobyl in der Ukraine. Es war bis heute der schwerste Unfall in der zivilen Nutzung der Kernenergie. Bei der Explosion selbst starben akut nur weniger als fünfzig Menschen, weltweit nach unterschiedlichen Schätzungen hunderttausende an Langzeit- und Spätfolgen. Die Region gilt für die nächsten 20.000 Jahre als unbewohnbar.

Von Johannes Bauer, Köln

Atomkraftgegner*innen in der ganzen Welt sahen sich erneut in ihrer Kritik an dieser Technik bestätigt. Die westliche Atomindustrie konnte sich jedoch noch einmal dadurch retten, dass sie das technologisch rückständige, stalinistische Sowjetsystem für die Katastrophe verantwortlich machte. Dieses wurde von dem Ereignis bis ins Fundament erschüttert.

Vertrauenskrise und Glasnost

Die sowjetischen Behörden versuchten zunächst, das Ausmaß der Katastrophe zu vertuschen. Diese Intransparenz führte im In- und Ausland zu massiver Kritik und zerstörte das Vertrauen vieler Sowjetbürger*innen in die Regierung nachhaltig. Der Unfall zeigte, wie gefährlich die Kombination aus staatlicher Geheimhaltung und bürokratischer Inkompetenz war. Das bestärkte Reformkräfte innerhalb der Sowjetunion, allen voran Michail Gorbatschow, der kurz zuvor sein Reformprogramm (Glasnost – Offenheit, Perestroika – Umstrukturierung) gestartet hatte.

Der Unfall ereignete sich am 26. April 1986 – aber die Sowjetunion informierte die Öffentlichkeit erst nach Tagen, nachdem in Schweden erhöhte Radioaktivität gemessen worden war. Als Gorbatschow später über den Unfall sprach, sagte er, Tschernobyl habe den „Verfall des Vertrauens zwischen Volk und Partei“ massiv beschleunigt. Aus diesem Schock heraus intensivierte Gorbatschow seine Glasnost-Politik. Zitat Gorbatschow: „Tschernobyl war vielleicht der wahre Beginn der Perestroika.“ Er meinte damit, dass ohne Tschernobyl der Reformdruck nie diese Stärke erreicht hätte.

Belastung für die Wirtschaft

Die immensen Kosten für die Schadensbeseitigung, die Umsiedlung hunderttausender Menschen und den Bau des Sarkophags belasteten die bereits schwächelnde sowjetische Wirtschaft zusätzlich. Die Aufräum- und Umsiedlungskosten werden auf etwa 18 Milliarden Rubel geschätzt, ungefähr ein Prozent des sowjetischen Bruttoinlandsprodukts pro Jahr über mehrere Jahre. Rund 800.000 Liquidator*innen, so nannte man die Arbeiter*innen, Soldaten und Feuerwehrleute, die mit primitiven Mitteln im verseuchten Gebiet arbeiteten, wurden eingesetzt, viele davon ohne ausreichenden Schutz, was später hohe Krankheits- und Sozialkosten verursachte. Man geht davon aus, dass etwa 125.000 dieser Liquidator*innen an den Folge ihres Einsatzes gestorben sind.

Anwachsen nationaler Bewegungen

Besonders in den Republiken der Ukraine und Belarus, die stark vom radioaktiven Fallout betroffen waren, wuchs das Misstrauen gegenüber der Moskauer Zentralregierung. In beiden Ländern trugen Umweltbewegungen, die aus der Anti-Tschernobyl-Stimmung entstanden, wesentlich zu den späteren Unabhängigkeitsbewegungen bei. In der Ukraine, Tschernobyl lag etwa 110 Kilometer nördlich von Kiew, führte die Katastrophe dazu, dass sich ukrainische Umweltbewegungen wie Narodny Rukh gründeten – später eine wichtige Kraft für die Unabhängigkeit.

In Belarus (damals: Weißrussische SSR) fielen etwa siebzig Prozent des radioaktiven Niederschlags. Daraus entstand eine starke nationale Umwelt- und Unabhängigkeitsbewegung (Belarusische Volksfront). Beide Länder erklärten 1991 frühzeitig ihre Unabhängigkeit – gestützt auf die Popularität der Umwelt- und Nationalbewegungen, die sich direkt auf die Folgen von Tschernobyl beriefen.

Bruch zwischen Elite und Bevölkerung vertieft sich

Das schlechte Krisenmanagement und die Versuche der Geheimhaltung beschädigten das Ansehen der Sowjetunion weltweit – ein entscheidender Faktor in einer Zeit, in der Gorbatschow eigentlich versuchte, das Verhältnis zum Westen zu verbessern. Viele Sowjetbürger*innen empfanden Tschernobyl als den ultimativen Beweis, dass das System nicht nur korrupt, sondern auch lebensgefährlich inkompetent war. Das Bild vom technologisch überlegenen Sozialismus, das die Sowjetpropaganda gepflegt hatte, zerbrach endgültig. Ein Zeitzeuge in einem Bericht der Moskauer Zeitung „Literaturnaja Gazeta“ 1987: „Wir haben nicht nur unser Vertrauen verloren, sondern auch unsere Angst. Wenn die Regierung uns nicht einmal vor dem Tod schützen kann, warum sollten wir ihr gehorchen?“

Tschernobyl war wie ein Blick hinter die Kulissen. Die Menschen sahen das ganze Ausmaß der Korruption, der Lügen und der Ineffizienz. Diese moralische, politische und wirtschaftliche Erschütterung beschleunigte die Erosion der alten staatlichen Autorität und leitete die Endphase der Sowjetunion ein.